Orientierungssatz
Wenn das Berufungsgericht auf Grund der Überzeugung, die es aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat, sich zu weiteren Ermittlungen nicht genötigt sieht, so überschreitet es nicht die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung, wenn es keine weiteren Beweise erhebt.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, §§ 128, 103
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.07.1954) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Juli 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger, der am 28. Dezember 1939 das 65. Lebensjahr vollendet hatte, beantragte im Jahre 1951 kurz vor Vollendung seines 77. Lebensjahres die Gewährung der Altersrente aus der Invalidenversicherung. Er hatte für die Zeit vom Jahre 1891 bis 1909 783 und von 1925 bis 1929 189 Wochenbeiträge entrichtet und während des ersten Weltkrieges 95 Wochen Kriegsdienst geleistet. Vom 1. Oktober 1942 an bezieht er als Oberweichenwärter der ehemaligen Reichsbahn Pension. Der von der beklagten Landesversicherungsanstalt gehörte ärztliche Sachverständige Dr. E., der den Kläger am 14. Januar 1952 untersuchte, stellte eine praktische Erblindung des rechten Auges, chronische deformierte Gelenkentzündung, besonders in der rechten Hüfte, mit starker Behinderung der Funktion sowie arteriosklerotische Veränderungen fest. Er war der Auffassung, daß der Kläger, der angegeben hatte, das Gelenkleiden bestehe seit etwa zwei Jahren, seit 1. Januar 1950 um mehr als 50 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei, führte jedoch an, daß er den Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität nicht eindeutig bestimmen könne. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 30. April 1952 ab, weil die Anwartschaft des Klägers bei Eintritt des Versicherungsfalls der Vollendung des 65. Lebensjahres aus den bis zum 31. Dezember 1929 entrichteten Beiträgen erloschen sei, die Anwartschaft auch durch die Halbdeckung nicht als erhalten gelte und mit den seit 1. Januar 1924 nachgewiesenen 189 Beiträgen keine neue Wartezeit erfüllt sei. Die Beklagte nahm unter Berücksichtigung der gutachtlichen Äußerung ihres Medizinalreferenten Dr. M. an, daß der Kläger seit November 1951 invalide sei.
Das Oberversicherungsamt Würzburg wies die vom Kläger gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung mit der Begründung zurück, daß nach der grundsätzlichen Entscheidung des Bayerischen Landesversicherungsamts Nr. 65 (Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1952 Teil B S. 49) auch dann kein Anspruch auf Rente bestehe, wenn die Invalidität des Klägers erst im Jahre 1949 oder später eingetreten sei. Der vom Oberversicherungsamt gehörte ärztliche Sachverständige Dr. S. war der Auffassung, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers schon vor dem 1. Januar 1950 weit über 50 v.H. betragen habe.
Die vom Kläger gegen das Urteil des Oberversicherungsamts beim Bayerischen Landesversicherungsamt eingelegte Revision ging als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht über (§ 215 Abs. 3), das die Berufung zurückwies: Die grundsätzliche Entscheidung des Bayerischen Landesversicherungsamts Nr. 65, nach der ein Versicherter, der vor dem 1. Januar 1949 das 65. Lebensjahr vollendet hatte, ohne damals die anwartschaftsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung zu erfüllen, auch dann keinen Anspruch auf Invalidenrente nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) habe, wenn er erst nach dem 31. Dezember 1948 invalide geworden ist, könne außer Betracht bleiben. Der Kläger sei, wie sich insbesondere aus dem Inhalt seiner bei der zuständigen Eisenbahndirektion geführten Personalakten ergebe, bereits seit dem Jahre 1942 invalide. Deshalb könne weder § 4 Abs. 2 SVAG noch Art. 19 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (VereinfVO) vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41) angewendet werden. Im Jahre 1942 sei die Anwartschaft des Klägers aus den bis zum 31. Dezember 1923 entrichteten Beiträgen erloschen gewesen, weil der Kläger nach dem Jahre 1929 keinen Beitrag mehr geleistet habe. Durch die seit dem 1. Januar 1924 entrichteten 189 Beiträge, aus denen die Anwartschaft nach § 3 des Gesetzes über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 24. Juli 1941 (RGBl. I S.443) als erhalten gelte, werde die gesetzliche Wartezeit von 260 Beitragswochen nicht erfüllt.
Der Kläger hat gegen das Urteil Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen. In der mündlichen Verhandlung hat er in erster Linie beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihm vom Antragsmonat an Invalidenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Zur Begründung machte er geltend, das Verfahren leide an wesentlichen Mängeln, da das Landessozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten habe. Wegen seines Vorbringens im einzelnen wird auf die Schriftsätze vom 28. Oktober 1954 und 10. Mai 1955 verwiesen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil zu zutreffend.
II.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Das Landessozialgericht hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie könnte daher, da ein Fall des § 162 Abs. 1 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hier ausscheidet, nur statthaft sein, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Einen solchen Mangel hat der Kläger jedoch nicht schlüssig vorgebracht.
Die Frage, ob das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet, ist vom sachlich rechtlichen Standpunkt des Landessozialgerichts aus zu beurteilen (BSG. 2, 84). Die verfahrensrechtlichen Angriffe des Klägers richten sich gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, die Invalidität sei bereits im Jahre 1942 eingetreten. Diese Feststellung beruht auf der Erwägung, daß der Kläger zum 30. September 1942 kurz vor Vollendung seines 68. Lebensjahres als Oberweichenwärter in den Ruhestand versetzt wurde, nachdem er von Reichsbahnarzt Dr. S. am 25. August 1942 als dienstunfähig beurteilt worden war. Die Behauptung des Klägers, die Pensionierung sei von ihm selbst veranlaßt worden, der Bahnarzt habe die Dienstunfähigkeit mehr aus Gefälligkeit als auf Grund des tatsächlichen objektiven Befundes bescheinigt, hat das Landessozialgericht als nicht erwiesen angesehen. Es ist hierbei davon ausgegangen, daß der Kläger nach dem in seinen Personalakten befindlichen Krankenblatt am 15. August 1942 bei Dr. S. wegen rheumatischer Beschwerden in Behandlung getreten war; da dieser Arzt das voraussichtliche Ende der Krankheit nicht hätte angeben können, habe die Dienststelle ihn durch den Reichsbahnarzt Dr. S. untersuchen lassen, der eine "Schwäche am rechten Knie" festgestellt und den Wiedereintritt von Arbeitsfähigkeit nicht als wahrscheinlich bezeichnet habe. Das Landessozialgericht hat bei der Beurteilung des Vorbringens des Klägers hervorgehoben, daß im Jahre 1942 bereits ein fühlbarer Mangel an Arbeitskräften bestanden habe und daß auf Grund der Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet des Beamtenrechts vom 1. September 1939 (RGBl. I S. 1603) sogar Ruhestandsbeamte bis zum vollendeten 70. Lebensjahr herangezogen worden seien, so daß davon ausgegangen werden könne, daß die Vertrauensärzte der Reichsbahn Bedienstete nicht leichtfertig oder aus Gefälligkeit dienstunfähig geschrieben und damit der Bahn unbedingt notwendige Kräfte entzogen hätten. Das Berufungsgericht hat hierbei ferner gewürdigt, daß der Kläger in einem an die Bundesbahnversicherungsanstalt Rosenheim gerichteten Schreiben vom 28. August 1950 von einer im Jahre 1941 erlittenen schweren Unfallverletzung am rechten Knie gesprochen habe, deren Folgen im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden seien, während er in seiner Erklärung vom 19. März 1954 den zur Dienstunfähigkeit führenden Zustand so dargestellt habe, als ob es sich nur um eine zwischenzeitliche Erkrankung gehandelt habe.
Gegen diese Würdigung des Sachverhalts, die sich auf die dem Berufungsgericht vorliegenden ärztlichen Gutachten, den Inhalt seiner von der Reichsbahn geführten Personalakten und die eigenen Angaben des Klägers stützt, bestehen rechtlich keine Bedenken. Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die von dem Vorbringen des Klägers abweichende Beurteilung des Zeitpunktes des Eintritts der Invalidität ist nicht zu beanstanden. Das Landessozialgericht hat nicht verkannt, daß die Begriffe Dienstunfähigkeit im beamtenrechtlichen Sinne und Invalidität im Sinne des § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht gleichzusetzen sind. Es hat auf diesen Unterschied in den Urteilsgründen vielmehr ausdrücklich hingewiesen, ist aber auf Grund der Tatsache, daß der Kläger im Jahre 1942 für die Tätigkeit eines Weichenwärters als dienstunfähig angesehen worden sei, daß es sich ferner um eine Tätigkeit gehandelt habe, die keinen besonderen körperlichen Einsatz erfordere und als Beschäftigung leichterer Art anzusprechen sei, zu der Überzeugung gelangt, daß der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch durch andere ihm noch zumutbare Arbeiten das damals maßgebende gesetzliche Lohndrittel nicht hätte verdienen können. Wenn das Vordergericht hierbei weiter die fortschreitende Tendenz des Krankheitsbildes gewürdigt und aus der Tatsache, daß nach dem ärztlichen Befund im Jahre 1952 der Zustand der unteren Extremitäten, der Hüftgelenke und der Wirbelsäule so erheblich war, daß der Kläger sich nur mehr mit Hilfe von zwei Stöcken fortbewegen konnte, den Schluß gezogen hat, daß der Kläger schon seit dem Jahre 1942 als invalide anzusehen sei, so widerspricht diese Beurteilung keineswegs allgemeinen Erfahrungsgrundsätzen, zumal der Kläger - worauf das Berufungsgericht hinweist - bei seiner Versetzung in den Ruhestand bereits in einem Alter stand, in dem die allgemeinen Aufbraucherscheinungen erfahrungsgemäß ein solches Ausmaß erreichen, daß die Annahme von Invalidität häufig nahe liegt.
In Anbetracht der besonderen Umstände des Falles war das Berufungsgericht, dem die Personalakten des Klägers mit den Krankenblättern aus dem Jahre 1942 zur Verfügung standen, auch nicht genötigt, von Amts wegen weitere Ermittlungen anzustellen. Nach § 103 SGG ist das Gericht an das Vorbringen und die Beweisanträge der Parteien nicht gebunden. Die Unterlassung einer nochmaligen Anhörung der Ärzte, die ausweislich der Personalakten im Jahre 1942 den Gesundheitszustand des Klägers beurteilt hatten, kann unter den gegebenen Umständen nicht als Verletzung der Aufklärungspflicht angesehen werden. Ebensowenig kann dem Berufungsgericht der Vorwurf gemacht werden, daß es zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts über den Umfang der vom Kläger in seinem landwirtschaftlichen Anwesen in den Jahren 1942 bis 1949 verrichteten Arbeiten und seinem gesundheitlichen Zustand in diesen Jahren noch weitere Beweise hätte erheben müssen. Wenn das Landessozialgericht der Behauptung des Klägers, die am 11. Juni 1942 von Dr. W. festgestellte deformierenden gelenkarthrotischen Erscheinungen am rechten Knie seien nur geringfügiger Art gewesen, der Reichsbahnarzt Dr. Schmidt habe am 21. August 1942 den Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nur auf seinen Wunsch als unwahrscheinlich bescheinigt, im Hinblick auf den Inhalt der Personalakten unter Berücksichtigung des Alters des Klägers und des damaligen Personalmangels bei der Reichsbahn keine entscheidende Bedeutung beigelegt und in Anbetracht der weiteren Entwicklung des Leidens das Gegenteil als erwiesen angesehen hat, so hat es die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht überschritten, denn es war auf Grund der Überzeugung, die es aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hatte, zu weiteren Ermittlungen nicht genötigt. Nach dem eigenen Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz und dem in der Verhandlungsniederschrift vom 6. Juli 1954 niedergelegten Vorbringen seines damaligen Prozeßbevollmächtigten sowie der von ihm vorgelegten Erklärung des A. G. vom 19. März 1954 besaß der Kläger ein landwirtschaftliches Anwesen von einem Hektar, während die nachträglich in der Revisionsinstanz aufgestellte Behauptung der Bewirtschaftung weiteren Pachtlandes in der Größe von drei Hektar nach dem Inhalt der Akten keine Stütze findet. Wenn das Landessozialgericht der Mitarbeit des Klägers in diesem kleinen Eigenbetriebe, bei dessen Bewirtschaftung nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Beklagten laut der gleichen Verhandlungsniederschrift noch seine Frau und Tochter geholfen haben, keine maßgebende Bedeutung für die Beurteilung seiner Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beigelegt und deshalb in dieser Richtung keine weiteren Beweise erhoben hat, so bestehen auch hiergegen keine verfahrensrechtlichen Bedenken.
Die Revision war nach alledem als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen