Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeitserklärung der Ehe
Leitsatz (redaktionell)
Da die Witwenrente vermögensrechtliche Funktionen hat, rechtfertigt die Gleichstellung der vermögensrechtlichen Folgen in EheG § 26 Abs 1 die Gleichbehandlung der Auflösung und Nichtigkeitserklärung sowohl für das Wiederaufleben von Witwenrente als auch für die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 26 Abs. 1
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Januar 1966 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach Nichtigkeitserklärung ihrer zweiten Ehe Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes hat.
Die Klägerin, die in Berlin-Wittenau wohnte, war in erster Ehe mit dem 1943 verstorbenen B B verheiratet. Bis zum Kriegsende erhielt sie aus dessen Versicherung Witwenrente von der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA). Am 3. Juli 1945 heiratete sie in Berlin-Reinickendorf G M. Das Landgericht Berlin-Charlottenburg stellte mit Urteil vom 11. Juli 1962, rechtskräftig seit 21. August 1962, fest, daß die Ehe nichtig ist.
Die Beklagte lehnte die Gewährung der im Oktober 1962 beantragten Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes ab, weil im Zeitpunkt der Wiederheirat kein Anspruch auf Witwenrente bestanden habe (§ 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Das Sozialgericht (SG) Berlin wies die Klage ab (Urteil vom 23. Juni 1965).
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hob die Entscheidung des SG auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes zu gewähren. Revision ist zugelassen (Urteil vom 28. Januar 1966): Zwar könne ein Anspruch nur wiederaufleben, wenn er zuvor einmal bestanden habe (Hinweis auf BSG 14, 238; 16, 202; 19, 97); doch könne dieser Grundsatz nicht auf Ansprüche bei nichtigen Ehen übertragen werden. Der maßgebliche Zeitpunkt der Wiederheirat knüpfe an den Wegfall des Anspruchs bei Wiederheirat nach § 68 Abs. 1 AVG an. Bei den für nichtig erklärten Ehen fehle dieser Anknüpfungszeitpunkt, weil die Nichtigkeitserklärung den Bestand der Ehe von Anfang an beseitige.
Die Folgen der rückwirkenden Beseitigung, die andere seien als bei aufgelöster Ehe, seien aus Gründen der Einheitlichkeit auch im Sozialversicherungsrecht beachtlich (Hinweis auf BSG 10, 1). Verliere aber der Zeitpunkt der Wiederheirat bei Nichtigkeitserklärung der Ehe seine ursprüngliche Bedeutung, dann rechtfertige es sich, das Bestehen des Anspruches auf Witwenrente auf die Zeit der nichtigen Ehe abzustellen. Zur Zeit der Wiederheirat habe die Klägerin keinen Anspruch mehr gegen die RfA gehabt; ebensowenig habe gegen die Versicherungsanstalt Berlin (VAB) ein Anspruch bestanden, weil deren Satzung erst mit dem 1. Mai 1946 in Kraft getreten sei. Doch sei mit der Nichtigkeitserklärung seit April 1952 wenigstens für die Zeit bis Ende 1956 wieder das Stammrecht entstanden, das nach § 68 Abs. 2 AVG mit dem auf die Rechtskraft des Nichtigkeitsurteils folgenden Monat wieder aufgelebt sei.
Die Beklagte beantragt mit der Revision, das Urteil des LSG Berlin vom 28. Januar 1966 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Berlin vom 23. Juni 1965 zurückzuweisen. Sie rügt eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG: Im Rahmen dieser Vorschrift stehe die Nichtigkeitserklärung einer Ehe der Auflösung gleich. Beide Gründe müßten daher auch zu gleichen Rechtsfolgen für die "Witwen" führen. Sie verweist auf das Urteil des BSG vom 12. Mai 1966 (4 RJ 109/64).
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen: § 68 Abs. 2 AVG sei nur eine zeitliche Sperrvorschrift. Bei konsequenter Durchführung des Grundsatzes der ex tune-Wirkung der Nichtigkeitserklärung hätte sie einen Anspruch auf Witwenrente von dem Zeitpunkt an, zu dem nach dem Zusammenbruch 1945 erstmals wieder die Rentenvorschriften in Kraft getreten seien. Demgegenüber bestimme § 68 Abs. 2 AVG nur einen späteren Rentenbeginn.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Witwenrente nach dem ersten Ehemann, weil sie beim Eingehen der für nichtig erklärten zweiten Ehe keinen Witwenrentenanspruch verloren hat (§ 68 Abs. 2 AVG; Art. 2 § 25 AnVNG).
Hat eine Witwe sich wieder verheiratet und wird diese Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst oder für nichtig erklärt, so lebt der Anspruch auf Witwenrente vom Ablauf des Monats, in dem die Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt ist, wieder auf, wenn der Antrag spätestens zwölf Monate nach der Auflösung oder Nichtigkeitserklärung der Ehe gestellt ist (§ 68 Abs. 2 AVG). Wie das Bundessozialgericht (BSG) zu dem mit § 68 Abs. 2 AVG gleichlautenden § 1291 Abs.2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entschieden hat (Urteile vom 12.5.1966 - 4 RJ 109/64 - abgedruckt im Sozialrecht Nr. 14 zu RVO § 1291 - und 30.6.1966 - 12 RJ 298/64), werden im neuen, seit 1. Januar 1957 geltenden Recht der Rentenversicherung die Auflösung und die Nichtigkeitserklärung einer Ehe gleich behandelt. Deshalb richtet sich auch bei der Nichtigkeitserklärung der Ehe das Wiederaufleben der Witwenrente allein nach § 1291 RVO bzw. § 68 Abs. 2 AVG. Dieser Auffassung schließt sich der Senat nach eigener Prüfung der Rechtslage an.
Das LSG entnimmt § 68 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz AVG, der ausdrücklich nur einen infolge Auflösung - nicht Nichtigkeitserklärung - der neuen Ehe erworbenen Unterhaltsanspruch bezeichnet, daß auch bei § 68 Abs. 2 Satz 1, 1.Halbsatz AVG zwischen beiden Tatbeständen zu unterscheiden sei. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Der vorliegende Rechtsstreit gibt dem Senat zwar keinen unmittelbaren Anlaß, auch zu der Frage Stellung zu nehmen, ob ein aus der nichtigen Ehe erworbener neuer Unterhaltsanspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente anzurechnen ist. Der Senat neigt aber zu der Auffassung, daß auch insoweit Auflösung und Nichtigkeitserklärung der Ehe in § 68 Abs. 2 AVG einander gleichgestellt sind. Der 2. Halbsatz aaO muß trotz des scheinbar einschränkenden Wortlauts auf alle im Halbsatz 1 aaO genannten Fälle der Beseitigung der neuen Ehe angewendet werden. Ein einleuchtender Grund dafür, daß Unterhaltsansprüche aus nichtigen Ehen nicht anzurechnen wären, ist nicht zu erkennen. Dies ergibt sich aus den vermögensrechtlichen Folgen im Eherecht und im Recht der Rentenversicherung. Die Witwenrente ersetzt die Unterhaltsleistung des verstorbenen Versicherten. Die durch Eingehen einer neuen Ehe geschaffene neue unterhaltsrechtliche Lage (§§ 1360, 1360 a BGB) wird bei Nichtigkeitserklärung der Ehe nicht in jedem Fall rückwirkend als schlechthin unwirksam behandelt. Vielmehr finden auf das Verhältnis der Ehegatten in vermögensrechtlicher Beziehung die im Fall der Scheidung geltenden Vorschriften entsprechende Anwendung, wenn nur einer der Ehegatten die Nichtigkeit der Ehe bei der Eheschließung nicht gekannt hat (§ 26 Abs. 1 EheG, vorbehaltlich einer besonderen Erklärung des Ehegatten, der die Nichtigkeit nicht gekannt hat, nach § 26 Abs. 2 EheG). Da die Witwenrente vermögensrechtliche Funktion hat, rechtfertigt die Gleichstellung der vermögensrechtlichen Folgen in § 26 Abs. 1 Ehegesetz (EheG) die Gleichbehandlung der Auflösung und Nichtigkeitserklärung sowohl für das Wiederaufleben von Witwenrente als auch für die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen (ebenso Verbandskommentar, 7. Aufl., Anm. 9 zu § 1291 RVO/ § 68 AVG).
Es ist somit entscheidend, ob bei Eingehen der zweiten Ehe ein Witwenrentenanspruch der Klägerin untergegangen ist. Dies ist, wie das LSG ausgeführt hat, nicht der Fall.
Zur Zeit der Wiederheirat in Berlin am 3. Juli 1945 hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Witwenrente nach Reichsrecht. Mit der Aufsplitterung Deutschlands nach dem Zusammenbruch 1945 in mehrere Sozialversicherungssysteme sind die früheren nach Reichsrecht entstandenen Ansprüche untergegangen, wenn das am Wohnsitz herrschende neue Recht sie nicht gegen ihm angehörende Versicherungsträger fortbestehen ließ (BSG 19,97).
Das LSG Berlin hat dazu festgestellt, daß die Klägerin bei der Wiederheirat am 3. Juli 1945 keinen Anspruch auf Witwenrente nach Berliner Recht hatte. Diese Feststellung bindet das Revisionsgericht (§ 162 Abs. 2 SGG; § 562 ZPO).
Die Klägerin hatte auch nach dem Recht, das zur Zeit ihrer Wiederheirat in den einzelnen Gebieten der späteren Bundesrepublik galt, keinen Anspruch auf Witwenrente; denn die damaligen Anordnungen sahen Rentenzahlungen nur für Personen vor, die in den jeweiligen Gebieten wohnten. Nach dem Fremd- und Auslandsrentengesetzt vom 7. August 1953 konnten Rentenansprüche, abgesehen von weiteren Voraussetzungen, erst für die Zeit vom 1. April 1952 an entstehen. Zu dieser Zeit war die Klägerin nicht mehr Witwe (vgl. BSG 5, 60). Da somit im Zeitpunkt der Wiederheirat kein Anspruch der Klägerin auf Witwenrente bestand, der untergegangen wäre, konnte ein solcher nicht wiederaufleben (BSG 14, 238).
Dieses Ergebnis kann im Hinblick auf die bis 1945 bezogene und nur wegen der Kriegsauswirkungen weggefallene Witwenrente unbillig erscheinen. Doch läßt das geltende Recht einen Witwenrentenanspruch nur wiederaufleben, wenn er gerade durch die Wiederheirat weggefallen ist (vgl. BSG 14, 238).
Die Revision der Beklagten ist mithin begründet. Das Urteil des LSG Berlin ist aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Berlin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen