Entscheidungsstichwort (Thema)

Kreisleiter in Brünn. Auslieferung an die Tschechen. Hinrichtung

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Auslieferung eines Kreisleiters an die Tschechoslowakei durch die amerikanische Besatzungsmacht und seine Verurteilung zum Tode und Hinrichtung ist jedenfalls dann eine Schädigung iS des Versorgungsrechts, wenn der Betreffende sich überhaupt keiner Straftaten schuldig gemacht hat oder mit einer Strafe belegt ist, die nicht in angemessenem Verhältnis zu dem Unrechtsgehalt seiner Tat steht, oder wenn er einem Verfahren unterworfen wurde, das nicht in den Kulturnationen üblichen Rechtsgarantien für einen Angeklagten entspricht.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. April 1958 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Ehemann der Klägerin, K..., war seit 1934 hauptamtlicher Kreisleiter der Sudetendeutschen Partei und später der NSDAP in B... Er wurde nach dem Zusammenbruch von den Amerikanern festgenommen und an die Tschechoslowakei ausgeliefert. Dort wurde er am 13. Februar 1947 durch ein Sondervolksgericht wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und am gleichen Tage durch Erhängen hingerichtet. Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) durch Bescheid vom 9. Juni 1954 ab, weil der Tod keine Schädigungsfolge nach dem BVG sei; der Widerruf wurde am 28. August 1954 zurückgewiesen. Während das Sozialgericht die Klage abwies, verurteilte das Landessozialgericht (LSG) am 10. April 1958 den Beklagten, durch einen neuen Bescheid der Klägerin Witwenrente seit dem 1. Oktober 1951 zu gewähren. Zur Begründung führte es aus, der Ehemann der Klägerin sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht wegen seiner nationalsozialistischen Betätigung oder Belastung oder wegen strafbarer Handlungen aus der Zeit seiner Tätigkeit als Kreisleiter ausgeliefert worden, wie sich aus der Aussage des Zeugen K. ergebe. Es lägen auch keine Gründe vor, die eine Einstufung als Hauptschuldiger im Sinne der Befreiungsgesetze hätten rechtfertigen können. Die Auslieferung durch die Besatzungsmacht sei daher ein schädigender Vorgang, durch den die Anklageerhebung, Verurteilung und Hinrichtung erst ermöglicht worden sei. Hinzukomme, daß die Verurteilung von Deutschen in der Tschechoslowakei in den Jahren 1945 bis 1949 auf Grund des Retributionsdekrets vom 19. Juni 1945 erfolgt sei, eines strafrechtlichen Sondergesetzes mit rückwirkender Strafandrohung. Dabei seien die verfahrensrechtlich in allen Kulturstaaten allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze nicht gewahrt gewesen. Wenn auch eine gewisse Möglichkeit bestehe, daß der Ehemann der Klägerin wegen seiner Betätigung als Kreisleiter verurteilt worden sei, so liege es doch näher, daß die Gründe zur Verurteilung, nämlich Landesverrat an der Tschechoslowakei im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1938 und 1939 (weil er als tschechoslowakischer Offizier sich den deutschen Truppen nicht widersetzt habe), nur vorgeschoben worden seien. Denn der Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei sei in Ausübung eines völkerrechtlichen Vertrages erfolgt, nämlich des Münchener Abkommens vom 29. September 1938. Das LSG ließ die Revision zu.

Der Beklagte legte gegen das am 30. April 1958 zugestellte Urteil am 24. Mai 1958 Revision ein und begründete das Rechtsmittel im gleichen Schriftsatz.

Er trägt vor, das LSG habe unterstellt, daß Karl F... in amerikanischer Gefangenschaft gewesen sei. Dies widerspreche aber den wiederholten Angaben der Klägerin, wonach ihr Ehemann in amerikanischer Internierung gewesen sei. Die Internierung beruhe auf seiner Eigenschaft als Kreisleiter der NSDAP. Als solcher sei er nach den Befreiungsvorschriften als Hauptschuldiger anzusehen. Eine Internierung durch die Besatzungsmacht sei aber dann nicht auf eine mit der militärischen Besetzung zusammenhängende Gefahr zurückzuführen, wenn die Internierung ihren Grund in der früheren nationalsozialistischen Betätigung gehabt habe und der Betreffende in die Gruppe der Hauptschuldigen einzureihen sei. Bei Personen, gegen die kein Verfahren vor der Spruchkammer durchgeführt worden sei, komme nur die automatische Einreihung als Hauptschuldige in Frage. Das LSG habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt, weil es nicht den Zeugen Hübner darüber gehört habe, ob die Angaben der Klägerin über die Auslieferung ihres Ehemannes an die Tschechen zutreffend seien. Es sei auch nicht geklärt, aus welchen Gründen er zum Tode verurteilt worden sei; das LSG habe nicht das Retributionsdekret von 1945 beigezogen, um daraus festzustellen, welche Tatbestände zum Todesurteil führen konnten. Es sei nicht wahrscheinlich, daß Tatbestände unter Todesstrafe gestellt worden seien, die mit den Ereignissen von 1938/39 im Zusammenhang gestanden hätten. Schließlich widerspreche die Annahme des LSG, der Ehemann der Klägerin sei nicht in seiner Eigenschaft als Kreisleiter verurteilt worden, allgemeinen Erfahrungssätzen. Das Amt des Kreisleiters habe eine so aktive Betätigung im nationalsozialistischen Sinne mit sich gebracht, daß vom Standpunkt der Tschechoslowakei aus es unumgänglich gewesen sei, den Ehemann der Klägerin zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 10. April 1959 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Fulda vom 6. Juli 1955 zurückzuweisen,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet, weil nicht genügend geklärt ist, ob die Auslieferung des Ehemanns der Klägerin an die Tschechoslowakei und seine Hinrichtung schädigende Vorgänge im Sinne des § 5 Abs. 1 d BVG sind, die die Zubilligung der Hinterbliebenenrente rechtfertigen.

Nach § 38 BVG hat die Witwe Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn ein Beschädigter an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Dabei gelten gemäß § 5 Abs. 1 d BVG als unmittelbare Kriegseinwirkungen schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutschen Gebietes oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Es kann für die Entscheidung dahinstehen, ob der Ehemann der Klägerin in amerikanischer Kriegsgefangenschaft oder in Internierung war. Denn die Auslieferung an die Tschechoslowakei mit den sich daraus ergebenden Folgen kann in beiden Fällen ein schädigender Vorgang sein. Zwar durfte der Ehemann der Klägerin als Deutscher nicht an das Ausland ausgeliefert werden, wie sich aus § 1 des Deutschen Auslieferungsgesetzes vom 23. Dezember 1929 (RGBl I 239) ergibt (vgl. auch Art. 16 Abs. 2 des damals noch nicht geltenden Grundgesetzes). Jedoch kann allein aus einem Verstoß hiergegen zu Gunsten der Klägerin nichts hergeleitet werden, weil im Jahre 1947 die Besatzungsmächte die oberste Gewalt in Deutschland ausübten und sich bei ihren Maßnahmen nicht an deutsche Gesetze zu halten brauchten. Die Auslieferung kann aber aus anderen Gründen ein schädigender Vorgang sein. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits in BSG 4, 234 ausgesprochen, ein schädigender Vorgang müsse, um versorgungsrechtlich erheblich zu sein, einer Gefahr entsprungen sein, die der militärischen Besetzung deutschen Gebietes im zweiten Weltkrieg unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und örtlichen Besonderheiten eigentümlich war. Eine mit der Besetzung zwar zusammenhängende Gefahr, aber nicht eine besondere, d.h. besetzungseigentümliche Gefahr, könne in einer Maßnahme liegen, die der Aufrechterhaltung der Ordnung in Deutschland und der Verwaltung des Landes diente und etwa in derselben Art auch von einer unabhängigen deutschen Verwaltung getroffen worden wäre. Das könnte zB auf den Fall zutreffen, daß ein Deutscher wegen einer Straftat, die auch nach deutschem Recht die Bestrafung nach sich ziehe, verhaftet werde und nach seiner Verurteilung in einem gerichtlichen Verfahren eine Freiheitsstrafe verbüßen müsse. Eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Bewohner des besetzten Gebietes sei dann der militärischen Besetzung eigentümlich, wenn sie mit Maßnahmen zusammenhänge, die von den Besatzungsmächten als den tatsächlichen Inhabern der Staatsgewalt zur Aufrechterhaltung lediglich ihrer Macht oder zur Erreichung ihrer Ziele der Okkupation unter Anwendung oder Androhung militärischer Machtmittel getroffen worden seien. Demgemäß hat das BSG in diesem Urteil entschieden, daß eine Internierung wegen früherer nationalsozialistischer Betätigung auf Anordnung der Besatzungsmächte jedenfalls dann als ein schädigender Vorgang anzusehen sei, wenn der Internierte politisch geringer belastet war als ein Hauptschuldiger oder Belasteter im Sinne der Befreiungsgesetze.

Der Senat schließt sich dem Gedankengang dieses Urteils an. Hiernach sind Maßnahmen der Besatzungsmächte dann keine schädigenden Vorgänge, wenn sie auch nach deutschem oder internationalem Recht gerechtfertigt wären, wenn also der Betreffende durch diese Maßnahmen, nämlich die Auslieferung und Verurteilung, einer gerechten Strafe für sein Verhalten zugeführt worden wäre. Umgekehrt ist die Auslieferung jedenfalls dann eine Schädigung, wenn der Betreffende sich überhaupt keiner Straftaten schuldig gemacht hat oder mit einer Strafe belegt worden ist, die nicht in angemessenem Verhältnis zu dem Unrechtsgehalt seiner Tat steht, oder wenn er einem Verfahren unterworfen war, das nicht den in den Kulturnationen üblichen Rechtsgarantien für einen Angeklagten entspricht. Ob der Ehemann der Klägerin als Hauptschuldiger oder Belasteter oder dergleichen nach den Befreiungsgesetzen anzusehen war, ist hier nicht entscheidend. Abgesehen davon, daß es nicht auf die förmliche, sondern auf die tatsächliche Belastung ankommt, und zwar auch bei Personen, gegen die kein Spruchkammerverfahren durchgeführt wurde, spielt diese Belastung bei einem Strafverfahren, das sich an die Auslieferung anschloß, keine Rolle, da der Ehemann der Klägerin gegebenenfalls nur den sich aus den Befreiungsgesetzen ergebenden Sühnemaßnahmen unterworfen gewesen wäre, aber nicht mit der Todesstrafe zu rechnen gehabt hätte. Es kommt also nur darauf an, ob der Ehemann der Klägerin gegen irgendwelche Strafbestimmungen verstoßen hat und ob die ausgesprochene Strafe vertretbar war.

Wesentlich ist dabei auch, ob die Tat zur Zeit ihrer Begehung schon mit Strafe bedroht war, ob das Verhalten in objektiver und subjektiver Hinsicht den Tatbestand des Gesetzes erfüllte und, falls es sich um ein Gesetz mit Rückwirkung handelt, ob die Tat zur Zeit ihrer Begehung auch nach dem damals geltenden Recht schon strafbar und mit den gleichen Strafen bedroht war, ob also nicht rückwirkend eine Erhöhung der seinerzeit angedrohten Strafe eingeführt worden ist. Ohne Einfluß ist, ob vom tschechischen Standpunkt aus eine Verurteilung des Ehemannes der Klägerin wegen seiner Tätigkeit als Kreisleiter erfolgen mußte. Denn maßgebend ist, ob vom objektiven Standpunkt eines Strafrichters aus gesehen nach dem anzuwendenden Recht strafbare Handlungen erweislich waren und ob die ausgesprochene Strafe von diesem Standpunkt aus angemessen war. Daß die Verurteilung nach dem Retributionsdekret vom 19. Juni 1945 erfolgte, ist allein nicht entscheidend; vielmehr kommt es darauf an, ob etwaige Taten auch schon zur Zeit ihrer Begehung strafbar waren und mit den gleichen Strafen bedroht waren, wie sie das genannte Dekret aussprach. Weiter ist von Bedeutung, ob das Verfahren des Sondervolksgerichts Brünn den für die Kulturnationen üblichen Garantien für den Angeklagten entsprach, ob eine objektive Wahrheitsermittlung stattgefunden hat, ob ihm ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten zugebilligt waren und ob er tatsächlich wegen erwiesener strafbarer Handlungen und nicht lediglich aus vorgeschobenen Gründen, in Wirklichkeit hingegen als Deutscher verurteilt wurde. Das LSG hat zwar festgestellt, der Ehemann der Klägerin sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht wegen seiner nationalsozialistischen Betätigung oder Belastung oder wegen strafbarer Handlungen aus der Zeit seiner Tätigkeit als Kreisleiter ausgeliefert worden. Gegen diese Feststellungen hat der Beklagte aber durchgreifende Verfahrensrügen erhoben. Er hat mit Recht Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) gerügt, weil das LSG die näheren Umstände der Auslieferung nicht geklärt und auch nicht geprüft habe, wegen welcher Straftaten der Ehemann der Klägerin tatsächlich verurteilt wurde und auf Grund welcher Strafbestimmungen dies geschah; insbesondere habe es den Inhalt des Retributionsdekrets überhaupt nicht ermittelt. Diese Rügen sind um so mehr berechtigt, als der Zeug ..., auf den sich das LSG stützt, eigene Angaben nur über die Zeit seit 1942 machen konnte, während es sich bei der Verurteilung um Vorgänge aus den Jahren 1938 und 1939 handelt.

Die Feststellungen des LSG sind daher nicht geeignet, die Grundlage für eine abschließende Entscheidung des Senats zu bilden. Das Urteil muß deshalb aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG zu prüfen haben, ob dem Ehemann der Klägerin strafbare Handlungen nachgewiesen waren, ob das Verfahren den oben genannten Voraussetzungen entsprach, auf Grund welcher Strafbestimmungen er verurteilt wurde, ob keine Gesetze mit rückwirkenden Strafandrohungen angewandt wurden und ob die Strafe angemessen war. Wenn wirklich die Tschechen die Unterlassung des Widerstandes gegenüber dem Einmarsch der deutschen Truppen und die Zusammenarbeit mit den Deutschen als Landesverrat ansahen, so muß dabei beachtet werden, daß die Besetzung des tschechoslowakischen Gebiets auf Grund von völkerrechtlichen Verträgen erfolgte. Wenn die Tschechoslowakei diese nicht anerkannte, so darf dies dem Ehemann der Klägerin nicht zur Last gelegt werden, da er nach den ganzen Umständen an die Gültigkeit dieser Verträge glauben mußte. Zur Klärung all dieser Umstände müßte zunächst versucht werden, das Urteil und das genannte Dekret beizuziehen, evtl. weitere Zeugen darüber zu vernehmen, da sich sicherlich frühere Bewohner von B. in der Bundesrepublik befinden, die Näheres über die damaligen Vorgänge und über die Rolle, die der Ehemann der Klägerin gespielt hat, bekunden konnten. In Betracht kämen auch Auskünfte des Auswärtigen Amtes und des H... Instituts in M...

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2136313

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