Leitsatz (amtlich)
Bei Vollzeitarbeitskräften ist grundsätzlich davon auszugehen, daß es für Tätigkeiten Arbeitsplätze in einer die Verweisung zulassenden Zahl gibt; die Grundsätze der Beschlüsse des GrS vom 1969-12-11 (GS 4/69 und GS 2/68) haben daher - von wenigen Ausnahmen abgesehen - insoweit keine Bedeutung, als sie die Frage betreffen, ob der Arbeitsmarkt wegen des Verhältnisses von Interessenten für Teilzeitarbeitsplätze zu vorhandenen Teilzeitarbeitsplätzen offen oder praktisch verschlossen ist.
Dagegen hat der Grundsatz in Abschn V 2 b, aa) des Beschlusses GS 4/69 auch für Vollzeitarbeitskräfte Bedeutung, der die Frage betrifft, ob die Verweisung auf Tätigkeiten deshalb ausgeschlossen ist, weil der Zugang des Versicherten zu diesen Tätigkeiten (etwa wegen qualitäts- oder quantitätsmäßig verminderten Leistungsvermögens, wegen von der Norm abweichender Arbeitsbedingungen usw) besonders stark erschwert ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. November 1967 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin hat als Rechtsnachfolgerin ihres am 1. Juli 1970 verstorbenen Ehemannes (Versicherter) das von diesem eingeleitete Verfahren aufgenommen.
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit. Der am 3. November 1920 geborene Versicherte hat nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) den Beruf eines Schlossers erlernt. Er sei im wesentlichen als gelernter Schlosser im Apparate-, Rohrleitungs- und Behälterbau und als Autogen-Schweißer im Luftkühlerbau pflichtversichert gewesen.
Einen am 20. Oktober 1964 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. November 1965 ab. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Koblenz mit Urteil vom 16. März 1967 den Bescheid vom 3. November 1965 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an den Versicherten Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten hat das LSG Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 8. November 1967 zurückgewiesen. Aus dem Urteil ergibt sich, daß das LSG davon ausgeht, daß der Versicherte noch körperlich leichte Arbeit, vorwiegend im Sitzen, aber auch im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen, vollschichtig verrichten kann, wenn er nicht in Wechselschichten oder nachts zu arbeiten braucht und die Möglichkeit hat, eine Leberdiät in geregelten Mahlzeiten einzuhalten. Er sei nur dann noch berufsfähig, wenn es Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gebe, an denen er sitzend oder vorwiegend sitzend bei Einhaltung einer Leberdiät leichte Arbeiten verrichten könne, ohne durch die Übernahme einer solchen Beschäftigung als gelernter Schlosser einen wesentlichen sozialen Abstieg zu erleiden. Es seien zwar an sich Arbeitsplätze vorhanden, die für den Versicherten nach seinem Gesundheitszustand geeignet seien, aber dabei handele es sich um Arbeitsplätze für Arbeiten, die in gleicher Weise von einer ungelernten Kraft ausgeführt werden könnten. Auf diese Arbeitsplätze könne er daher nicht verwiesen werden. Für ihn geeignete Arbeitsplätze, auf die er auch verwiesen werden könne, seien dagegen im Bundesgebiet nicht in nennenswerter Anzahl vorhanden. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Die Beklagte rügt mit der von ihr eingelegten Revision wesentliche Verfahrensmängel. Aus den Akten ergebe sich kein Nachweis dafür, daß der Versicherte den Schlosserberuf erlernt habe. Vielmehr sei aus einer vorliegenden Sammelkarte zu ersehen, daß er während der angeblichen Lehrzeit als Landarbeiter und Arbeiter tätig gewesen sei. Daher hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, Beweise dafür beizuziehen, daß der Versicherte das Schlosserhandwerk erlernt habe. Von einem Berufsschutz als Schlosser könne das LSG aber auch deshalb nicht ausgehen, weil der Versicherte nicht - wie das LSG ebenfalls ohne ausreichende Sachaufklärung festgestellt habe - im wesentlichen als gelernter Schlosser im Apparate-, Rohrleitungs- und Behälterbau und als Autogen-Schweißer beschäftigt gewesen sei. Es sei schon nach seinen eigenen Angaben zweifelhaft, ob er bis zuletzt vor seiner Erkrankung als Schlosser tätig gewesen sei oder ob er sich schon vorher von diesem Beruf gelöst habe. Zwar könne unter besonderen Umständen auch ein Arbeitnehmer, der auf Grund jahrelanger Tätigkeit die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten wie ein gelernter Schlosser erworben habe, den gleichen Berufsschutz wie ein gelernter Schlosser genießen, aber auch in dieser Richtung seien vom LSG keine Ermittlungen angestellt worden.
Schließlich sei es auch nicht richtig, daß für einen gelernten Schlosser, der körperlich leichte Arbeiten, vorwiegend sitzend, aber auch im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen vollschichtig verrichten könne, keine zumutbaren Arbeitsplätze vorhanden seien. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, vor einer solchen Feststellung geeignete Ermittlungen anzustellen. Das sei aber nicht geschehen. Schließlich habe das LSG ohne weitere Ermittlungen nicht zu dem Ergebnis gelangen dürfen, der Versicherte sei deshalb nicht auf leichte Tätigkeiten für Schlosser zu verweisen, weil solche Tätigkeiten immer Schicht- und Nachtarbeiten seien und eine Leberdiät nicht eingehalten werden könne, denn diese Feststellung sei unrichtig. Obwohl sie - die Beklagte - darauf hingewiesen habe, daß es zumutbare Tätigkeiten gebe, für die der Versicherte gesundheitlich geeignet gewesen sei, wie z. B. Werkzeugschleifer, Hobler, Werkzeugausgeber und Materialverwalter, habe das LSG diese Tätigkeiten nicht einmal erwähnt. Wenn das LSG die erforderlichen Ermittlungen durchgeführt hätte, wäre es zu dem Ergebnis gekommen, daß der Versicherte nicht berufsunfähig sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. November 1967 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, daß ihr Ehemann nach den vorliegenden Bescheinigungen als Schlosser, Kesselschmied und Schweißer tätig gewesen sei. Auch als Schweißer sei er als Facharbeiter anzusehen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Die Verfahrensrügen der Beklagten greifen zumindestens teilweise durch. Der Versicherte hat angegeben, er habe als Schlosser im Jahre 1938 eine Gesellenprüfung abgelegt und sei dann bis 1942 Stahlputzer und von 1942 bis 1945 Soldat gewesen. Von 1945 bis 1951 habe er als Schlosser, von 1951 bis 1952 als Kesselschmied und von 1952 bis zu seiner Erkrankung im Jahre 1958 als Autogen-Schweißer gearbeitet. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich das LSG nach dem damaligen Verhalten der Beteiligten im Prozeß und nach den damals vorliegenden Unterlagen hätte gedrängt fühlen müssen, hinsichtlich der angegebenen Lehrzeit Ermittlungen anzustellen, denn auch bei Annahme einer solchen Lehrzeit hätte das LSG bei den vom Versicherten gemachten Angaben nicht ohne weitere Ermittlungen bei Prüfung der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) vom gelernten Schlosser als Hauptberuf ausgehen dürfen. Es hätte vielmehr prüfen müssen, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen der Versicherte den erlernten Beruf aufgegeben hat. Auch entspricht die vom LSG geäußerte Ansicht, ein Arbeitgeber erwarte von einem Schlosser, der als solcher beschäftigt werden wolle, daß er ihn in Schicht- und Nachtarbeit verwenden könne, in dieser Verallgemeinerung nicht den Erfahrungen des täglichen Lebens.
Vor einer neuen Entscheidung wird das LSG zunächst festzustellen haben, von welchem Beruf als Hauptberuf bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit auszugehen ist. Hierfür kann bedeutsam sein, ob der Versicherte gelernter Schlosser oder ob er möglicherweise einem solchen gleichzustellen ist (vgl. BSG 17, 41 f). Wenn das der Fall sein sollte, muß festgestellt werden, ob er aus anderen als gesundheitlichen Gründen diesen Beruf aufgegeben hat und bejahendenfalls von welchem anderen Beruf nunmehr bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit auszugehen ist.
Wenn das LSG bei einer erneuten Überprüfung wieder zu dem Ergebnis kommen sollte, daß der Versicherte bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit als Facharbeiter anzusehen ist oder wie ein solcher behandelt werden muß, kann er, da er als Schlosser nicht mehr tätig sein kann, auf gehobene ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden. Er könnte zwar zumutbar auch auf anerkannte Anlerntätigkeiten oder gleichzubewertende andere Tätigkeiten verwiesen werden, doch wird ihm hierzu wahrscheinlich die erforderliche berufliche Fähigkeit fehlen. Das LSG wird sich bei der Prüfung, ob der Versicherte noch gehobene ungelernte Tätigkeiten verrichten kann, mit den von der Beklagten in der Berufungsbegründung angegebenen, angeblich für den Kläger geeigneten Tätigkeiten auseinandersetzen und gegebenenfalls dazu Stellung nehmen müssen, ob und aus welchen Gründen der Versicherte hierauf nicht verwiesen werden kann.
Bei der Verweisung von Versicherten, die noch vollschichtig tätig sein können, auf zumutbare Tätigkeiten braucht jedoch - anders als bei Teilzeitarbeitskräften - grundsätzlich nicht geprüft zu werden, wieviel Arbeitsplätze für solche Tätigkeiten vorhanden sind. Für jede vollschichtige Tätigkeit gibt es Arbeitsplätze, da eine Tätigkeit ohne ihr zugehörige Arbeitsplätze nicht denkbar ist. Für Tätigkeiten, die tariflich erfaßt sind, kann ohne weiteres angenommen werden, daß es Arbeitsplätze in einer Zahl gibt, die eine Verweisung zulassen; denn Tätigkeiten, für die es nur wenige Arbeitsplätze gibt, werden kaum tariflich erfaßt sein. Aber auch bei tariflich nicht erfaßten Tätigkeiten sind Ausnahmen nur denkbar, wenn es sich um außergewöhnliche Tätigkeiten handelt, für die es von Haus aus nur wenige Arbeitsplätze gibt; als Verweisungstätigkeiten kommen diese jedoch nur selten in Betracht. Angesichts der normalerweise großen Zahl von vollschichtigen Arbeitsplätzen für Tätigkeiten können Einschränkungen bei der Ausfüllung dieser Arbeitsplätze nicht so ins Gewicht fallen, daß sie als stark im Sinne von Abschnitt V 2 b bb) des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - angesehen werden können. Daher kann der Umstand, daß der Kläger nur noch leichte Arbeiten im Sitzen oder abwechselnd im Sitzen und Stehen vollschichtig verrichten kann, nicht zu der Annahme führen, daß ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Bei Teilzeitarbeitsplätzen liegen die Verhältnisse grundlegend anders, weil die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze für Tätigkeiten, wenn etwa von den sogenannten Dienstleistungsberufen für Frauen abgesehen wird, erfahrungsgemäß nur einen sehr kleinen Bruchteil der Zahl der entsprechenden vollschichtigen Arbeitsplätze ausmacht. Diese außergewöhnliche Einengung der Zahl der Arbeitsplätze hat den Großen Senat veranlaßt, in seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 (GS 4/69 und GS 2/68) Teilzeitarbeitskräfte nur dann auf bestimmte Teilzeittätigkeiten zu verweisen, wenn ihnen der Arbeitsmark im Sinne dieser Beschlüsse praktisch nicht verschlossen ist. Dieser Grundsatz ist aber auf Vollzeitarbeitskräfte nur in ganz seltenen, besonders gelagerten Ausnahmefällen anwendbar, in denen es für Tätigkeiten schon von Hause aus nur wenige Arbeitsplätze gibt.
Dagegen ist der Grundsatz in Abschnitt V 2 b, aa) des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - auch auf Vollzeitarbeitskräfte anzuwenden. Danach können diejenigen Versicherten, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt deshalb verschlossen oder besonders stark erschwert ist, weil sie wegen ihres Gesundheitszustandes z. B. nur noch qualitäts- oder quantitätsmäßig stark eingeschränkte Leistungen erbringen können, weil sie einen Arbeitsplatz nur unter von den betrieblich üblichen, stark abweichenden Bedingungen ausfüllen können oder weil sie an ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten leiden, nicht auf die Tätigkeiten, die sie an sich noch zumutbar verrichten könnten, verwiesen werden, es sei denn, daß sie einen solchen Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise innehaben oder daß ihnen ein solcher Arbeitsplatz angeboten wird, ohne Rücksicht darauf, ob sie von diesem Angebot Gebrauch machen. Dieser Grundsatz gilt deshalb, weil in diesen Fällen, in denen es sich nicht um die Einschränkung der Zahl der Arbeitsplätze handelt, anzunehmen ist, daß ein Arbeitgeber solche Arbeitskräfte in der Regel kaum einzustellen pflegt.
Da der erkennende Senat im Revisionsverfahren die erforderlichen Tatsachen zur Prüfung der offenen Fragen nicht selbst feststellen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Das LSG wird hiernach erneut zu prüfen haben, ob der Umstand, daß der Kläger nicht in Wechselschichten und nicht nachts arbeiten kann und daß er Gelegenheit haben muß, seine Leberdiät in geregelten Mahlzeiten einzuhalten, als eine starke Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit im Sinne von Abschnitt V 2 b, aa) des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - anzusehen ist. Es wird hierbei zu berücksichtigen haben, daß in den meisten Betrieben die Möglichkeit besteht, von dem Arbeitnehmer mitgebrachtes Essen aufwärmen zu können.
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Dem LSG bleibt auch die Kostenentscheidung hinsichtlich des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen