Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf den Unterhaltsanspruch
Leitsatz (redaktionell)
Die Einwände des angefochtenen Urteils gegen die Rechtsprechung des BSG überzeugen nicht. Der scheinbar eindeutige Wortlaut "erworbener neuer Unterhaltsanspruch" in AVG § 68 Abs 2 steht der Auslegung nicht entgegen, wenn sich bei rein wörtlicher Anwendung Folgen ergeben, die dem Sinn und Zweck der Vorschrift - vor allem im Hinblick auf die Rangfolge der Unterhaltsleistungen an die Witwe - offensichtlich zuwiderlaufen.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Mai 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte bei der Berechnung der nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wiederaufgelebten Witwenrente einen Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den geschiedenen zweiten Ehemann anrechnen darf, obwohl die Klägerin während des Scheidungsverfahrens auf Unterhalt verzichtet hat.
Die Klägerin bezog seit 1946 Witwenrente nach ihrem 1944 verstorbenen Ehemann Hans L. 1950 heiratete sie den Stadtinspektor Otto K. Die Ehe wurde aus Verschulden des Mannes mit Urteil vom 5. 4. 1963 geschieden. Im Verlauf des Scheidungsverfahrens hatte die Klägerin in einer Vereinbarung mit O. K für die Zeit von der Rechtskraft des Scheidungsurteils an auf Unterhalt verzichtet.
Die Klägerin beantragte im Juli 1963 die Gewährung von Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes. Nachdem die Beklagte das Einkommen des Otto K ermittelt hatte, erkannte sie mit Bescheid vom 16. Januar 1964 den Anspruch auf Witwenrente an, lehnte aber die Zahlung einer Rente ab, weil sie einen Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen O. K anrechnete, der den Betrag der wiederaufgelebten Witwenrente übersteige.
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg verurteilte die Beklagte, der Klägerin Witwenrente ohne Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs zu zahlen (Urteil vom 7. Juli 1964).
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück und ließ die Revision zu (Urteil vom 26. Mai 1965): die Klägerin habe keinen Unterhaltsanspruch gegen O. K erworben, denn es bestehe kein Anhalt, daß der Unterhaltsverzicht nichtig sein könnte (§ 72 Ehegesetz - EheG -). Ein Unterhaltsanspruch, der nicht erworben worden sei, könne aber auch nicht angerechnet werden. Die Fiktion der Beklagten, die Klägerin müsse sich so stellen lassen, als habe sie nicht wirksam auf Unterhalt verzichtet, widerspreche der Auffassung in BSG 18, 263 zu § 44 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF des 1. Neuordnungsgesetzes (NOG) und in BSG 22, 78 und sei gesetzeswidrig. Der Rechtsprechung in BSG 21, 279 sei nicht zu folgen; die dort gegebene Auslegung des § 68 Abs. 2 AVG mit der Fiktion eines Unterhaltsanspruches sei bei dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes "erworbener neuer ... Anspruch" nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht möglich. Wenn schon aus den Gedanken der "Mindestversorgungsgarantie" und der Vermeidung einer Doppelversorgung ein nicht realisierbarer Unterhaltsanspruch nicht anzurechnen sei (BSG 22, 78), so widerspreche die Anrechnung eines überhaupt nicht erworbenen Unterhaltsanspruches erst recht dem Sinn und Zweck des § 68 AVG. Das rechtspolitische Ziel, daß nicht zu Lasten der Versichertengemeinschaft leichtfertig auf Unterhaltsansprüche verzichtet werden könne, lasse sich nur durch eine gesetzliche Neuregelung erreichen.
Die Beklagte beantragt mit der Revision, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid abzuweisen. Sie rügt eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG. Mit Rücksicht auf die Subsidiarität der wiederaufgelebten Witwenrente gegenüber dem neuen Unterhaltsanspruch, aus dem die Witwe ihre Mindestversorgung in erster Linie bestreiten solle, sei es nicht zulässig, daß sie selbst eine Versorgungslücke schaffe und die vom Gesetzgeber vorgesehene Rangfolge der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche umstoße. § 44 Abs. 5 BVG und § 615 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF könnten nicht ohne weiteres auf den Fall übertragen werden, daß die Witwe durch einen Verzicht vor der Scheidung das Entstehen eines Unterhaltsanspruches überhaupt verhindere. Der Verzicht werde nicht selten mit der Übernahme der Schuld an der Scheidung durch den Ehemann verquickt. Damit würde nicht nur eine Voraussetzung des Wiederauflebens der Witwenrente geschaffen, sondern auch noch die Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs verhindert. § 72 EheG gebe keine Rechte auf Kosten der Allgemeinheit (BGHZ 20, 127, 134).
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verweist auf die ähnliche Rechtslage in § 44 Abs. 5 Satz 2 BVG idF des 2. NOG und § 615 Abs. 2 RVO nF. Der Versicherungsträger werde gegen dolose Praktiken geschützt, wenn nur ein "verständiger Grund" für den Verzicht berücksichtigt werden dürfe.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Klägerin kann nicht verlangen, daß die Beklagte die im Ehescheidungsrechtsstreit getroffene Abmachung der Klägerin mit dem zweiten Ehemann auch gegen sich gelten läßt und der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente ohne Anrechnung eines Unterhaltsanspruches gewährt. Nach § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente ein von der Witwe infolge Auflösung der zweiten Ehe erworbener neuer Unterhaltsanspruch anzurechnen. Die Rechtsprechung hat sich schon wiederholt mit der Frage befaßt, in welcher Weise der Anspruch auf Zahlung der wiederaufgelebten Witwenrente davon berührt wird, daß die Witwe vor Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils ihrem zweiten Ehemann gegenüber auf den Unterhaltsanspruch verzichtet hat. Sie ist dabei von der Erwägung ausgegangen, daß zwischen den von der Witwe infolge Auflösung der Ehe neu erworbenen Ansprüchen und der wiederaufgelebten Witwenrente eine bestimmte Rangfolge besteht, nach der die Witwenrente gegenüber dem Unterhaltsanspruch aus der zweiten Ehe subsidiär ist. Die vom Gesetz mit dem Wiederaufleben der Witwenrente beabsichtigte Gewährleistung einer "Mindestversorgung" der Witwe soll in der Weise verwirklicht werden, daß hierfür in erster Linie die infolge der Ehescheidung neu erworbenen Ansprüche herangezogen werden; erst wenn die Versorgung hieraus hinter der Versorgung aus der ersten Ehe zurückbleibt, soll die wiederaufgelebte Witwenrente die entstandene Versorgungslücke füllen (vgl. BSG 19, 153). Nach dieser Zweckbestimmung erscheint es gerechtfertigt, daß auf die wiederaufgelebte Witwenrente auch ein solcher "Unterhaltsanspruch" anzurechnen ist, der wegen des Verzichts der Witwe zwar nicht erworben wurde, ohne den Verzicht aber erworben worden wäre (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 30.8.1966 - 1 RA 341/63 - und vom 30.6.1966 - 4 RJ 471/64 - sowie BSG 21, 279).
Die Einwände des angefochtenen Urteils gegen diese Rechtsprechung überzeugen nicht.
Der scheinbar eindeutige Wortlaut "erworbener neuer Unterhaltsanspruch" in § 68 Abs. 2 AVG steht der Auslegung nicht entgegen, wenn sich bei rein wörtlicher Anwendung Folgen ergeben, die dem Sinn und Zweck der Vorschrift - vor allem im Hinblick auf die Rangfolge der Unterhaltsleistungen an die Witwe - offensichtlich zuwiderlaufen.
Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist zwingendes Recht. Die Voraussetzungen von Ansprüchen und deren Höhe sind gesetzlich festgelegt. Der Versicherte kann sie nur ausnahmsweise durch besonders zugelassene Gestaltungsmöglichkeiten beeinflussen (zB § 25 Abs. 2, 3 und 7, § 31 Abs. 2 AVG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes). Zwingend ist auch die Rangfolge der Unterhaltsleistungen an die Witwe bei wiederaufgelebter Witwenrente (BSG 19, 153).
Diese Grundsätze des zwingenden Rechts in der Rentenversicherung sind auch zu beachten, wenn die Höhe der Rente von Voraussetzungen abhängt, die anderen Gesetzen entnommen sind. Deshalb ist bei der Auslegung des Begriffs "neuer erworbener Unterhaltsanspruch" regelmäßig von den in §§ 58 bis 61 EheG bestimmten Folgen der Scheidung für die Unterhaltspflicht auszugehen. Die der bürgerlich-rechtlichen Vertragsfreiheit entsprechende Möglichkeit, Unterhaltsverträge abzuschließen (§ 72 EheG), fügt sich nicht in das zwingende Recht der Rentenversicherung ein, soweit die Ehegatten durch Verträge zwingende gesetzliche Rechtsfolgen auf dem Gebiet der Rentenversicherung ändern und die Rangfolge der Unterhaltsleistungen nach § 68 Abs. 2 AVG umkehren könnten. Gegenüber dieser durch Sinn und Zweck des § 68 Abs. 2 AVG bestimmten Auslegung, kann eine Auslegung, die nur die Worte "erworbener" Anspruch betrachtet, nicht durchgreifen, weil sie dazu führen kann, daß die vom Gesetz gewollte Rangfolge der Unterhaltsleistungen in das Gegenteil verkehrt wird.
Die Entscheidung BSG 22, 78, wonach ein nicht realisierbarer Unterhaltsanspruch nicht anzurechnen ist, steht nicht entgegen. Die Tatbestände des nicht realisierbaren Unterhaltsanspruchs und des Unterhaltsverzichts unterscheiden sich in wesentlicher Hinsicht. Daß ein Unterhaltsanspruch nicht realisierbar ist, ist der Witwe nicht zuzurechnen; denn sie hat selbst nichts unternommen, was die Nichtrealisierbarkeit bewirkt hätte. Dagegen hat sie im Falle eines Unterhaltsverzichts selbst die Entstehung eines Unterhaltsanspruchs verhindert. Auf ähnlichen Gedanken beruht die für Rechtsgeschäfte geltende Vorschrift in § 162 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB): Wenn eine Partei den Eintritt einer Bedingung, die ihr zum Nachteil gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert, so gilt die Bedingung als eingetreten.
Zu einer anderen Auffassung zwingt auch nicht der Hinweis des LSG auf § 44 BVG idF des 2. NOG. Danach ist auf die Witwenrente der Betrag anzurechnen, den der frühere Ehemann ohne den Verzicht zu leisten hätte, wenn die Witwe ohne verständigen Grund auf einen Versorgungs-, Renten- oder Unterhaltsanspruch verzichtet hat. Aus dieser in einer anderen Rechtsvorschrift und für ein anderes Rechtsgebiet geschaffenen Regelung können aber keine Rückschlüsse auf die Auslegung des § 68 Abs. 2 AVG gezogen werden. Wenn für die Versorgungsverwaltung der "verständige Grund" beim Unterhaltsverzicht für dessen Beachtlichkeit bei der Bemessung von Versorgungsleistungen maßgeblich ist, so entspricht dies möglicherweise den besonderen Bedürfnissen und Zielsetzungen der Kriegsopferversorgung. Damit ist aber nicht gesagt, daß die gleiche Auslegung auch für andere Vorschriften zu gelten habe, die eine Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf wiederaufgelebte Bezüge nach dem ersten Ehemann vorsehen. So enthalten auch die entsprechenden Vorschriften anderer einschlägiger Gesetze, wie § 164 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes, § 23 des Bundesentschädigungsgesetzes, § 59 Abs. 3 des Soldatenversorgungsgesetzes, soweit sie die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen regeln, keinen Hinweis darauf, daß Unterhaltsverzichte beim Vorliegen eines "verständigen Grundes" zu berücksichtigen seien. Auch § 615 Abs. 2 RVO nF erwähnt nur den nicht zu verwirklichenden Unterhaltsanspruch, nicht aber den Unterhaltsverzicht.
Die Beklagte hat somit zu Recht den Unterhaltsverzicht als unbeachtlich angesehen. Ihre Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben.
Der Senat konnte nicht abschließend entscheiden, denn das LSG hat nicht die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin festgestellt. Von diesen hängt jedoch ab, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe ein fiktiver Unterhaltsanspruch gegeben und anzurechnen ist (§ 58 EheG).
Die Sache ist daher an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes). Dessen abschließendem Urteil bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen