Leitsatz (amtlich)
Eine die Erwerbsfähigkeit nur um 5 % erhöhende oder mindernde Änderung der Verhältnisse ist im allgemeinen nicht wesentlich iS des RVO § 608; bei einer Rente von 20 % ist eine wesentliche Änderung jedoch schon in einem Rückgang der MdE auf 15 % zu erblicken.
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Frage der Anpassung und Gewöhnung ist es nicht allein auf den Zeitablauf seit einem Krankheits- oder (Unfall-)Schadensereignis abzustellen.
Normenkette
RVO § 608 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinlandpfalz vom 24. Januar 1958 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1934 geborene, als kaufmännischer Angestellter im Außendienst beschäftigte Kläger, verletzte sich durch Arbeitsunfall am 15. Mai 1953 das rechte Knie. Die Beklagte gewährte ihm deswegen eine vorläufige Rente von anfänglich Juli 1954 von 20 v.H. der Vollrente. Anläßlich der Feststellung der Dauerrente ergab eine fachärztliche Untersuchung im März 1955, daß noch keine Besserung vorlag und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) infolge des Unfalls weiterhin mit 20 v.H. zu bewerten war. Die Beklagte stellte hierauf durch Bescheid vom 16. April 1955 die Dauerrente mit 20 v.H. fest; in diesem Bescheid wurden "ausgedehnte empfindliche Narbenbildung an der Streckseite des rechten Kniegelenks, geringe Beugebehinderung im Kniegelenk rechts" als Folgen des Arbeitsunfalls anerkannt.
Bei einer Nachuntersuchung im Mai 1956 fand der Chirurg Dr. E... das rechte Kniegelenk des Klägers frei beweglich. In seiner Beurteilung führte Dr. E... aus, eine wesentliche Besserung des objektiven Befundes gegenüber der letzten Untersuchung vom März 1955 sei weder anatomisch noch funktionell festzustellen; eine MdE von 20 v.H. wegen der anerkannten Unfallfolgen, die auch bei der letzten Untersuchung verhältnismäßig gering gewesen seien, sei jedoch zu hoch; sie sei zur Zeit höchstens auf 10 v.H. zu schätzen; die Annahme einer Gewöhnung erscheine jedenfalls berechtigt, nachdem seit dem Unfall drei Jahre verflossen seien, das Kniegelenk sich bei dem jugendlichen Verletzten sicher weitgehend funktionell dem neuen Zustand angepaßt habe und der Verletzte seiner Berufsarbeit nachgehe. Hierauf entzog die Beklagte durch Bescheid vom 25. Mai 1956 die dem Kläger bisher gewährte Dauerrente; unter Hinweis auf das Gutachten des Dr. E... führte sie aus, die MdE des Klägers betrage nur noch 10 v.H., da sein rechtes Kniegelenk wieder normal beweglich und völlige Gewöhnung an den nur noch sehr geringen Unfallfolgezustand eingetreten sei.
Mit der Klage hat der Kläger eine Gewöhnung an die Verletzungsfolgen bestritten und geltend gemacht, er sei durch die Unfallfolgen gegenüber gleichaltrigen Kollegen erheblich benachteiligt, da er mindestens 70,-- DM monatlich weniger verdiene. Die Dauerrente müsse ihm lebenslänglich zugebilligt werden. Der vom Sozialgericht (SG) gehörte Orthopäde Dr. S... schätzte die MdE des Klägers auf 10 v.H., meinte jedoch, eine Änderung gegenüber dem Befund vom März 1955 sei nicht eingetreten. Das SG hat mit Urteil vom 22. November 1956 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Weiterzahlung der Dauerrente von 20 v.H. über den 30. Juni 1956 hinaus verurteilt: Eine wesentliche Besserung im Zustand der Verletzungsfolgen sei seit der Dauerrentenfeststellung nicht eingetreten. Auch eine Gewöhnung und Anpassung an den Unfallfolgezustand könne nicht angenommen werden; wenn eine solche Gewöhnung in den ersten beiden Jahren nach dem Unfall nicht festzustellen gewesen sei, so sei es unwahrscheinlich, daß sie erst im dritten Jahr nach dem Unfall doch noch eingetreten sein könnte.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 24. Januar 1958 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Da der Rechtsstreit die Weiterzahlung einer Rente von 20 v.H. betreffe, könne eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) schon bejaht werden, wenn der jetzige Befund nur um 5 v.H. von dem maßgeblichen Vorbefund abweiche. Aber auch eine so geringfügige, mit 5 v.H. zu bewertende Änderung der Verhältnisse liege beim Kläger nicht vor. Denn unter Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO sei in erster Linie eine Änderung im Befund der Verletzungsfolgen zu verstehen. An einer solchen Änderung meßbaren Grades fehle es beim Kläger. Die einzige von Dr. E... festgestellte Befundveränderung in Gestalt des völligen Wegfalls der früher bestehenden geringfügigen Beugebehinderung reiche zu einer Abweichung in der Schätzung auch um nur 5 v.H. nicht aus, zumal da diese Behinderung schon früher für die Funktion des Kniegelenks praktisch bedeutungslos gewesen sei. Die hiernach unzulässige Rentenentziehung werde durch die anderweite ärztliche Einschätzung der MdE bei gleichgebliebenem Befund nicht gerechtfertigt. Auch die von Dr. E... angenommene Gewöhnung an die Unfallfolgen könne den angefochtenen Bescheid nicht stützen; denn der Gutachter gehe bei seiner Annahme, dieser Umstand lasse die Neufeststellung einer Dauerrente zu, von falschen rechtlichen Voraussetzungen aus, deshalb sei seine Ansicht für die richterliche Überzeugung nicht maßgebend. Überdies sei es" immerhin zweifelhaft, ob von einer Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen hier überhaupt die Rede sein" könne; denn diese Umstände müßten, um berücksichtigt werden zu können, seit Feststellung der Dauerrente (Mai 1955) eingetreten sein, und diese Zeitspanne erscheine zu kurz. Bei anders gearteten Unfallfolgen - zB Hand-, Finger- oder Augenverletzungen - werde im übrigen die Anpassung und Gewöhnung eine größere Rolle spielen als im vorliegenden Fall. Man werde daher, selbst wenn man Anpassung und Gewöhnung bei Anwendung des § 608 RVO gelten lasse, dem Entziehungsbescheid nicht beipflichten können. Besonders sei noch zu berücksichtigen, daß der Kläger nach seiner von der Beklagten nicht bestrittenen Darstellung in seiner Tätigkeit noch genauso behindert sei wie früher. Die Beklagte habe nichts vorgetragen, was dafür spreche, daß der Kläger nunmehr bestimmte Arbeiten vornehmen könne, zu denen er vorher nicht imstande war; deshalb erübrigten sich in dieser Hinsicht weitere Ermittlungen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 15. März 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9. April 1958 Revision eingelegt und sie zugleich begründet.
Sie rügt Verletzung des § 608 RVO und beantragt,
unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision.
Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die Revision ist statthaft und zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Sie hatte auch Erfolg.
Der Senat teilt die im angefochtenen Urteil vertretene Auffassung, daß eine Dauerrente von 20 v.H. auf Grund des § 608 RVO schon bei einer Änderung der Verhältnisse neu festgestellt werden kann, durch welche die MdE des Rentenberechtigten auf 15 v.H. absinkt. Im allgemeinen wird zwar unter einer "wesentlichen" Änderung im Sinne dieser Vorschrift nur eine solche zu verstehen sein, bei der die gegenwärtig festzustellende MdE von der vorher anerkannten um mindestens 10 v.H. abweicht (vgl. RVA in AN 1906, 420, Nr. 2147; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. 6. Aufl., S. 582; LSG Schleswig, BG 1954, 490). Hiervon besteht aber jedenfalls dann eine Ausnahme, wenn es sich darum handelt, ob die für den Anspruch auf Rente maßgebende Grenze noch oder nicht mehr erreicht wird. Unter diesem Gesichtspunkt hat der erkennende Senat bereits entschieden, daß Abweichungen um nur 5 v.H. von der Schätzung der MdE durch die Vorinstanz zulässig sind (vgl. SozR RVO § 559 a Bl. Aa 2 Nr. 2). Ähnliches gilt auch für die Auslegung des Begriffs "wesentliche Änderung" im Sinne des § 608 RVO bei Renten von 20 v.H. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß bei einer von vornherein schon niedrigen MdE auch eine - an sich nur geringe - Besserung in verhältnismäßig höherem Grade in Erscheinung treten kann (vgl. Mitteilungen des Königl. Bayer. LVAmts 1913 S. 104 Nr. 1381). Für eine MdE von nur 20 v.H. kann demnach eine Änderung um 5 v.H., also immerhin um ein Viertel des für die Rentengewährung maßgebenden Vomhundertsatzes, durchaus eine wesentliche Änderung der Verhältnisse bedeuten. Die Beklagte war hiernach berechtigt, die dem Kläger bewilligte Dauerrente von 20 v.H. nicht mehr zu gewähren, sofern infolge wesentlicher Änderung der Verhältnisse die MdE zur Zeit des angefochtenen Bescheids nur noch 15 v.H. betrug.
Das LSG meint, beim Kläger sei eine solche Änderung im objektiven Befund der Verletzungsfolgen nicht nachweisbar. Diese Auffassung läßt - entgegen dem Revisionsvorbringen - einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Das LSG durfte aus den Äußerungen der ärztlichen Sachverständigen Dr. E... und Dr. S... folgern, daß in dem bei der letzten Nachuntersuchung beobachteten Wegfall der geringfügigen Beugebehinderung des rechten Kniegelenks eine wesentliche Änderung des objektiven Befunds nicht zu erblicken war, da diese kleine Funktionsstörung schon früher für die Gehfähigkeit des Klägers praktisch kaum nachteilig ins Gewicht fiel. Diese Befundabweichung für sich allein betrachtet brauchte das LSG nicht zu veranlassen, eine objektive Besserung der Unfallfolgen um 5 v.H. anzunehmen. Davon abgesehen wäre freilich zu prüfen, ob hierin nicht ein äußeres Anzeichen für die von der Beklagten behauptete Gewöhnung des Klägers an die Unfallfolgen erblickt werden könnte.
In der Frage, welche Bedeutung einer Anpassung oder Gewöhnung des Verletzten an die Unfallfolgen bei Anwendung des § 608 RVO zukommt, vermag der Senat den Darlegungen des angefochtenen Urteils nicht zu folgen. Aus diesen Darlegungen geht nicht klar hervor, ob das LSG die Gewöhnung im Rahmen des § 608 RVO überhaupt nicht berücksichtigen will oder ihr - wenn auch unter erheblichen Einschränkungen - doch wenigstens eine zweitrangige Bedeutung einräumt. So heißt es im angefochtenen Urteil einerseits, unter einer Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO sei "in erster Linie" eine Änderung im Befund der Verletzungsfolgen zu verstehen; diese Ausdrucksweise erlaubt den Schluß, daß das LSG daneben in zweiter Linie auch eine Anpassung oder Gewöhnung als eine solche Änderung ansieht. Andererseits bemerkt das LSG jedoch, die Annahme, daß eine Gewöhnung an Unfallfolgen ohne Befundänderung die Neufeststellung einer Dauerrente zulasse, beruhe auf "falschen rechtlichen Voraussetzungen". Welchen dieser beiden widersprüchlichen Standpunkte das LSG seiner Entscheidung zugrunde legen wollte, geht aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe nicht eindeutig hervor.
Der Auffassung des LSG, für die Neufeststellung einer Dauerrente auf Grund des § 608 RVO genüge nicht lediglich eine anderweitige Einschätzung der MdE bei gleichbleibendem Befund, ist allerdings grundsätzlich beizupflichten. Unbeschadet dieses Grundsatzes kann jedoch nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (SozR RVO § 608 Bl. Aa 1 Nr. 3. ferner Urteil vom 27.4.1961, 2 RU 277/56) eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO auch bei gleichbleibendem medizinischem Befund in der Anpassung oder Gewöhnung des Verletzten an die Unfallfolgen erblickt werden. Der Senat hat sich damit der schon lange anerkannten Auffassung angeschlossen daß nach der Lebenserfahrung die Erwerbsfähigkeit eines Unfallverletzten auch bei an sich irreparablen Körperschäden sich dadurch erhöhen kann, daß im Laufe der Zeit der Verletzte größere Geschicklichkeit im Gebrauch der geschädigten Körperteile erlangt. Das angefochtene Urteil trägt - einerlei wie sein grundsätzlicher Ausgangspunkt in dieser Frage zu deuten sein mag - diesen Umständen offensichtlich allgemein nicht genügend Rechnung. Darüber hinaus erscheinen auch die Darlegungen im einzelnen in mehrfacher Hinsicht nicht frei von Bedenken.
Zwar hängt auch nach Ansicht des erkennenden Senats (aaO) die Beurteilung der Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung eingetreten ist, in der Regel nicht ausschließlich von medizinischer Sachkunde ab, vielmehr gehört dazu auch eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Verletzten durch das Gericht, das hierbei auch außermedizinische Erkenntnisse zu berücksichtigen hat. Zu diesem, unter Umständen ohne Hinzuziehung ärztlicher Sachverständiger zu beurteilenden Fragenkreis gehört aber nach Ansicht des Senats nicht die Prüfung, ob bei gewissen Unfallfolgen ihrer Art nach die Möglichkeit von Anpassung oder Gewöhnung schlechthin ausgeschlossen ist. Das LSG hat ausgeführt, bei erheblichen Kniegelenkverletzungen könne eine Gewöhnung nicht im gleichen Maße beobachtet werden wie zB bei Hand-, Finger- oder Augenverletzungen. Es ist nicht ersichtlich, woher das LSG diesen überwiegend medizinisch geprägten Erfahrungssatz gewonnen hat, jedenfalls hat keiner der in diesem Verfahren gehörten Sachverständigen sich in diesem Sinne geäußert, nach Meinung des Senats ist dieser Satz auch sonst nicht hinreichend fundiert. Dasselbe gilt von dem Standpunkt des LSG, die Zeitspanne zwischen der Festsetzung der Dauerrente und deren Entziehung sei zu kurz, um eine ins Gewicht fallende Gewöhnung annehmen zu können. Möglicherweise wollte das LSG hiermit die Ausführungen des SG billigen, in denen es als von vornherein unwahrscheinlich bezeichnet wurde, daß eine während der Laufzeit der vorläufigen Rente ausgebliebene Gewöhnung schließlich noch im dritten Jahr nach dem Unfall eintreten könne. Es bedarf keiner näheren Ausführung darüber, daß mit einer solchen Auffassung der Sinn der in § 1585 RVO vorgeschriebenen Frist von zwei Jahren nach dem Unfall für die Ablösung der vorläufigen Rente durch die Dauerrente verkannt würde.
Die Bezugnahme auf theoretische Erwägungen an Stelle einer eingehenden Ermittlung und Würdigung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Klägers reicht nicht aus, um mit den Vorinstanzen die Klage als begründet anzusehen. Eine möglicherweise insoweit unzulängliche Mitwirkung der Beklagten an der Klärung dieser Umstände durfte die Gerichte nicht veranlassen, in dieser Richtung von den erforderlichen Ermittlungen abzusehen (vgl. SozR SGG § 128 Bl. Da 24 Nr. 35) und damit im Ergebnis - wie das angefochtene Urteil ausdrücklich bemerkt - die entscheidende Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung anzunehmen ist, als "immerhin zweifelhaft" letztlich offenzulassen. Auf die hiernach begründete Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil aufzuheben. Da die bisherigen Feststellungen eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst nicht ermöglichen, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Dieses wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung zunächst zu prüfen haben, ob aus den vorliegenden ärztlichen Gutachten greifbare Merkmale einer Anpassung oder Gewöhnung des Klägers zur Zeit der Bescheiderteilung zu ersehen sind oder ob darin lediglich "schablonenhaft" der abstrakte Begriff der Gewöhnung zitiert wird. Neben der bisher unterbliebenen tatrichterlichen Würdigung dieser Frage bedarf es einer Prüfung der - unter Umständen noch ergänzungsbedürftigen - Angaben, die der Arbeitgeber des Klägers über dessen Einsatzfähigkeit und Belastbarkeit bei der Arbeit gemacht hat; in dieser Hinsicht kommt zunächst vor allem die Formularauskunft der Firma K... E... Mi... vom 15. Februar 1956 im Vergleich zu derjenigen vom 14. Juni 1954 in Betracht, die sich beide in den Akten der Beklagten befinden.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSD vorbehalten.
Fundstellen