Entscheidungsstichwort (Thema)

Beendigung der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Übergangszeit

 

Orientierungssatz

Haben objektive, verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Umstände, wie der Verlust der sozialen Großgruppe und des familiären Umfelds - und nicht ausschließlich außerhalb dieses Zurechnungsbereichs liegende Umstände - die in der Heirat eines fremdsprachigen Ehepartners und dem Gebrauch der fremden Sprache als Umgangssprache in der Ehe liegende Distanzierung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis mit bewirkt, ist hierfür eine längere Übergangszeit zuzugestehen (vgl BSG vom 19.4.1990 - 1 RA 105/88 = SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1).

 

Normenkette

WGSVG § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2, § 20 S 1 Fassung: 1986-12-19, § 20 Abs 1 S 1 Fassung: 1989-12-18

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 14.07.1987; Aktenzeichen L 12 An 36/85)

SG Berlin (Entscheidung vom 10.04.1985; Aktenzeichen S 1 An 3402/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Herstellung einer Versicherungsunterlage für Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG).

Der 1923 in Sächsisch-Regen (Reghin)/Siebenbürgen (Rumänien) geborene Kläger ist rassisch Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er war von Geburt an rumänischer Staatsbürger, nach der Abtretung Nord-Siebenbürgens an Ungarn von 1940 bis 1944 ungarischer, danach wieder rumänischer Staatsbürger und ist nach seiner Einwanderung am 4. Januar 1959 Staatsbürger des Staates Israel.

Nach seinen Angaben hat er in Sächsisch-Regen eine rumänische Volksschule besucht und ein paar Jahre privat bei einer Volksdeutschen Deutsch gelernt. Von 1939 bis Juni 1940 habe er die Theologische Schule in Taschnad besucht und von Juli 1940 bis April 1944 als Arbeiter in einer Wollkämmerei in Sächsisch-Regen gearbeitet. Anschließend habe er bis April 1945 aus Verfolgungsgründen Zwangsarbeit leisten müssen. Nach Kriegsende habe er bis Juni 1947 als Leiter der Ölmühle seines während der Verfolgung verstorbenen Vaters in Sächsisch-Regen und danach bis zur Auswanderung im Januar 1959 als Leiter der nunmehr verstaatlichten Ölmühle gearbeitet. In seinem Elternhaus sei die Muttersprache Deutsch gewesen. Die Muttersprache seiner Ehefrau, die er im Juli 1945 geheiratet habe, sei Ungarisch.

Die Beklagte lehnte die Anerkennung von Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach dem FRG durch den streitigen Bescheid vom 6. Dezember 1983, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 17. September 1984, mit der Begründung ab, der Kläger sei kein Vertriebener und könne diesen Personenkreis auch nicht nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) gleichgestellt werden. Er habe im Zeitpunkt des Verlassens der Vertreibungsgebiete aufgrund seiner Ehe mit einer fremdsprachigen Partnerin dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) nicht mehr angehört.

Klage und Berufung hiergegen sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 10. April 1985; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 14. Juli 1987). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, maßgebliches Kriterium für die Zugehörigkeit zum dSK sei die überwiegende Verwendung der deutschen Sprache im persönlichen Bereich. Es könne zwar sein, daß im Elternhaus des Klägers überwiegend deutsch gesprochen worden und Deutsch seine Muttersprache gewesen sei. Jedenfalls habe er sich vom dSK durch die 1945 geschlossene Ehe, in der die Umgangssprache Ungarisch gewesen sei, gelöst. Zwar ende die Zugehörigkeit zum dSK nicht unmittelbar mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Bereich nicht mehr überwiege; die Zugehörigkeit bleibe in diesem Fall vielmehr regelmäßig noch für eine Übergangszeit erhalten (Hinweis auf BSG SozR 5070 § 20 Nr 3). Eine solche Übergangszeit sei jedoch beim Verlassen Rumäniens, also 14 Jahre nach der Eheschließung des Klägers, verstrichen gewesen.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 20, 19 Abs 2a WGSVG. Das LSG habe verkannt, daß dem von ihm bis 1945 erlittenen Verfolgungsdruck Bedeutung für die Frage zukomme, welche Anforderungen an die Zugehörigkeit zum dSK im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes zu stellen seien. Vertriebenenrechtlich bestimme sich die Zugehörigkeit zum dSK nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen, weil es insoweit unzumutbar sei, auf ein späteres Verhalten abzustellen. Bei den vertriebenen Verfolgten komme es dementsprechend für die Zugehörigkeit zum dSK entscheidend auf die Lebensverhältnisse zu Beginn der Verfolgung an. Auch wenn man sich dem nicht anschließe, sei jedenfalls der nicht mehr überwiegende Gebrauch der deutschen Sprache im Auswanderungszeitpunkt dann nicht schädlich, wenn sich die Abwendung vom deutschen Sprachgebrauch aufgrund objektiver Verfolgungsfolgen ergeben habe. Aus der Tatsache, daß bei der Verfolgung seine Eltern und drei Geschwister ums Leben gekommen seien, ergäbe sich bei ihm ein enger Zusammenhang zwischen Verfolgung und Beeinflussung des Sprachverhaltens durch die Auswirkungen der Verfolgung. Zu berücksichtigen sei weiter, daß im Herbst 1944 nahezu die gesamte "volksdeutsche" Bevölkerung Nord-Siebenbürgen verlassen habe, so daß seine Möglichkeit zur Heirat einer deutschsprachigen Frau durch die verfolgungs- und vertreibungsbedingten Verhältnisse stark beeinträchtigt gewesen sei. Ein durch objektive, verfolgungsbedingte Umstände erzwungener Wechsel des Sprachgebrauchs müsse sich zumindest auf die Übergangszeit auswirken, die für den Verlust der Kulturzugehörigkeit angesetzt werde. Die Annahme einer pauschalen Übergangszeit von drei Jahren entspreche nicht den unterschiedlichen Lebensverhältnissen und sei daher willkürlich.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. Juli 1987 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus.

Nach § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des FRG Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Da der Kläger nicht zum Personenkreis des § 1 FRG gehört und der zum 1. Juli 1990 in Kraft getretene § 17a FRG (Art 15 Abschn A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 des Rentenreformgesetzes 1992 -RAG 1992- vom 18. Dezember 1989 - BGBl I S 2261) im Verhältnis zu § 20 WGSVG nachrangig ist, könnten Beitrags- und Beschäftigungszeiten, die der Kläger in Ungarn und in Rumänien zurückgelegt haben will, nach den §§ 15, 16 FRG nur dann nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RAG 1992) stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) "vertriebene Verfolgte" gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Die Anwendung des FRG auf den Kläger, der nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG Verfolgter iS des § 1 BEG ist, hängt demnach davon ab, ob er "vertrieben" worden ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebener anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer "als deutscher Volkszugehöriger" nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Rumänien verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger im Sinne des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur, bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu bestimmt § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG, daß § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat.

Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 15. November 1988 - 4 RA 14/88 (SozR 5070 § 20 Nr 13) ausgeführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum dSK eine "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; SozR aa0 Nrn 2, 4, 5, jeweils mwN). Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprach-, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich (so BSGE 50, 279, 281 = SozR aa0 Nr 3 S 8), der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat (BSG SozR aa0 Nr 4 S 14; BSGE 50, 279, 281 = SozR aa0 Nr 3 S 8; Nr 13 S 50; BSG Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 51/88 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Eine freiwillige, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Abkehr von der überwiegenden Verwendung der deutschen Sprache im persönlichen Bereich zieht danach den Verlust der Zugehörigkeit zum dSK nach sich.

Eine generelle Ausnahme von dem Erfordernis der Zugehörigkeit zum dSK und damit auch von der Notwendigkeit, die deutsche Sprache im persönlichen Bereich überwiegend zu verwenden, hat die Rechtsprechung für den Fall angenommen, daß ein vertriebener Verfolgter sich vom deutschen Volkstum wegen der Verfolgungsmaßnahmen abgekehrt hatte, da insoweit ein Festhalten am bzw ein Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum nicht verlangt werden könne. Ausreichend sei vielmehr insoweit, daß die Zugehörigkeit zum dSK bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgung bestanden habe (BSG SozR 5070 § 20 Nr 2 S 5; Nr 9, S 32; vgl auch Giessler, Das Bundesentschädigungsgesetz, Erster Teil, 1981, S 83 f mwN).

Auch derjenige, der die deutsche Sprache als Muttersprache erlernt und gesprochen hat und sie nach Beendigung der Verfolgungsmaßnahmen zunächst weiterhin in seinem persönlichen Lebensbereich verwendet, verliert die Zugehörigkeit zum dSK nicht bereits unmittelbar mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwiegt (BSGE 50, 279, 281 = SozR aa0 Nr 3 S 9; Nr 13 S 48; ebenso nunmehr auch der 1. Senat im Urteil vom 19. April 1990). Dabei ist zustimmend auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Zweibrücken (RzW 1971, 124) Bezug genommen worden, wonach der klagende Verfolgte seit der Eheschließung mit einer fremdsprachigen Ehefrau während acht Jahren bis zur Aussiedlung (von 1939 bis 1947) kein Deutsch gesprochen hatte. Die durch den Gebrauch der deutschen Sprache als Muttersprache vermittelte Zugehörigkeit zum dSK endet nach der aufgezeigten Rechtsprechung selbst dann erst nach einer Übergangszeit, wenn der Verfolgte überhaupt nicht mehr die deutsche Sprache benutzt. Dabei hängt die Dauer der Übergangszeit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab. Wenn neben einer zweiten Sprache im gleichen Umfang Deutsch gesprochen worden ist, steht in Frage, ob überhaupt eine die Übergangsfrist in Lauf setzende Distanzierung vom dSK erfolgt ist (vgl Urteil des Senats in SozR aa0 Nr 13, S 51). Die Übergangsfrist war jedenfalls nach der letztgenannten Entscheidung nach einem Zeitraum von acht Jahren nach der Distanzierung vom dSK noch nicht beendet, ohne daß zu entscheiden war, welcher Zeitraum äußerstenfalls als Übergangszeit zu werten ist.

Im Anschluß an das genannte Urteil des erkennenden Senats hat der 1. Senat nunmehr entschieden (Urteil vom 19. April 1990, aaO), daß für die Dauer der Übergangsfrist neben den subjektiven, persönlichen Gründen auch die objektiven Lebensverhältnisse erheblich sein können, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind. Es kann danach für den Fortbestand der Zugehörigkeit eines Verfolgten zum dSK nicht ohne Bedeutung sein, wenn er aufgrund der verfolgungsbedingten Lebensverhältnisse objektiv außerstande gewesen ist, auch im persönlichen Bereich seine deutsche Muttersprache weiter zu gebrauchen. Eine Indizwirkung für eine "freiwillige" Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten - auch im persönlichen Bereich - um so weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben. Das leuchtet ohne weiteres ein, wenn ein Verfolgter nach Abschluß der allgemeinen Verfolgungsmaßnahmen zunächst in einem (Heimat-)Gebiet verblieben ist, in dem Familienangehörige, Freunde und sonstige deutschsprechende Personen nicht mehr oder nur noch vereinzelt lebten und daher eine Fortsetzung des Gebrauchs der deutschen Muttersprache verfolgungsbedingt praktisch unmöglich geworden war. Ein unter solchen Bedingungen geändertes Sprachverhalten läßt Rückschlüsse auf eine Abwendung vom dSK, die neben der Integration in einen anderen Sprach- und Kulturkreis auch die Akzeptanz einer solchen neuen Identität voraussetzt, nicht ohne weiteres und insbesondere nicht allein deshalb zu, weil auch persönliche Gründe mitgewirkt haben. Da dem Verlust der eigenen, mit der Muttersprache erworbenen Identität unter derartigen Bedingungen erhebliche innere Hemmnisse entgegenstehen, wird in solchen Fällen der Prozeß der Ablösung vom dSK im Regelfall eine längere Übergangszeit in Anspruch nehmen als in Fällen, in denen die Abwendung vom dSK bereits unter "regulären" Lebensverhältnissen - etwa durch Heirat mit einem anders sprechenden Ehepartner in der Zeit vor der Verfolgung - eingeleitet worden ist. Während insoweit eine ehebedingte, auf freiwilliger Veranlassung beruhende Aufgabe des Gebrauchs der deutschen Sprache zeitlich eher auf einen Wechsel vom dSK zu einem anderen Sprach- und Kulturkreis schließen lassen mag, wird in Fällen der vorliegenden Art, in denen eine Ehe nach (oder während) der Verfolgung in einem verfolgungsbedingt fremdsprachigen Lebenskreis mit einem ausschließlich fremdsprachigen Ehepartner eingegangen wird, jedenfalls auch eine ca 10 Jahre überschreitende Übergangszeit in Betracht zu ziehen sein.

Der Senat schließt sich der zitierten Entscheidung des 1. Senats an. Auch nach seiner Auffassung kann offenbleiben, ob - wie von der Revision vertreten - in derartigen Fällen nach geltendem Recht generell eine Ausnahme von dem Erfordernis, dem dSK auch noch im Zeitraum der Aussiedlung angehören zu müssen, geboten ist. Gegen eine derartige Auslegung des § 20 Abs 2 WGSVG iVm § 19 Abs 2a WGSVG könnte die - neue - Regelung des § 17a FRG sprechen, die gerade diejenigen Verfolgten erfassen soll, die in der Zeit bis zur Ausreise aus ihren Heimatgebieten die Zugehörigkeit zum dSK verloren haben (vgl Bericht des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 11/5530, S 65 zu Nr 3a). Haben jedenfalls objektive, verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Umstände wie der Verlust der sozialen Großgruppe und des familiären Umfelds - und nicht ausschließlich außerhalb dieses Zurechnungsbereichs liegende Umstände - die in der Heirat eines fremdsprachigen Ehepartners und dem Gebrauch der fremden Sprache als Umgangssprache in der Ehe liegende Distanzierung vom dSK mit bewirkt, ist hierfür eine längere Übergangszeit zuzugestehen. Diese kann - im Anschluß an die genannte Entscheidung des 1. Senats - wie im vorliegenden Fall auch einen Zeitraum von 13 1/2 Jahren umfassen. Würden nämlich die aufgezeigten objektiven, verfolgungs- oder vertreibungsbedingten Umstände bei der Prüfung der Zugehörigkeit zum dSK außer acht gelassen, würde dies dazu führen, daß der Betroffene letztlich aufgrund verfolgungs- oder vertreibungsbedingter Lebensverhältnisse die Vergünstigung des § 20 WGSVG nicht in Anspruch nehmen könnte. Dies würde jedoch der Zielsetzung des WGSVG, das gem § 138 BEG Bestandteil des Entschädigungsrechts ist, widersprechen.

Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Grundsätze wird das LSG, das von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK offengelassen hatte, zu prüfen haben, ob der Kläger dem dSK angehört hat. Dabei könnte auch der Umstand von Bedeutung sein, daß der Kläger nach seinen Angaben eine rumänische Schule besucht hat, obwohl während seiner Schulzeit in weiten Teilen Siebenbürgens ein funktionierendes deutschsprachiges Schulsystem vorhanden war, so daß an sich die Möglichkeit zum Besuch einer deutschsprachigen Schule gegeben sein konnte. Sollte der Kläger dem dSK angehört haben, wird das LSG weiter zu erörtern haben, welche objektiven verfolgungs- oder vertreibungsbedingten Lebensverhältnisse sich auf das Sprachverhalten des Klägers ausgewirkt haben. Dabei wird zu prüfen sein, ob der Kläger wegen des vertreibungsbedingten Verlustes des deutschsprachigen Umfeldes, nämlich der weitgehenden Evakuierung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Nord-Siebenbürgen im September 1944 (vgl Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa, Bd III, 1957, S 66 E ff), eventueller Maßnahmen des rumänischen Staates gegen die deutschsprechende Bevölkerung und schließlich wegen des verfolgungsbedingten Verlustes des familiären Umfeldes durch den Tod eines Großteils seiner Familie überhaupt noch die Möglichkeit hatte, im normalen Lebensumfeld sowie im familiären Bereich Deutsch zu sprechen. War dies nicht der Fall, wird bei einem Fortbestand dieser Verhältnisse bis zur Auswanderung davon auszugehen sein, daß die Übergangszeit für eine Abwendung vom dSK wegen des Nichtgebrauchs der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich im Zeitpunkt der Auswanderung noch nicht abgeschlossen war.

Ob der Kläger dann, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG nicht erfüllt sind, ab 1. Juli 1990 einen Anspruch gem § 17a FRG auf Anerkennung der geltend gemachten Beitrags- und Beschäftigungszeiten hat, brauchte der Senat wegen der Nachrangigkeit des Anspruches nach § 17a FRG im Verhältnis zu dem des § 20 WGSVG nicht zu entscheiden.

Die Revision des Klägers mußte iS der Zurückverweisung der Streitsache an das LSG Erfolg haben, wobei das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650099

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