Leitsatz (amtlich)
Die modifizierte Rechtsprechung, nach der ein umfassender und endgültiger Verzicht auf Unterhalt unter bestimmten Voraussetzungen einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 S 2 RVO nicht ausschließt (vgl BSG vom 23.11.1988 - 5/5b RJ 100/86), gilt auch für Verzichtserklärungen, die nach der Anfügung des S 2 in § 1265 RVO durch das RVÄndG abgegeben worden sind (Anschluß an BSG vom 19.1.1989 - 4 RA 16/88).
Normenkette
RVO § 1265 Abs 1 S 2 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; EheG § 60; RVO § 1265 Abs 1 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.12.1987; Aktenzeichen L 6 J 73/87) |
SG Speyer (Entscheidung vom 06.02.1987; Aktenzeichen S 2 J 511/86) |
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres verstorbenen früheren Ehemannes.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde durch Urteil des Landgerichtes Zweibrücken vom 21. November 1975 aus beiderseitigem Verschulden der Eheleute geschieden. Zuvor hatten die Parteien vor Gericht einen Vergleich geschlossen, nach dessen Ziffer 1 sie gegenseitig auf Unterhalt für Vergangenheit und Zukunft einschließlich des Notbedarfs verzichteten. Aus der Ehe sind sieben Kinder hervorgegangen, von denen Thomas und Heike als jüngste 1970 bzw 1974 geboren wurden. Zur Zeit der Scheidung bewohnten die Eheleute ein ihnen gehörendes Einfamilienhaus, das in Höhe von 37.000,-- DM belastet war. Im übrigen hatten sie 1.900,-- DM Schulden. Im Scheidungsverfahren gab die Klägerin an, 500,-- DM monatlich netto zu verdienen; der Kläger bezifferte sein Einkommen mit 1.000,-- DM monatlich. Die Beschäftigungsfirma des Versicherten bescheinigte diesem für das erste Halbjahr 1975 einen Nettoverdienst von 4.971,-- DM, dazu erhielt er 720,-- DM Kindergeld. Der Versicherte heiratete nach der Scheidung nicht wieder. Ihm wurde ab 1. August 1985 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 1.133,97 DM zuerkannt. Am 16. Februar 1986 verstarb er. Im letzten Jahr vor seinem Tode erbrachte er an die Klägerin keine Unterhaltsleistungen. Die Klägerin verdiente im Jahr 1985 insgesamt brutto 21.147,-- DM. Am 5. März 1986 bezifferte die Klägerin ihren Nettoverdienst mit 1.200,-- DM. Ab 1. März 1986 bewilligte die Beklagte Halbwaisenrente für die Kinder Thomas und Heike. Den Antrag der Klägerin vom März 1986, ihr Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten zu gewähren, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25. April 1986, Widerspruchsbescheid vom 28. August 1986).
Auf die hiergegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide, der Klägerin Geschiedenenwitwenrente ab 1. April 1986 zu gewähren (Urteil vom 6. Februar 1987). Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 11. Dezember 1987 zurück: Außer den anderen für einen Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO erforderlichen Voraussetzungen sei auch das Tatbestandsmerkmal des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO erfüllt. Der von den früheren Eheleuten vor der Scheidung abgeschlossene Unterhaltsverzichtsvertrag stehe diesem Anspruch unter Beachtung des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. März 1985 (SozR 2200 § 1265 Nr 74) nicht entgegen.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Dezember 1987 und des Sozialgerichts Speyer vom 6. Februar 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen, mit dem die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt wurde, der Klägerin "Geschiedenenwitwenrente" ab 1. April 1986 zu zahlen.
Nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO ist einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, in Abweichung von Satz 1 der Vorschrift nach dem Tode des Versicherten Rente zu gewähren, wenn keine Witwenrente gemäß § 1264 RVO zu zahlen ist und neben anderen Voraussetzungen eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat. Von den Voraussetzungen für den Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente ist zwischen den Beteiligten allein streitig, ob wegen des Unterhaltsverzichtsvertrages das zuletzt genannte Merkmal (Nr 1 des Satzes 2 aaO) bejaht werden kann; die übrigen Merkmale liegen nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten vor. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist nach der neuesten Rechtsprechung des erkennenden Senates auch die umstrittene Voraussetzung zu bejahen.
Der erkennende Senat hat im Anschluß an das vom LSG zitierte Urteil vom 14. März 1985 aaO in teilweiser Abweichung von früheren Urteilen des BSG und teilweiser Aufgabe des eigenen früheren Urteils vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 91/75 - mit seinem Urteil vom 23. November 1988 - 5/5b RJ 100/86, BSGE 64, 167 - entschieden, daß ein umfassender und endgültiger Verzicht auf Unterhalt einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO nicht ausschließt, wenn einer der in Nr 1 dieser Vorschrift genannten Hinderungsgründe einer Unterhaltspflicht des Versicherten die wesentliche Ursache für die - deklaratorische - Verzichtserklärung gewesen ist, wenn diesem Grund also neben etwaigen sonstigen Gründen eine gleichwertige Bedeutung beizumessen ist. Ebenfalls mit Urteil vom 23. November 1988 - 5/4a RJ 55/87 - hat der Senat entschieden, daß dies auch dann gilt, wenn - wie im vorliegenden Fall - im Hinblick auf die Scheidung aus beiderseitigem Verschulden lediglich eine Unterhaltsbeitragspflicht des Versicherten nach § 60 Ehegesetz in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung in Betracht kommt, weil auch diese eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO ist (insoweit ebenso Urteil des 4. Senats des BSG vom 19. Januar 1989 - 4 RA 16/88 -). Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 23. November 1988 - 5/5b RJ 100/86, BSGE 64, 167, 170 - zwar ausgeführt, daß die neue Rechtsprechung "zumindest" dann eingreift, wenn die Verzichtserklärung vor der Anfügung des Satzes 2 in § 1265 RVO durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 und damit auch vor Inkrafttreten der Neufassung und Erweiterung des Satzes 2 am 1. Januar 1973 durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 abgegeben worden war. Der 4. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 19. Januar 1989 aaO zu Recht angenommen, daß damit nicht die seit dem 1. Januar 1973 abgegebenen Verzichtserklärungen stets schädlich sein müßten. Vielmehr ist auch der erkennende Senat der Auffassung, daß die genannte modifizierte Rechtsprechung zur Auswirkung eines Unterhaltsverzichts auf einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO auch für Verzichtserklärungen nach Inkrafttreten der genannten Rechtsänderungen von 1965 und 1973 zu gelten hat.
Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin den Unterhaltsverzicht im Jahre 1975 aus Gründen erklärt hatte, die den Tatbestand des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO erfüllen. Es hat zugleich festgestellt, daß diese Gründe zumindest wesentlich mitursächlich für den Abschluß des Unterhaltsverzichtsvertrages gewesen sind. Es ist nicht ersichtlich, daß das LSG unter Zugrundelegung der für das Revisionsgericht gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts den ursächlichen Zusammenhang insoweit falsch beurteilt hat.
Mit seiner Entscheidung weicht der erkennende Senat im vorliegenden Fall auch nicht von der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG ab, nach der ein Unterhaltsverzicht dem Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 42 Abs 1 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG- (inhaltsgleich mit § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO) nur dann nicht entgegensteht, wenn bereits ohne den Verzicht 1) noch zur Zeit des Todes des Versicherten und 2) bereits zum Zeitpunkt der Vereinbarung des Verzichts keine Unterhaltsverpflichtung ausschließlich aus den in Satz 2 Nr 1 aaO genannten Gründen bestanden hat, und wenn 3) die spätere Hinterbliebene bei Abschluß des Erlaßvertrags es vernünftigerweise als ausgeschlossen erachten durfte, die in Satz 2 aaO genannten, einen Unterhaltsanspruch hindernden Gründe könnten bis zum Tode des Versicherten infolge einer in Rechnung zu stellenden Änderung der Verhältnisse wieder entfallen (vgl BSG-Urteil vom 15. Dezember 1988 - 4/11a RA 42/86 -). Da das LSG hier festgestellt hat, daß die Klägerin den Verzicht deshalb erklärt hatte, "weil sie der Auffassung war, ein Unterhaltsanspruch gegen ihren früheren Ehemann werde sich wegen seiner Einkommens- und Vermögens- und ihrer Einkommensverhältnisse in Gegenwart und Zukunft nicht realisieren lassen", und sich diese Annahme als zutreffend erwiesen hat, sind diese Voraussetzungen erfüllt. Dabei läßt sich die vom 4. Senat unter Ziff 3) beschriebene "Vorausschau" zwangsläufig erst nach der Stellung des Hinterbliebenenrentenantrags und damit in einer rückschauenden Betrachtungsweise überprüfen. Erweist sich dann die "Vorausschau" als unzutreffend, weil wegen einer eingetretenen Änderung der Verhältnisse eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten vor seinem Tode bestanden hat, so ließe sich ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO ohnehin nicht begründen. Es käme dann nur ein Anspruch nach Satz 1 der Vorschrift in Betracht, dem aber der erklärte Unterhaltsverzicht in jedem Fall entgegenstehen würde (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 23. November 1988 - 5/5b RJ 100/86, BSGE 64, 167).
Im übrigen entnimmt der erkennende Senat dem Urteil des 4. Senats vom 19. Januar 1989 - 4 RA 16/88 -, daß auch für den 4. Senat eine Mehrzahl von Beweggründen beim Abschluß eines Unterhaltsverzichtsvertrages - im entschiedenen Fall: die Preisgabe der Unterhaltsleistungen des Ehemannes sowie die Absicherung gegen Unterhaltsforderungen des Ehemannes - mitgewirkt haben kann, jedoch nicht jeder davon als rechtserheblicher Grund iS der neuen Rechtsprechung beider Senate zu § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO, § 42 Abs 1 Satz 2 AVG in Betracht kommt. Der erkennende Senat sieht hierin eine inhaltliche Übereinstimmung mit seiner im Urteil vom 23. November 1988 aaO vertretenen Auffassung, daß der Witwenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO nur dann gegeben ist, wenn einer der in Nr 1 der Vorschrift genannten Ausschlußgründe ursächlich (iS der Theorie der wesentlichen Bedingung) für den Unterhaltsverzicht war.
Nach alledem mußte der Revision der Beklagten der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen