Entscheidungsstichwort (Thema)

Schriftliche Revisionsbegründung. Bezugnahme auf Schriftstücke

 

Orientierungssatz

Eine Revisionsbegründung entspricht nicht dem Formerfordernis des § 164 Abs 2 S 3 SGG, wenn der Prozeßbevollmächtigte Bezug auf anliegende Schriftstücke nimmt (Festhaltung an der bisherigen Rechtsprechung des BSG; Abgrenzung zu BFH 1973-11-05 GrS 2/72 = BFHE 111, 278, 285). Nur durch eigene Unterschriftsleistung kann der Prozeßbevollmächtigte sich derartige nicht von ihm verfaßte Schriftstücke voll zu eigen machen (vgl BSG 1959-01-15 4 RJ 210/57 = SozR Nr 40 zu § 164 SGG). Nicht von dem Prozeßbevollmächtigten unterschriebene Schriftsätze können nicht als Teil der Revisionsbegründung angesehen werden. Das SGG hat die Begründung der Revision zwingend vorgeschrieben und von ihr die Zulässigkeit abhängig gemacht. Der Begründungszwang soll die sorgfältige Vorbereitung des Verfahrens gewährleisten und den Prozeßbevollmächtigten anhalten, vor Einlegung der Revision die Rechtslage gewissenhaft zu prüfen und unter Umständen von aussichtslosen Revisionen abzusehen.

 

Normenkette

SGG § 164 Abs 2 S 3 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.01.1980; Aktenzeichen L 11 V 175/78)

SG Duisburg (Entscheidung vom 27.07.1978; Aktenzeichen S 23 V 82/78)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt im dritten Zugunstenverfahren die Anerkennung eines Nervenleidens als Wehrdienstbeschädigung.

Mit dem streitigen Antrag trug der Kläger vor, daß in einer von Dr R gefertigten Röntgenaufnahme Granatsplitter in der Kopfschwarte festgestellt worden seien. Daraufhin holte die Versorgungsbehörde einen Röntgenbefund von Dr K ein, der zu dem Ergebnis kam, daß Fremdkörpereinlagerungen nicht festgestellt werden könnten. Die Erteilung eines Zugunstenbescheides lehnte die Behörde ab, weil die früheren Bescheide nicht unrichtig seien; Granatsplitter seien nicht feststellbar (Bescheid vom 12. Oktober 1977, Widerspruchsbescheid vom 10. März 1978). Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Juli 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat dazu ausgeführt: Die Klage hätte als unzulässig abgewiesen werden müssen, weil sie denselben Streitgegenstand betreffe wie zwei frühere, bereits rechtskräftig abgeschlossene Gerichtsverfahren in dieser Sache. Der Streitgegenstand sei identisch, es bestehe völlige Deckungsgleichheit. Der Kläger habe keine neuen, bisher noch nicht gerichtlich überprüften Tatsachen schlüssig geltend gemacht. Zwar habe er im Verwaltungsverfahren einen bisher nicht geprüften Umstand vorgetragen, nämlich das Vorhandensein von Granatsplittern in der Kopfschwarte. Aber abgesehen davon, daß diese offensichtlich nicht vorlägen, habe der Kläger nach ausdrücklichem Befragen durch den Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung diesen Sachverhalt auch nicht mehr behauptet.

Der Kläger hat durch seinen Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt.

Er beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und das

beklagte Land zu verurteilen, auf den Antrag des

Klägers vom 15. Juli 1977 einen neuen Verwaltungsakt

unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes

zu erteilen.

Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers schreibt dazu: "Wir glauben, daß der Beklagte und die tätigen Gerichte keine erschöpfende Sachaufklärung der Sache durchgeführt haben. Auch hätte geprüft werden müssen, ob unter Berücksichtigung der durch neue Erkenntnisse geänderten medizinischen Lehrmeinung ein anderer Sachverhalt zur Beurteilung der angeschuldigten Schädigungsfolgen vorliegt.

Des weiteren verweisen wir auf die Begründung des Klägers mit seinem Schreiben vom 13. März 1980 um Wiederholungen zu vermeiden. Dieser Schriftsatz vom 13. März 1980 wird der Revision beigefügt". Der Schriftsatz vom 13. März 1980 ist von dem Kläger unterschrieben. Im Nachgang zur Revision teilte der Prozeßbevollmächtigte mit Schreiben vom 8. August 1980 mit: "Mit Schriftsatz vom 18. März 1980 an das Bundessozialgericht haben wir auf die weitere Begründung des Klägers mit seinem Schreiben vom 13. März 1980, um Wiederholungen zu vermeiden, hingewiesen. Damit haben wir dargelegt, daß wir uns mit dieser Begründung identifizieren. Es bedarf daher nach unserer Auffassung keiner weiteren Unterschrift unter dem Schriftsatz vom 13. März 1980".

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Er meint, die Revision ließe nicht erkennen, welche Rechtsnorm der Kläger als verletzt ansehe, insbesondere habe er nicht dargelegt, deshalb das Berufungsgericht bei seinem Rechtsstandpunkt weitere Ermittlungen hätte durchführen müssen, in welche Richtung diese hätten gehen müssen und welches Ergebnis sie voraussichtlich gehabt hätten. Die Bezugnahme des Prozeßbevollmächtigten auf die Ausführungen in der persönlichen Revisionsbegründung des Klägers im Schreiben vom 13. März 1980 entspreche nicht dem Formerfordernis des § 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unzulässig. Die Revision ist zwar in rechter Form und Frist eingelegt worden (§ 164 Abs 1 SGG); die Revisionsbegründung genügt jedoch nicht den Anforderungen des § 164 Abs 2 SGG.

Nach § 164 Abs 2 Satz 3 SGG muß die Begründung einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat in seinem Revisionsschreiben lediglich angegeben, daß keine erschöpfende Sachaufklärung in der Sache durchgeführt und nicht geprüft worden sei, ob unter Berücksichtigung der durch neue Erkenntnisse geänderten medizinischen Lehrmeinung ein anderer Sachverhalt zur Beurteilung der angeschuldigten Schädigungsfolgen vorliege. Eine verletzte Rechtsnorm ist damit ausdrücklich nicht bezeichnet worden. Allerdings ist es nicht unbedingt erforderlich, daß die verletzte Rechtsnorm durch Angabe von Gesetz und Paragraphen-Nummer bezeichnet wird; es genügt, wenn sich aus den vorgetragenen Tatsachen ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (BSGE 1, S 227, 231). In dem Vortrag, das Gericht habe keine erschöpfende Sachaufklärung durchgeführt, könnte ein Hinweis auf § 103 SGG erkannt werden. Nach dieser Vorschrift erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Selbst wenn dieser kurze Hinweis genügen würde, um die verletzte Rechtsnorm anzuführen, fehlte es hier doch daran, daß die Tatsachen, die den Mangel des Verfahrens ergeben, nicht mitgeteilt worden sind. Dazu ist erforderlich, daß substantiiert dargelegt wird, aufgrund welcher Rechtsauffassung des LSG Tatfragen klärungsbedürftig erscheinen und es zu einer genau darzulegenden Sachaufklärung drängen mußten (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 und Nr 34, SozR Nr 64 zu § 164 SGG und SozR Nr 14 zu § 103 SGG). Für die weitere Behauptung der Revision, das LSG hätte prüfen müssen, ob unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse der medizinischen Lehrmeinung ein anderer Sachverhalt zur Beurteilung stünde, fehlt ebenfalls eine echte Begründung für einen Angriff gegen das LSG-Urteil. Es ist nicht erkennbar, welche neuen medizinischen Erkenntnisse das LSG unberücksichtigt gelassen haben soll und wie solche, falls sie vorlägen, eine andere Entscheidung hätten herbeiführen können, wenn das LSG sie bedacht hätte.

Soweit der Bevollmächtigte des Klägers zur Begründung der Revision auf das Schreiben des Klägers vom 13. März 1980 Bezug genommen hat, hat er damit nicht dem Formerfordernis des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG genügt.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in SozR Nr 3 zu § 166 SGG entschieden, daß die Einreichung einer vom Revisionskläger selbst gefertigten und selbst unterzeichneten Revisionsschrift durch einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten nicht die zur wirksamen Revisionseinlegung erforderliche Unterzeichnung der Revisionsschrift durch den Prozeßbevollmächtigten ersetzt. Zur Revisionsbegründung hat das BSG BSGE 7, 35, 39 ausgeführt, daß eine Bezugnahme auf das Armenrechtsgesuch eines nicht beim BSG zugelassenen Rechtsbeistandes nicht der Vorschrift des § 164 Abs 2 Satz 2 SGG genügt. Die Revisionsbegründung müsse erkennen lassen, daß der zugelassene Prozeßbevollmächtigte den Prozeßstoff geprüft hat, welche Teile des Urteils sie angreift und mit welchen Gründen. Durch bloße Bezugnahme auf das Armenrechtsgesuch eines nicht zugelassenen Vertreters und auf dessen Schriftsätze in den Vorinstanzen wird dem nicht genügt (vgl BSGE 6, 269, 270). Ebenso ist die Verweisung in der Revisionsbegründung auf das Vorbringen in einem vom Kläger persönlich unterschriebenen Armenrechtsgesuch nicht als den Anforderungen des § 164 SGG entsprechend angesehen worden (BSG 7 RAr 7/66 vom 17. Mai 1966 in Dienstbl C der Bundesanstalt für Arbeit § 166 SGG Nr 1140 A). Diese Rechtsprechung ist dadurch gerechtfertigt, daß allein durch die Unterschrift des postulationsfähigen Prozeßbevollmächtigten dieser die volle Verantwortung für den Inhalt des Schriftstückes übernimmt; nur durch die Unterschriftsleistung kann der Prozeßbevollmächtigte sich derartige nicht von ihm verfaßte Schriftstücke voll zu eigen machen (BSG SozR Nr 40 zu § 164 SGG). Nicht von dem Prozeßbevollmächtigten unterschriebene Schriftsätze können nicht als Teil der Revisionsbegründung angesehen werden. Das SGG hat die Begründung der Revision zwingend vorgeschrieben und von ihr die Zulässigkeit abhängig gemacht. Der Begründungszwang soll die sorgfältige Vorbereitung des Verfahrens gewährleisten und den Prozeßbevollmächtigten anhalten, vor Einlegung der Revision die Rechtslage gewissenhaft zu prüfen und unter Umständen von aussichtslosen Revisionen abzusehen.

Der Senat sieht nach Überprüfung des Meinungsstandes keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des BSG zur Frage der Revisionsbegründung durch Bezugnahme auf fremde Schriftstücke abzugehen. Allerdings hat der Bundesfinanzhof (BFH) in dem Beschluß vom 5. November 1973 - GrS 2/72 = BFHE 111/278, 285 ausgeführt, daß im steuergerichtlichen Verfahren, das indessen keinen Anwaltszwang kennt, eine Revisionsbegründung, bei der nach Lage der Verhältnisse kein Zweifel besteht, daß sie von einem dazu Berechtigten eingereicht wurde, als ordnungsgemäß anzusehen ist. Das bedeutet, daß eine Revision iS von § 120 Abs 1 der Finanzgerichtsordnung als schriftlich begründet anzusehen ist, wenn zwar nicht das die eigentliche Begründung enthaltende Schreiben, wohl aber das mit diesem Schriftstück zusammen beim BFH eingegangene Anschreiben von einem dazu Berechtigten handschriftlich unterzeichnet ist und ohne weiteres erkennbar ist, daß es sich dabei nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern um eine von dem Berechtigten gefertigte und bewußt eingereichte Begründung der Revision.

Auf diese Entscheidung nehmen Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit § 164 S III/80 - 103 -, Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit Erläuterungen § 164 Anm 9 und Zeihe, Das Sozialgerichtsgesetz und seine Anwendung, § 164 Anm 27i Bezug. Letzterer mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß es auf die von dem Großen Senat des BFH herausgestellten Unterschiede der Verfahrensordnungen nicht ankomme. Dem ist nicht zuzustimmen. Der Große Senat des BFH hat für seine Entscheidung in einer vergleichbaren Übersicht über die Rechtsprechung des Reichsgerichts, des Bundesgerichtshofes, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts sowie seiner eigenen Rechtsprechung (S 281 f aaO) ausdrücklich festgestellt, die für den Zivilprozeß geltenden Grundsätze über die Unterschriftsleistung bei bestimmenden Schriftstücken könnten für den Steuerprozeß keine entscheidende Bedeutung haben, weil das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof ausdrücklich die Formenstrenge mit den Besonderheiten des Anwaltsprozesses begründet hätten (BFH S 284 aaO). Der BFH hat auch angesichts der unterschiedlichen Gestaltung der Verfahrensordnungen davon abgesehen, den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe anzurufen (S 285 f aaO). Diesen Ausführungen ist beizupflichten. Es ist ein Unterschied zu machen zwischen den Formerfordernissen, die von der nichtvertretenen Partei zu verlangen sind, und denen, die von bevollmächtigten Prozeßvertretern einzuhalten sind, insbesondere wenn von diesen erwartet werden muß, daß sie mit den Formvorschriften der Prozeßordnung, in deren Bereich sie tätig werden, vertraut sind. Zu diesen Personen sind nicht nur Rechtsanwälte zu zählen, sondern auch die nach § 166 Abs 2 SGG zugelassenen Vertreter. (Vgl über die prozessuale Schriftform in den verschiedenen Verfahrensarten, Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit, 1973, S 69). Auch der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat seinen Beschluß vom 30. April 1979 - 1/78 - = SozR 1500 § 164 Nr 14 ausdrücklich darauf beschränkt, daß seine Entscheidung, die Revisionsbegründung einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts oder einer Behörde entspreche auch dann der gesetzlichen Schriftform, wenn der in Maschinenschrift wiedergegebene Name des Verfassers mit einem Beglaubigungsvermerk versehen sei, nur dann gelte, wenn die Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts oder die Behörden, von denen die Schriftsätze ausgehen, selbst vor Gericht auftreten können, also kein Vertretungszwang besteht.

Im übrigen handelt es sich bei dem Schriftstück, das von dem Kläger persönlich unterzeichnet und von seinem Bevollmächtigten in Bezug genommen worden ist, um ein gleichlautendes Schreiben des mit anderer Eingangsformel und anderer Überschrift vom Kläger zu den Akten des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen zur Begründung eines Antrages auf Tatbestandsberichtigung eingereicht worden ist.

Nach alledem war die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651555

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