Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachschaden bei Verlust des zweiten Hodens mit Unfruchtbarkeit und Kastrationssyndrom (ua Unfähigkeit zum Geschlechtsverkehr). keine mittelbare Schädigungsfolge. Gleichbehandlungsanspruchssatz
Orientierungssatz
1. Ist die operative Entfernung des zweiten Hodens nicht wahrscheinlich auf schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes iS des § 1 Abs 1 bis 3 S 1 BVG ursächlich zurückzuführen, so ist diese nachträglich eingetretene Gesundheitsstörung weder für sich allein noch gemeinsam mit den geltend gemachten "Folgeerscheinungen", dh mit dem Kastrationssyndrom mit Verlust der Zeugungsfähigkeit und der Potenz sowie seelischen Belastungen, als Folge einer Wehrdienstschädigung anzuerkennen und bei der Bemessung der MdE (§ 30 Abs 1 BVG) und damit des Rentenanspruchs (§ 31 Abs 1 und 2 BVG zu berücksichtigen.
2. Der Senat hält an der gefestigten Judikatur zum Nachschaden, auch besonders bei paarigen Organen (vgl zuletzt BSG vom 1975-12-10 9 RV 112/75 = BSGE 41, 70 = SozR 3100 § 30 Nr 11) fest.
3. Die gefestigte Judikatur über begrenzte Versorgungsansprüche der Beschädigten verletzt auch nicht den Gleichheitsgrundsatz (Art 3 Abs 1 GG). Beim Vergleich mit der Begründung von Hinterbliebenenansprüchen.
Normenkette
BVG § 1 Abs 1 Fassung: 1960-06-27, § 1 Abs 3 S 1 Fassung: 1964-02-21, § 30 Abs 1 Fassung: 1971-12-16, § 31 Abs 1, § 31 Abs 2; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 09.03.1979; Aktenzeichen L 9 V 131/78) |
SG Stade (Entscheidung vom 04.09.1978; Aktenzeichen S 1 V 130/76) |
Tatbestand
Nach den Angaben des Klägers, der 1921 geboren ist, wurde sein rechter Hoden 1945 durch Bombensplitter verletzt und - nach Feststellung einer Hodentuberkulose - entfernt. 1975 wurde der linke Hoden wegen einer Epididymorchitis durch Operation beseitigt. Den Verlust des rechten Hodens mit tief eingezogener, druckempfindlicher Narbe hat die Verwaltung als Schädigungsfolge nach § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ohne Rentenanspruch anerkannt (Bescheid vom 7. April 1976). Das Landesversorgungsamt lehnte es ab, die Erkrankung des linken Hodens mit besonderen Auswirkungen bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu berücksichtigen; es handele sich um einen sogenannten Nachschaden, dh um einen Zustand, der nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der kriegsbedingten Schädigung stehe (Widerspruchsbescheid vom 24. September 1976). Klage und Berufung, mit denen der Kläger den "Verlust des linken Hodens mit Folgeerscheinungen" als Schädigungsfolge anerkannt haben wollte und Rente entsprechend einer MdE um mindestens 50 vH begehrte, sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 4. September 1978 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 9. März 1979). Auch das Berufungsgericht hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Wehrdiensteinwirkungen und der Hodenentzündung, die 1975 zur Semikastration führte, als nicht wahrscheinlich beurteilt, zumal der brückensymptomlose Zeitraum zu groß sei und für eine Tuberkulose des linken Hodens kein Anhalt bestehe. Das Kastrationssyndrom - Zeugungsunfähigkeit, Potenzverlust und psychische Belastung - sei als schädigungsunabhängiger Nachschaden nicht zu berücksichtigen.
Der Kläger hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 1 und 30 BVG. Die höchstrichterliche Rechtsprechung über den Ausschluß eines schädigungsunabhängigen Nachschadens von Versorgungsansprüchen müsse überprüft werden; ihr werde im Schrifttum begründet widersprochen. Wegen der nachträglichen nichtschädigungsbedingten Gesundheitsverschlechterung wirkten sich die Schädigungsfolgen schwerer aus; die MdE sei nach dem jeweils aktuell bestehenden Gesamtzustand zu bewerten. Der erkennende Senat habe auch schon in seinem letzten einschlägigen Urteil (BSGE 41, 70) angedeutet, daß die bisherige Rechtsprechung überdacht werden müsse. Jedenfalls gelte dies für paarige Organe. Doch selbst bei Festhalten an dieser Judikatur müßte, wie es das LSG in der Begründung der Revisionszulassung in Betracht gezogen habe, der primäre hypergonadotrope Hypogonadismus iS einer endokrinen Entgleisung, die durch den Verlust des rechten Hodens 1975 ausgelöst worden sei, als mittelbare Schädigungsfolge anerkannt werden. Beim Kläger bestehe nicht allein - wie in den bisher entschiedenen Fällen des Nachschadens - ein reiner Funktionsverlust des paarigen Organs; vielmehr sei darüber hinaus eine weitere Gesundheitsstörung aufgetreten. Der schädigungsbedingte Verlust des rechten Hodens könne nicht hinweggedacht werden, ohne daß das Kastrationssyndrom entfalle, und sei deshalb dessen wesentliche Bedingung iS einer gleichwertigen Mitursache.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Urteile und Bescheide
den Beklagten zu verurteilen, bei ihm als weitere
Schädigungsfolge iS des BVG "Verlust des linken Hodens
mit Folgeerscheinungen" anzuerkennen und ihm ab 1. Mai 1975
Rente nach einer MdE um mindestens 50 vH zu zahlen.
Der Beklagte hat sich nicht zur Revision geäußert.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die verbindlich sind (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), ist die operative Entfernung des linken Hodens nicht wahrscheinlich auf schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes iS des § 1 Abs 1 bis 3 Satz 1 BVG ursächlich zurückzuführen. Bei dieser Sachlage ist diese nachträglich eingetretene Gesundheitsstörung weder für sich allein noch gemeinsam mit den geltend gemachten "Folgeerscheinungen", dh mit dem Kastrationssyndrom mit Verlust der Zeugungsfähigkeit und der Potenz sowie seelischen Belastungen, als Folge einer Wehrdienstschädigung anzuerkennen und bei der Bemessung der MdE (§ 30 Abs 1 BVG) und damit des Rentenanspruches (§ 31 Abs 1 und 2 BVG zu berücksichtigen. Das hat das LSG in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BSG zutreffend entschieden.
Der erkennende Senat sieht keinen hinreichenden Grund dafür, die gefestigte Judikatur zum Nachschaden, auch besonders bei paarigen Organen, aufzugeben. In seinem letzten zu dieser Frage einschlägigen Urteil (BSGE 41, 70 = SozR 3100 § 30 Nr 11; speziell für paarige Organe: BSGE 41, 72, 74 f) hat er sich mit den veröffentlichten Kritiken auseinandergesetzt. Darüber hinaus hat der Senat speziell bei der Erblindung durch schädigungsunabhängigen Verlust des zweiten Auges eine "besondere Härte" iS des § 89 BVG verneint, weil der Gesetzgeber durch besondere zusätzliche Rechtsansprüche im übrigen die bisherige Rechtsprechung zum Nachschaden bestätigt hat (BSGE 47, 123 = SozR 3100 § 89 Nr 7). Die Revision hat zu dieser Rechtsfrage keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen. Ihre Ansicht, eine Bedingung sei nur dann versorgungsrechtlich bedeutsam, wenn sie nicht hinweggedacht werden könne, ohne daß der eingetretene Erfolg entfalle, ist mit der im Recht der Kriegsopferversorgung (KOV) geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung unvereinbar.
Die gefestigte Judikatur über begrenzte Versorgungsansprüche der Beschädigten verletzt auch nicht den Gleichheitsgrundsatz (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-) beim Vergleich mit der Begründung von Hinterbliebenenansprüchen. Wenn diese voraussetzen, daß der Beschädigte an den Folgen der kriegsbedingten Schädigung verstorben sein muß (§ 1 Abs 5, § 38), so genügt für den gebotenen Ursachenzusammenhang, daß die gesundheitliche Schädigung oder ihre unmittelbare gesundheitliche Folge wenigstens eine gleichwertige Mitursache des Todes - neben anderen Bedingungen - war (BSGE 1, 150, 157). Nicht anders ist es mit der Voraussetzung der Beschädigtenversorgung. Auch eine "Gesundheitsstörung" ist bereits als Folge einer Schädigung anzuerkennen (§ 1 Abs 1 und 3 S 1 BVG; vgl zu den Begriffen: BSGE 41, 73; 41, 80, 84 = SozR 3100 § 35 Nr 2), wenn die schädigende Einwirkung eine gleichwertige Minderung ist. Hinsichtlich der zeitlichen Eingrenzung bestehen ebenfalls keine Unterschiede zwischen der Beschädigten- und der Hinterbliebenenversorgung. Falls das anzuerkennende "Leiden" (vgl zu dem Begriff: § 1 Abs 3 Satz 2 BVG) sogleich eingetreten ist, also in dem Zeitpunkt, der die nach der Nachschadensrechtsprechung zum Vergleich heranzuziehenden Verhältnisse bestimmt, ist die rechtliche Betrachtung nicht anders als bei der Zurechnung eines Todes, den eine kriegsbedingte Schädigung - zeitlich - unmittelbar herbeigeführt hat. Andererseits wird auch ein nachträglicher Tod nicht nach anderen Maßstäben versorgungsrechtlich beurteilt als ein verspätetes Auftreten von Schädigungsfolgen (zB Lebercirrhose nach jahrelang zurückliegender Hepatitis) oder als deren spätere Weiterentwicklung. Für die beiden Anspruchsarten wird allein ein Weiterwirken der Schädigung neben anderen Bedingungen in die Ursachenabwägung einbezogen (BSGE 41, 71, 73; so auch schon BSGE 17, 99, 102 ff = SozR Nr 19 zu § 62 BVG; vgl auch Pesch, Betrachtungen zum Ursachenbegriff in der Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung, 1965, S 70). Hingegen ist, wenn infolge eines Krankheitsgeschehens außerhalb der kriegsbedingten Faktoren ein zweites paariges Organ verlorengeht, der durch die Schädigung verursachte Ausfall nicht im Hinblick auf den neuen Gesamtzustand neu zu bewerten; denn der ursprüngliche Kriegsschaden ist nicht zur "Wirkkraft" für die Endverhältnisse geworden. Vielmehr stellt sich der vollständige Funktionsverlust (zB Blindheit oder Unfruchtbarkeit) als die Summe zweier statischer Zustände dar, von denen einer schädigungsbedingt, der andere schädigungsunabhängig ist. Schließlich besteht im Ergebnis kein nach Quantität und Qualität zu sondernder medizinischer Unterschied zwischen dem endgültigen Ausfall paariger Sinnesorgane, dem Verlust von anderen paarigen Organen und dem Zusammentreffen anderer Körperschäden, der in Nachschadensfällen eine verschiedenartige rechtliche Beurteilung rechtfertigen könnte (vgl BSGE 41, 74 f). Insbesondere kann nicht der schädigungsbedingten Funktionsuntüchtigkeit eines einzelnen paarigen Sinnesorganes oder eines Hoden die Bedeutung einer Ursache im versorgungsrechtlichen Sinn deshalb zuerkannt werden, weil schon mit diesem Körperschaden eine Gefährdung des Gesamtorgans gegeben wäre. Im Recht der KOV kann einen Versorgungsanspruch nur ein wirklicher gegenwärtiger Schaden begründen; spätere Entwicklungen bleiben außer Betracht (BSG, Bundesversorgungsblatt 1962, 21; zu § 35 BVG: BSGE 20, 205, 208 = SozR Nr 14 zu § 35 BVG; zu § 581 Reichsversicherungsordnung -RVO- in der Unfallversicherung: BSG SozR 2200 § 581 Nr 6).
Der gegenwärtige Fall unterscheidet sich nicht grundlegend von den bisher entschiedenen Nachschadenssachen. Wiederum geht es darum, ob der nachträgliche Ausfall des zweiten gleichartigen Organs, der naturgemäß einen vollständigen Funktionsverlust (Erblindung oder Zeugungsunfähigkeit) bedingt, einen Versorgungsanspruch begründet. Dieser Endzustand wird aber vom Nachschaden eingeschlossen und ist daher nicht als Schädigungsfolge zu beurteilen.
Der zusätzliche Verlust der Beischlaffähigkeit und die damit verbundenen "seelischen Belastungen" sind nicht etwa besonders als mittelbare Schädigungsfolgen anzuerkennen und als Grundlage der schädigungsbedingten MdE hinzuzurechnen. Bei diesen Ausfällen handelt es sich nicht um rechtlich selbständige "Gesundheitsstörungen", die neben bereits festgestellten Schädigungsfolgen iS des § 1 BVG als deren weiteren Folgen nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG zusätzlich anerkannt werden könnten. Vielmehr gehören sie medizinisch, wie das LSG festgestellt hat, und damit auch rechtlich zu den "Folgeerscheinungen" des Verlustes des linken Hodens, derentwegen der Kläger nach seinem Antrag in diesem Rechtsstreit zusätzlich Versorgung begehrt. Auch diese Folgen bilden gemeinsam mit der Unfruchtbarkeit, die zwangsläufig erst durch den Verlust des zweiten Hodens eingetreten ist, das Kastrationssyndrom. Der medizinische Begriff "Syndrom" beschreibt, daß es sich um eine Gruppe von zusammengehörenden, gleichzeitig auftretenden Krankheitserscheinungen handelt (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 252. Aufl, 1975, S 1183, 1184). Sie beziehen sich auf den Verlust beider Hoden und damit auf die Zeugungsunfähigkeit. Der zentrale Leidenszustand, der durch die Entfernung des bis 1975 erhalten gebliebenen Hodens (Kastration) verursacht worden ist, ist die Unfruchtbarkeit. Falls sie außerdem den Kläger infolge einer endokrinen Entgleisung, also auf organischem Weg zur geschlechtlichen Vereinigung unfähig gemacht und falls dies alles bei ihm zu seelischen Störungen geführt hat, so können diese Folgeerscheinungen nicht im Gegensatz zu ihrer Ursache, dem Verlust des weiteren Hodens und der Zeugungsunfähigkeit, als Schädigungsfolgen anerkannt werden. Eine von der Schädigung ausgehende Ursachenkette erreicht nicht lückenlos den Endzustand, weil die Schädigung sich nicht weiterentwickelt hat; und deshalb ist dieser Schaden nicht rechtserheblich (Rauschelbach, Kriegsopferversorgung von 1972, 129).
Für die seelischen Auswirkungen ist die Zugehörigkeit zum Nachschaden besonders deutlich, wenn sie als "seelische Begleiterscheinungen" der körperlichen Ausfälle zu verstehen sind. Sie teilen das gleiche rechtliche Schicksal mit diesen, dh sie erweitern in diesem Falle den Versorgungsanspruch nicht, wie sie andererseits als außergewöhnliche Reaktion auf körperliche Schädigungsfolgen iS des § 1 BVG nach § 30 Abs 1 Satz 1 Halbs 2 BVG bei der Höhe der MdE zu berücksichtigen sind (BSGE 8, 209, 213 ff = SozR Nr 2 zu § 30 BVG; BSGE 9, 291, 294; BSG, Bundesversorgungsblatt 162, 21 Nr 6).
Bei der festgestellten Sachlage fehlt schließlich auch die tatsächliche Voraussetzung für eine rechtliche Bewertung des gesamten Kastrationskomplexes als mittelbarer Schädigungsfolge. Sie müßte im Wege eines neuen selbständigen Geschehensablaufes durch eine Schädigungsfolge iS der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm mitverursacht worden sein (BSGE 17, 60 = SozR Nr 59 zu § 1 BVG; BSG SozR Nrn 81 und 83 zu § 1 BVG; BSG, Breithaupt 1964, 882, 884; 1977, 340; BSGE 25, 165, 166, 168 f = SozR Nr 74 zu § 1 BVG; BSGE 41, 71; BSG SozR 3100 § 1 Nr 23; ebenso für die Unfallversicherung: BSGE 1, 254, 256; 46, 283, 284 = SozR 2200 § 539 Nr 47; BSGE 47, 25, 26 f = SozR 2200 § 548 Nr 42), zB durch die Weiterentwicklung einer schädigungsbedingten Krankheit. In jedem dieser Fälle geht ein Wirkungsgeschehen von der Schädigungsfolge aus. Eine derartige tatsächliche Beziehung fehlt aber beim Kläger, wie verbindlich festgestellt ist, zur Erkrankung und Beseitigung des linken Hodens. Damit ist ein rechtserheblicher Ursachenzusammenhang mit der Unfruchtbarkeit und dem einheitlichen Kastrationssyndrom abgeschnitten.
Nach alledem ist die Revision des Klägers unbegründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen