Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, wann bei der Entscheidung über das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit einer Teilzeitarbeitskraft, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten kann, das Teilzeitarbeitsfeld praktisch verschlossen ist.

Für die Entscheidung der Frage, ob einem männlichen Teilzeitarbeiter das Teilzeitarbeitsfeld offen oder praktisch verschlossen ist, können jedenfalls für die Jahre ab 1945 die heute maßgebenden Zahlen der Entscheidung zugrunde gelegt werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. April 1967 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Streitig ist die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) anstelle der bereits gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der im Jahre 1904 geborene Kläger, der als gelernter Betriebsschlosser bis 1963 berufstätig war, bezieht seit dem 1. November 1963 die Rente wegen BU. Am 28. Juni 1965 beantragte er die Gewährung der Rente wegen EU mit der Begründung, sein Gesundheitszustand habe sich so verschlechtert, daß er auch keine leichten Arbeiten mehr verrichten könne. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8. September 1965 mit der Begründung ab, beim Kläger läge zwar eine allgemeine Gefäßsklerose, Herzmuskelschädigung, Alterslungenblähung und Krampfaderbildung vor, doch rechtfertige dies noch nicht die Annahme von EU.

Die sich gegen diesen Bescheid richtende Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 16. Juni 1966 abgewiesen.

Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 21. April 1967 zurückgewiesen. Es ist mit dem SG der Auffassung, daß der Kläger nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist. Allerdings könne der Kläger wegen seines Gesundheitszustandes nur noch körperlich leichte Halbtagsarbeiten verrichten, bei denen er sich nach Bedarf setzen könne wegen der gesundheitlichen Störungen an den Beinen und Füßen. Die Arbeiten müßten zudem ruhig sowie psychisch unkompliziert sein und dürften keine besonderen Anforderungen an das Gedächtnis stellen. Es blieben aber immerhin noch genügend Tätigkeiten übrig, die der Kläger verrichten könnte, z. B. einfache Sortier- sowie schlichte Zusammensetz- und Montierarbeiten. Er könnte sich auch als Fahrradwärter, Werkstattreiniger, Werkstückreiniger oder als Lichtpauser betätigen. Dabei dürfe der An- und Abmarschweg zwischen Arbeitsplatz und Wohnung je bis zu drei Kilometer betragen. Öffentliche Verkehrsmittel können zusätzlich in normalem Umfange benutzt werden. Dies gelte für die gesamte rückliegende Zeit seit Antragstellung im Jahre 1965.

Das LSG ist davon überzeugt, daß es die beispielsweise angedeuteten Arbeitsplätze für nur vier Stunden täglich ihrer Art nach in D nebst näherer Umgebung gibt und auch vom Kläger erreicht werden können. Die Fähigkeit, durch regelmäßige Arbeit mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen, sei daher dem Kläger verblieben. Bei vierstündiger Arbeitszeit könne er selbst als Hilfsarbeiter mindestens 1/5 des Einkommens eines gleichaltrigen Betriebsschlossers verdienen. Es komme nicht darauf an, wieviele derartige Teilzeitarbeitsplätze vorhanden sind, weshalb es entsprechender Feststellungen nicht bedürfe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt.

Er ist der Auffassung, daß es für eine Teilzeitarbeitskraft entgegen der Auffassung des LSG bei der Anwendung des § 1247 Abs. 2 RVO auf die Zahl der für die Verweisungstätigkeiten vorhandenen Arbeitsplätze ankommt und beruft sich insoweit auf die inzwischen ergangenen Beschlüsse des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (GS 2/68 und 4/69).

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Landessozialgerichts vom 21.4.1967 sowie des Urteils des Sozialgerichts in Duisburg vom 16.6.1966 die Beklagte gemäß dem Klageantrage zu verurteilen,

hilfsweise

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils samt den ihm zugrundeliegenden Feststellungen die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Essen zurückzuverweisen und die Kosten des Rechtsstreits der Beklagten aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil auch unter Berücksichtigung der inzwischen ergangenen Beschlüsse des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 und 4/69 - für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden ist.

Der erkennende Senat konnte auf Grund der bisherigen Feststellungen nicht entscheiden, ob der Kläger während der streitigen Zeit ab 1. Juni 1965 (Antragstellung) bis zum 31. Juli 1967 (Beginn des vorzeitigen Altersruhegeldes) erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 RVO gewesen ist.

Das LSG hat unangefochten festgestellt, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nur noch leichte, ruhige und unkomplizierte Halbtagstätigkeiten verrichten kann, bei denen er sich nach Bedarf setzen kann. Die für diesen Rechtsstreit entscheidende Frage, ob ein Versicherter auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für diese Tätigkeit Arbeitsplätze gibt, hat der Große Senat des BSG durch Beschluß vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - dahin entschieden, daß es bei Anwendung des § 1247 Abs. 2 RVO erheblich ist, ob Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit ausüben kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind. Auf solche Arbeitsplätze kann der Versicherte nach den Grundsätzen dieses Beschlusses nur verwiesen werden, wenn ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist, d. h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger als 75 : 100 ist. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Der Rechtsansicht des LSG, daß die Fähigkeit, noch halbschichtig arbeiten zu können, die Erwerbsunfähigkeit ausschließe, ohne daß es noch der konkreten Feststellung bedürfe, ob und in welchem Umfang für den Kläger geeignete Arbeitsplätze vorhanden sind, kann nicht gefolgt werden.

Der Große Senat des BSG hat in Abschn. C V des genannten Beschlusses vom 11. Dezember 1969 i. V. m. Abschn. C V des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M gegen LVA Berlin - GS 4/69 - Anhaltspunkte dafür gegeben, wann das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. Da der Kläger noch täglich halbschichtig (bis unter vollschichtig) Arbeiten verrichten kann und ein Versicherter unabhängig davon, ob ein Lehrberuf, ein anerkannter Anlernberuf oder eine ungelernte Tätigkeit sein Hauptberuf ist, bei der Entscheidung über das Vorliegen von EU auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann, würde der Kläger nach den Grundsätzen des Großen Senats und den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Zahlen über den Umfang des allgemeinen Teilzeitarbeitsfeldes nicht erwerbsunfähig sein, wenn er auf dem allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt uneingeschränkt tätig sein könnte.

Der Kläger kann allerdings nur auf einen eingeschränkten Teil des allgemeinen Teilzeitarbeitsfeldes verwiesen werden. Es muß daher nach den Grundsätzen des o. a. Beschlusses geprüft werden, ob es sich hier um eine starke Einschränkung des uneingeschränkten allgemeinen Teilzeitarbeitsmarktes handelt. Nach der Entscheidung des Senats vom heutigen Tage in Sachen F gegen LVA Baden - 5/4 RJ 11/68 - liegt eine starke Einschränkung in diesem Sinne dann vor, wenn die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze auf dem eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt geringer ist als 2/3 der Zahl der Teilzeitarbeitsplätze auf dem uneingeschränkten allgemeinen Teilzeitarbeitsfeld. Ergibt die Prüfung, daß eine starke Einschränkung in diesem Sinne vorliegt, so ist dem Kläger das Arbeitsfeld praktisch verschlossen, so daß er nicht auf dieses Teilzeitarbeitsfeld verwiesen werden kann, es sei denn, daß er einen entsprechenden Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise inne hat oder daß ihm ein solcher angeboten wird, gleichgültig ob er von diesem Angebot Gebrauch macht.

Diese Entscheidung kann jedoch nicht ohne Kenntnis der entsprechenden Zahlen getroffen werden. Ergibt diese vom LSG vorzunehmende Prüfung, daß dem Kläger das Arbeitsfeld praktisch verschlossen ist, so ist er erwerbsunfähig.

Wenn der Versicherte allerdings, wie hier, einen Lehrberuf oder gleichzubewertenden Beruf als Hauptberuf hat, kann sich - anders als in den Fällen, in welchen der Hauptberuf des Versicherten ein anerkannter Anlernberuf oder ein gleichzubewertender Beruf oder aber eine ungelernte Tätigkeit ist - wegen der unterschiedlich maßgebenden Zahlen bei der Entscheidung über BU und EU dann etwas Abweichendes ergeben, wenn noch nicht feststeht, daß der Versicherte nach den Grundsätzen des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - berufsunfähig ist. Dann muß diese vorweg geprüft werden. Nur wenn sich auf Grund dieser Prüfung ergibt, daß der Versicherte berufsunfähig ist. kann er auch erwerbsunfähig sein; andernfalls ist er dagegen weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig. Im vorliegenden Fall steht fest, daß der Kläger, da er Rente wegen BU bezieht, berufsunfähig ist, so daß sich diese Sonderprüfung erübrigt.

Für diese Zahlenangaben steht, da der Kläger zur Gruppe derjenigen Teilzeitarbeitskräfte gehört, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten können, praktisch nur die Bundesanstalt für Arbeit in N zur Verfügung (vgl. Urt. des 5. Sen. vom 7.5.70 - 5 RKn 46/68 und das Urteil vom heutigen Tage 5/4 RJ 11/68).

Im vorliegenden Fall handelt es sich ausschließlich um die Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt der vergangenen Jahre, weil nur die Zeit von 1965 bis 1967 streitig ist. Es bestehen jedoch keine Bedenken, wenn das LSG die den Beschlüssen des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 zugrunde liegenden Zahlen oder die zusätzlich noch von der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg anzufordernden Zahlen der Entscheidung zugrunde legt, da sich die Arbeitsmarktverhältnisse für Teilzeitarbeiter in dem hier streitigen Zeitraum nicht wesentlich von denen unterscheiden, die 1969 und heute maßgebend sind. Dies ergibt sich aus dem Mikrozensus vom April 1968, der gleichbleibend Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt für Arbeiter zumindest seit 1960 ausweist (vgl. Zahlenzusammenstellung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit in E vom 5. März 1970 - Kü/Wi.).

Weiterhin wird das LSG zu beachten haben, daß dem Kläger inzwischen - für die Zeit vom 1. August 1967 an - das vorgezogene Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit zuerkannt worden ist. Da dies nur möglich ist, wenn der Kläger arbeitslos gewesen ist und die Arbeitslosigkeit ihrerseits voraussetzt, daß er arbeitsfähig gewesen ist, spricht vieles für die Annahme, daß er zumindest in dem Jahr vor der Bewilligung des vorzeitigen Altersruhegeldes nicht erwerbsunfähig gewesen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669734

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