Leitsatz (redaktionell)
Der Weg zur Arbeitsstelle ist unversichert, wenn er sich als Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit darstellt.
Dies gilt auch dann, wenn sich ein Unfall auf dem Teil des Rückweges ereignet, der mit dem Weg von der Familienwohnung zur Arbeitsstelle identisch ist.
Daran ändert sich auch nichts, wenn zudem noch Arbeitskollegen in dem verunglückten Pkw zur Arbeitsstelle mitgenommen werden, die sich ihrerseits auf dem unmittelbaren Weg von ihrer Familienwohnung zur Arbeitsstelle befinden.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 1966 und das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 9. Februar 1965 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall des Klägers vom 5. November 1962 ein Arbeitsunfall ist. Über die näheren Umstände dieses Unfalls enthält das von der Revision angegriffene Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 26. Januar 1966 folgende tatsächliche Feststellungen:
"Der 1914 geborene Kläger wohnte früher in D, Landkreis O. Er war Isolierklempner und Hilfspolier bei der Firma W in Kassel und arbeitete auf deren Baustelle in H bei B in Westfalen, wo sich auch seine Ehefrau seinerzeit seit etwa 1 Woche in der gemeinsamen Hotelunterkunft aufhielt. Leiter der Baustelle war der Hilfspolier K; ferner arbeiteten dort noch der Hilfspolier B sowie der Sohn des Klägers, wovon K und B in K wohnhaft waren. Am 5. November 1962 etwa um 9.00 Uhr vormittags verunglückte der Kläger als Fahrer seines eigenen Personenkraftwagens auf der Bundesstraße 7 zwischen K und H zwischen den Ortschaften O und R, Krs. W, infolge Zusammenstoßes mit einem holländischen Tankzug. Hierbei wurden der Kläger und B schwer verletzt, die Ehefrau des Klägers sowie K wurden getötet. Die Beklagte ermittelte durch Befragen des Arbeitgebers des Klägers, daß der Kläger bereits am Freitag, den 2. November 1962 mit denselben Insassen in seinem PKW von H nach K gefahren war, wo er die beiden dort wohnhaften Kollegen absetzte und sie - nach Besuch seiner in S bei B wohnhaften Tochter über das Wochenende - am Montag, den 5. November 1962 morgens verabredungsgemäß wieder aufnahm. Ferner ergab eine Befragung des Hilfspoliers B, daß er und K sonst mit der Bahn zur Arbeitsstätte nach H gefahren waren. Sie seien seinerzeit nur deswegen mit dem Kläger gefahren, weil dieser die genannte Fahrt zu seiner Tochter beabsichtigte und sich hierdurch eine Mitfahrergelegenheit nach Kassel ergab."
Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 7. Juni 1963 die begehrte Unfallentschädigung, weil der Kläger seine Arbeitskollegen auf einer privaten Zwecken dienenden Fahrt aus Gefälligkeit mitgenommen und somit im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er wäre, gleichgültig, ob das Ziel seiner Reise S oder seine Wohnung in D gewesen wäre, auf jeden Fall über K gefahren; deshalb habe er natürlich seine beiden Arbeitskollegen dorthin mitgenommen.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt hat durch Urteil vom 9. Februar 1965 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, den Unfall des Klägers als Arbeitsunfall zu entschädigen. Das SG ist der Auffassung, daß, obwohl der Kläger zur Arbeit gefahren sei, deshalb Versicherungsschutz nicht bestehe, weil es sich um die Rückfahrt von einer zu privaten Zwecken unternommenen Besuchsfahrt gehandelt habe. Ein innerer Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit sei aber dadurch hergestellt worden, daß der Kläger seine in Kassel wohnhaften Arbeitskollegen mitgenommen habe; denn auf diese Weise hätten diese Gelegenheit gehabt, zusätzlich zu den ihnen tarifvertraglich alle sechs Wochen zustehenden Familienheimfahrten nach Hause zu kommen, und seien sie am Montag früh angesichts der ungünstigen Bahnverbindungen eher zur Arbeitsstätte gelangt.
Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Das Urteil des Erstgerichts sei im Ergebnis zutreffend. Der Verkehrsunfall habe sich an einem Punkt der Wegstrecke ereignet, die der Kläger auch berührt hätte, wenn er nicht zu seiner Tochter, sondern nach Hause gefahren wäre. In diesem Fall hätte Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - RVO aF -) bestanden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF (BSG 22, 60 = Breith. 1965, 727) müsse ein Weg zur Arbeit nicht unbedingt von der Wohnung aus angetreten werden. Dieser Grundsatz müsse auch für die sogenannte Familienheimfahrt nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF gelten. Die Wegstrecke von der Arbeitsstätte zum Wohnort der Tochter sei sogar eher kürzer als die Entfernung zur Familienwohnung. Es komme hinzu, daß der Kläger auf einem Teil des Weges seine Arbeitskollegen zur Arbeitsstätte mitgenommen habe. Die Fahrt über K stelle zwar nicht die kürzeste Verbindung zwischen der Arbeitsstätte und der Familienwohnung in Dietzenbach dar. Es handele sich aber um einen unbedeutenden Umweg, der dadurch gerechtfertigt sei, daß der Kläger die Autobahn habe benutzen können. Einer besonderen betrieblichen Beziehung der Mitnahme von Arbeitskollegen zur Arbeitsstätte bedürfe es deshalb im vorliegenden Fall nicht. Ebensowenig sei entscheidend, ob den in K wohnhaften Arbeitskollegen des Klägers habe zugemutet werden können, mit der Bahn zu fahren; sie hätten um 6.25 Uhr in Kassel abfahren sowie unterwegs umsteigen müssen und wären um 8.34 Uhr am Arbeitsort angekommen. Ein innerer Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit sei ferner dadurch begründet worden, daß der Kläger, weil er seine Arbeitskollegen zur Arbeitsstätte mitgenommen habe, unter mehreren etwa gleichwertigen Wegen gerade den unfallbringenden Weg gewählt und auf diesem einen Schaden erlitten habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:
Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes könne eine private Besuchsfahrt an einen anderen Ort als den, in dem sich die Familienwohnung befinde, nicht zu einer unfallgeschützten Familienheimfahrt werden. Versicherungsschutz sei auch nicht deshalb gegeben, weil der Kläger Arbeitskollegen mitgenommen habe; besondere Umstände, welche auf ein betriebliches Interesse hindeuteten, habe das Berufungsgericht nicht festgestellt.
Der Kläger hält die Entscheidungen der Vorinstanzen im Ergebnis für zutreffend. Der Umweg über K sei unbedeutend, er sei sachgerecht und mit dem versicherten Zweck vereinbar gewesen. Es sei ohne rechtliche Bedeutung, daß er - der Kläger - nicht nach Hause gefahren sei, sondern seine Tochter besucht habe, denn der Unfall hätte sich in jedem Falle ebenso ereignet.
Die Beklagte beantragt,
die Entscheidungen des LSG sowie des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.
Die Revision ist begründet.
Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß der Kläger nicht auf einer sogenannten Familienheimfahrt im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF verunglückt ist. Der Kläger hatte wohl im Zeitpunkt des Unfalls in der Nähe seiner von seinem Familienwohnort mehrere hundert km entfernten Arbeitsstätte eine Unterkunft. Er wollte an dem fraglichen Wochenende aber nicht nach Hause fahren, sondern zusammen mit seiner Ehefrau seine in entgegengesetzter Richtung wohnende Tochter besuchen. Dafür, daß die Wohnung der Tochter damals die Familienwohnung im Sinne von § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF gewesen ist (vgl. BSG 1, 171, 173), ergibt sich mangels entsprechender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts kein Anhalt.
Diese Vorschrift kann nicht ausdehnend in der Weise ausgelegt werden, wie das LSG meint. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF entfällt der Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen allerdings nicht, wenn der Weg zur Arbeitsstätte von einer anderen Stelle als der eigenen Wohnung aus angetreten wird (BSG 22, 60). Obwohl in der Regel Ausgangs- und Endpunkt des Weges zur und von der Arbeitsstätte der häusliche Wirkungskreis sein wird, hat der Senat dies u. a. damit begründet, daß zwar die Arbeitsstätte, nicht aber der andere Endpunkt des nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF versicherten Weges gesetzlich bestimmt ist. Anders verhält es sich jedoch bei § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF. Hier hat der Gesetzgeber drei Punkte des Weges als rechtlich wesentlich festgelegt: die Arbeitsstätte, die Unterkunft und die Familienwohnung (siehe auch das Urteil des erkennenden Senats vom 27. Oktober 1965 - Breith. 1966, 383, 385 unten ff). Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (BSG 1, 171, 173), einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF hinausgeht und es ermöglicht, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt weitgehend unberücksichtigt zu lassen. Die Anwendbarkeit des Satzes 2 hängt jedoch davon ab, daß es sich bei dem Ausgangspunkt der Rückfahrt um die "Familienwohnung" handelt. Dies ist hier jedoch nicht der Fall gewesen. Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF ist somit nicht gegeben. Der Umstand, daß der Kläger sowohl auf der Fahrt zu seiner Tochter als auch zu seiner Familienwohnung teilweise dieselbe Wegstrecke zurückzulegen hatte, genügt für sich allein nicht, um den Versicherungsschutz zu begründen.
Die private Besuchsfahrt zur Tochter ist, wie auch das LSG nicht verkennt, dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen. Dies gilt ebenfalls für die Rückfahrt, obwohl an deren Ende mit der Aufnahme der Arbeit begonnen werden sollte. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats steht ein Weg, dessen Ziel die Arbeitsstätte ist, nicht unter Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF, wenn es sich um den Rückweg von einer Verrichtung handelt, die mit der versicherten Tätigkeit nicht in rechtlich wesentlichem Zusammenhang steht (BSG 1, 171, 172; 8, 53, 55).
Daran ändert auch nichts der Umstand, daß der Kläger auf der Hinfahrt Arbeitskollegen mitgenommen, diese in ihrem an der Wegstrecke liegenden Wohnort abgesetzt und sie auf der Rückfahrt wieder zur Arbeitsstätte befördert hat. Dies ist, wie sich aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG ergibt, seitens des Klägers unter Ausnutzung einer aus privatem Anlaß sich bietenden Gelegenheit aus Gefälligkeit gegenüber Arbeitskollegen geschehen und nicht etwa aus betrieblichen Gründen. Ob, wie das SG meint, ein betriebliches Interesse zu bejahen ist, weil die Arbeitskollegen des Klägers auf diese Weise eher zur Arbeitsstätte gelangt wären als bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und damit ein früherer Arbeitsbeginn möglich gewesen wäre, kann nach der Sachlage dahingestellt bleiben. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wären sie mit der Bahn um 8.34 Uhr am Arbeitsort angelangt; der Unfall hat sich dagegen erst eine halbe Stunde später noch in geraumer Entfernung von der Arbeitsstätte ereignet.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren deshalb aufzuheben. Die Klage war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen