Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Urteil vom 28.10.1991) |
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Anerkennung der Zeit vom 1. Juni 1988 bis 16. Januar 1989 als Kindererziehungszeit.
Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige. Im August 1986 reiste sie mit ihrem Ehemann, der ebenfalls iranischer Staatsangehöriger ist, in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 28. Oktober 1986 beantragten die Eheleute die Anerkennung als Asylberechtigte. Am 22. Mai 1988 gebar die Klägerin in Düsseldorf das Kind Cepideh. Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. November 1988, der seit dem 17. Januar 1989 bestandskräftig ist, wurde der Ehemann der Klägerin als Asylberechtigter anerkannt. Der Antrag der Klägerin wurde zunächst abgelehnt. Im Dezember 1990 erhielt sie als Ehefrau eines Asylberechtigten die Asylberechtigung aufgrund des § 7a Abs 3 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). Im Juli 1991 erteilte ihr die Ausländerbehörde die unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Am 19. Mai 1989 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Feststellung von Kindererziehungszeiten für ihr Kind Cepideh. Die Beklagte lehnte den Antrag zunächst ab (Bescheid vom 22. August 1989) und erkannte dann die Zeit vom 17. Januar 1989 – das war der Zeitpunkt, zu dem die Anerkennung des Ehemannes der Klägerin als Asylberechtigter bestandskräftig wurde – bis zum 31. Mai 1989 als Kindererziehungszeit an. Im übrigen blieb die Beklagte bei ihrer Ablehnung (Bescheid vom 28. Februar 1991). Den aufrechterhaltenen Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 1991). Der gewöhnliche Aufenthalt im Inland iS von § 30 Abs 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) beginne erst mit dem Tag der unanfechtbaren Anerkennung des Asylrechts.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. Juni 1988 bis 16. Januar 1989 als Kindererziehungszeit anzuerkennen (Urteil vom 28. Oktober 1991). Es hat ausgeführt, ein Asylbewerber, der sich im Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung (RVO) befinde und asylberechtigt sei, habe seinen berechtigten gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nicht erst von der nachträglichen verwaltungsmäßigen Feststellung des Asylrechts an. Die Asylanerkennung habe lediglich deklaratorische, nicht konstitutive Wirkung. Das Asylrecht sei nicht teilbar in eine Zeit vor und nach der Anerkennung.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 1227a RVO, 56 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung -(SGB VI) und 30 SGB I.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Sprungrevision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das SG ausgesprochen, daß der Klägerin Kindererziehungszeiten auch für die Zeit vom 1. Juni 1988 bis 16. Januar 1989 zustehen.
Über den Anspruch auf Vormerkung einer Versicherungszeit ist seit dem 1. Januar 1992 allein nach den Vorschriften des SGB VI zu entscheiden. Nach § 300 Abs 1 SGB VI finden die Vorschriften dieses Gesetzbuches von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens (1. Januar 1992) an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann Anwendung, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Von § 300 Abs 1 SGB VI abweichende Regelungen greifen hier nicht ein (vgl Urteil des Bundessozialgerichts -BSG-vom 25. Februar 1992 – 4 RA 34/91, SozR 3-6180 Art 13 Nr 2).
Die Beklagte ist zwar nach § 149 Abs 5 SGB VI nur verpflichtet, die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten festzustellen, soweit diese länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen. Die Beklagte hat hier aber über die beantragte Vormerkung der Versicherungszeit sachlich entschieden. Dieser Vormerkungsbescheid muß inhaltlich zutreffend sein (vgl BSG in SozR 3-2200 § 1227a Nr 7). Die Beklagte als örtlich zuständiger Träger der Rentenversicherung der Arbeiter ist nach § 126 Abs 3 SGB VI nach Wahl der Klägerin der für die Versicherung wegen Kindererziehung zuständige Rentenversicherungsträger.
Die Voraussetzungen, unter denen der Klägerin eine Kindererziehungszeit anzuerkennen ist, liegen auch für die Zeit vom 1. Juni 1988 bis 16. Januar 1989 vor. Für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind wird einem Elternteil eine Kindererziehungszeit von 12 Monaten nach Ablauf des Monats der Geburt (vgl § 249 Abs 1 SGB VI) angerechnet, wenn die Erziehungszeit dem Elternteil zuzuordnen ist, die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist und wenn der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist (§ 56 Abs 1 Satz 2 SGB VI). Da die Eltern des Kindes eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben haben, ist die Erziehungszeit der Mutter zuzuordnen (§ 56 Abs 2 Satz 8 SGB VI). Ausschlußgründe (§ 56 Abs 4 SGB VI) sind nicht ersichtlich. Die Klägerin hat ihr Kind auch im Inland erzogen.
Eine Erziehung ist im Inland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil (die Klägerin) sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat (§ 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI). Die Voraussetzungen, unter denen nach § 56 SGB VI eine Versicherungszeit wegen Kindererziehung besteht, sind gegenüber § 1227a RVO, den § 56 SGB VI abgelöst hat, unverändert geblieben. Auch nach § 1227a Abs 1 Satz 1 RVO bestand Versicherungspflicht wegen Kindererziehung nur, wenn während der Kindererziehung in den ersten zwölf Monaten sich die Mutter mit dem Kind im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gewöhnlich aufgehalten hat. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht vorübergehend verweilt (§ 30 Abs 3 Satz 2 SGB I). Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuches, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 Satz 1 SGB I). Die im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, abweichende Regelungen zu treffen, zeigt, daß der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthaltes” nur hinreichend unter Berücksichtigung des Zweckes des Gesetzes bestimmt werden kann, in welchem er gebraucht wird. Die einzelgesetzliche Materie bewirkt eine „Einfärbung” des Begriffs (BSG SozR 3-7833 § 1 Nr 2 S 12, 13 mwN). Entscheidungen und Begriffsbestimmungen zum gewöhnlichen Aufenthalt, die aus anderen Gesetzen stammen oder sich auf anders geartete Materien beziehen, können deshalb nur mit einer gewissen Zurückhaltung auf weitere Sachgebiete übertragen werden.
Zum Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) hat der 4. Senat des BSG entschieden, daß Ausländer solange keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, solange ihr Aufenthalt im Inland ausländerrechtlich nur vorübergehend und nicht rechtlich beständig gestattet ist. Dies gilt auch für Asylbewerber während der Dauer des Asylverfahrens, soweit deren Antrag – anders als im Falle der Klägerin – rechtsverbindlich abgelehnt worden ist (vgl BSGE 67, 243 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2 und Urteil vom 28. November 1990 – 4 REg 17/89 -nicht veröffentlicht). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung mit Urteil vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 24/91 (zur Veröffentlichung vorgesehen) aus den dort angeführten Gründen für den Bereich der Kindererziehungszeiten angeschlossen. Gleiches gilt für die weitere, zum BErzGG ergangene Rechtsprechung des 4. Senats, wonach ein Asylbewerber nur dann seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, wenn verbindlich festgestellt ist, daß er in der Zeit, für die ein Anspruch geltend gemacht wird, unter dem Schutz des Art 16 Abs 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) stand (vgl Urteile vom 14. September 1989 in BSGE 65, 261 = SozR 7833 § 1 Nr 7 und vom 30. September 1991 in SozR 3-1500 § 114 Nr 2 mwN). Der Asylberechtigte hat danach seinen (berechtigten) gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht erst von der nachträglichen verwaltungsmäßigen Feststellung des Asylrechts an. Die Asylanerkennung hat nur deklaratorische, nicht konstitutive Wirkung. Das ist eine Aussage, die über das Gebiet des BErzGG hinaus Gültigkeit hat. Das Asylrecht ergibt sich unmittelbar aus dem Grundgesetz und unterliegt keinem Gesetzesvorbehalt. Richtig ist damit auch, wie der 4. Senat ausgeführt hat, daß das Asylrecht nicht „teilbar” ist in eine Zeit vor und in eine Zeit nach der Anerkennung.
Allerdings ist durch das Gesetz zur Änderung des BErzGG und anderer Vorschriften vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1297) an § 1 Abs 1 BErzGG mit Wirkung vom 1. Juli 1989 (Art 8 Abs 1 des vorgenannten Änderungsgesetzes) folgender Satz 2 angefügt worden: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist, die nicht nur für einen bestimmten, seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilt worden ist.” Art 10 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts (AuslRNG) vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354) hat diese Neufassung des Satzes 2 zur Anpassung an die Neuregelung der Aufenthaltsgenehmigung (§§ 28 bis 35 AuslRNG) mit Wirkung ab 1. Januar 1991 (Art 15 Abs 2 AuslRNG) wie folgt geändert: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitze einer Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis ist. „Wie der 14. Senat des BSG im Urteil vom 24. März 1992 – 14b/4 REg 23/91 – entschieden hat, haben aufgrund der neuen Fassung des Gesetzes Asylbewerber nicht mehr rückwirkend Anspruch auf Erziehungsgeld im Falle ihrer späteren Anerkennung. Für die Frage der Erziehungszeiten hat das indessen keine Bedeutung. Die Änderung nur eines speziellen Leistungsgesetzes und nicht des § 30 Abs 1 SGB I spricht im Gegenteil dafür, daß der Gesetzgeber keine Änderungen bei anderen Leistungsgesetzen vornehmen wollte, bei denen der Aufenthalt von Ausländern im Inland ebenfalls zu Leistungsberechtigungen und Privilegierungen führt, wie zB in § 56 SGB VI. Davon, daß der Gesetzgeber die jeweils geforderte Verfestigung des Aufenthalts für die verschiedenen Ansprüche unterschiedlich umschreibt, geht auch der 14. Senat in seinem Urteil vom 24. März 1992 aus.
Im Falle der Klägerin ist auch nicht deshalb ein von den Entscheidungen des 4. Senats vom 14. September 1989 und 30. September 1991 aaO abweichendes Ergebnis gerechtfertigt, weil nicht bei der Klägerin selbst, sondern nur bei ihrem Ehemann die Voraussetzungen des Art 16 Abs 2 Satz 2 GG festgestellt worden sind. Zwar gelten nur für den, der selbst einen Anspruch auf Asyl nach Art 16 GG hat, die Gründe, die den 4. Senat veranlaßt haben, den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nicht erst ab der nachträglichen verwaltungsmäßigen Feststellung des Asylrechts anzunehmen. Hinsichtlich der Klägerin ist nicht festgestellt, daß sie selbst wegen einer Verfolgung in ihrem Heimatland aufgrund des Art 16 GG Asyl erlangen könnte. Ihre Anerkennung ist vielmehr nach § 7a Abs 3 AsylVfG aus Gründen der Familienzugehörigkeit erfolgt „Familienasyl”). Wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Urteil vom 25. Juni 1991 (9 C 48/91 in NVwZ 1992, 269) entschieden hat, wird aufgrund des § 7a Abs 3 AsylVfG eine uneingeschränkte Asylberechtigung iS des Art 16 Abs 2 Satz 2 GG erlangt. Die nach § 7a Abs 3 AsylVfG zu gewährende Rechtsstellung ist danach identisch mit der Asylberechtigung nach Art 16 Abs 2 Satz 2 GG. Daß die eine auf Verfassungsrecht, die andere auf einem einfachen Verfahrensgesetz beruht, ändert daran nichts. Auch daß nach § 7a Abs 3 AsylVfG die Rechtsstellung eines Asylberechtigten durch „Gewährung” seitens des Bundesamtes erlangt wird, während die Asylberechtigung gemäß Art 16 Abs 2 Satz 2 GG der behördlichen „Anerkennung” bedarf, spricht nach der genannten Entscheidung nicht gegen die Identität der Rechtspositionen. Schließlich führt das BVerwG mit einer den erkennenden Senat überzeugenden Begründung aus, daß auch Sinn und Zweck des § 7a Abs 3 AsylVfG die uneingeschränkte Gleichartigkeit der Rechtsstellung nach dieser Vorschrift und der Asylberechtigung nach Art 16 Abs 2 Satz 2 GG gebieten.
Da das SG somit zu Recht die Asylberechtigung der Klägerin als von Anfang an „rückwirkend”) für gegeben erachtet hat, hatte die Klägerin bereits zu der Zeit der Geburt ihrer Tochter ein gesichertes Aufenthaltsrecht und damit ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Somit steht ihr auch die begehrte Kindererziehungszeit zu.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen