Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsnachentrichtung nach WGSVG § 10 iVm GG Art 3 und 20 Abs 3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (amtlich)
Eine Versäumung der Ausschlußfrist nach WGSVG § 10 Abs 1 S 4 kann unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben dem Verfolgten nicht entgegengehalten werden, wenn die Verspätung auf die unzureichenden Informationsmöglichkeiten an seinem ausländischen Wohnsitz zurückzuführen ist und ihn selbst an der Fristversäumung kein Verschulden trifft.
Orientierungssatz
1. Es stellt keinen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 oder 2 GG dar, daß das Nachentrichtungsrecht für weibliche Verfolgte, denen Beiträge wegen Heirat erstattet wurden (§ 8 WGSVG), anders als das Nachentrichtungsrecht nach § 10 WGSVG nicht fristgebunden ist.
2. Ein Verstoß gegen das GG ist auch nicht darin zu erblicken, daß der Gesetzgeber des WGSVG, als er nachträglich eine Frist für die Stellung von Nachentrichtungsanträgen nach § 10 WGSVG bestimmte, den Antragstellern dafür nur eine kurze Zeit ließ.
3. Es ist nicht verfassungsrechtlich geboten, auch für Ausschlußfristen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorzusehen.
4. Die Vorschrift des § 27 SGB 10 (in Kraft ab 1.1.81) kann auch nicht nur als eine gesetzliche Konkretisierung schon vorher verfestigter Rechtsgedanken angesehen werden. Es handelt sich bei ihr vielmehr - ebenso wie bei § 32 des VwVfG und § 110 der AO 1977 - um eine neue Regelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die - soweit sie auch materiell-rechtliche Ausschlußfristen betrifft - keineswegs eine gefestigte Rechtsauffassung festschreibt, sondern einen bisher überwiegend anders beantworteten Fragenkreis neu regelt und deshalb auch erst für die Zeit nach ihrem Inkrafttreten angewendet werden kann (vgl BSG 1979-02-01 12 RK 33/77 = BSGE 48, 12).
Normenkette
WGSVG § 10 Abs 1 S 4 Fassung: 1975-04-28, § 8 Fassung: 1970-12-22; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; SGB 10 § 27 Abs 2 Fassung: 1980-08-18; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 3 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23; GG Art 19 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 17.04.1980; Aktenzeichen L 10 An 171/79) |
SG Berlin (Entscheidung vom 22.10.1979; Aktenzeichen S 9 An 3257/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt war, aufgrund eines nach dem 31. Dezember 1975 gestellten Antrags Beiträge nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachzuentrichten.
Der Kläger ist Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er wohnt in Windhoek/Namibia. Mit Schreiben vom 16. Februar 1976 (bei der Beklagten am 23. Februar 1976 eingegangen), beantragte er die Erstellung eines Versicherungsverlaufs und kündigte gleichzeitig seine Bereitschaft an, Beiträge nachzuentrichten.
Den Antrag auf Nachentrichtung lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger sei zur Nachentrichtung weder nach den §§ 10 und 10a WGSVG noch nach Art 2 § 49a des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten (AnVNG) berechtigt, weil er die in beiden Gesetzen vorgesehene Antragsfrist (31. Dezember 1975) nicht eingehalten habe (Bescheid vom 10. Februar 1978).
Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 20. November 1978, Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 22. Oktober 1979; Urteil ds Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 17. April 1980).
Das LSG hat die Auffassung vertreten, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht, weil es sich bei der Antragsfrist um eine materielle Ausschlußfrist handele, gegen die eine Wiedereinsetzung nicht vorgesehen sei. Auch unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben sei die Beklagte nicht gehindert, sich auf die Ausschlußfrist zu berufen. Im übrigen sei zu bezweifeln, ob ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen des Klägers auf dem Spiel stünden, da er die Wartezeit für ein Altersruhegeld bereits erfüllt habe.
Er könne sich auch nicht auf eine Benachteiligung wegen seines Wohnsitzes berufen, denn das WGSVG sei ausschließlich für einen überwiegend im Ausland wohnhaften Personenkreis geschaffen worden. Die Beklagte habe zudem ihrer allgemeinen Informationspflicht auch für im Ausland lebende Verfolgte "vollauf" genügt. Das Vorliegen von Anträgen aus Namibia zeige, daß dort "sehr wohl" eine Informationsmöglichkeit bestanden habe.
Einen Anspruch auf individuelle Unterrichtung habe der Kläger nicht gehabt. Es habe weder Anlaß bestanden, ihn zu informieren, noch habe er um Beratung nachgesucht.
Die Revision betrifft nur noch die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG, nachdem die Beklagte inzwischen ein Recht des Klägers zur Nachentrichtung nach § 10a WGSVG anerkannt hat.
Der Kläger macht mit der Revision in mehrfacher Hinsicht die Verfassungswidrigkeit sowohl der Fristsetzung für den Nachentrichtungsantrag als auch der Entscheidung der Beklagten geltend. So verstößt es seiner Ansicht nach zunächst gegen Art 3 des Grundgesetzes (GG), daß die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG im Gegensatz zur Nachentrichtung nach § 8 WGSVG fristgebunden sei. Einen weiteren Verstoß gegen Art 3 GG sieht der Kläger darin, daß die Rechtsprechung zur Fristgebundenheit der Anträge, die zum AnVNG ergangen ist, auf die Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG übertragen werde; denn insoweit werde Ungleiches gleich behandelt. Die Rechtsprechung müsse die Sonderstellung der Verfolgten und den Gedanken umfassender Wiedergutmachung in der Weise berücksichtigen, daß sie den realen Schwierigkeiten vor allem der im Ausland wohnenden Verfolgten Rechnung trage.
Verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen Art 19 GG ist nach Auffassung des Klägers auch der Ausschluß einer Wiedereinsetzung gegen Ausschlußfristen. Zumindest müsse § 27 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren- (SGB 10), der eine solche Wiedereinsetzung zulasse, auch für die Zeit vorher entsprechend angewendet werden, weil sich im SGB 10 lediglich bereits vorher verfestigte Rechtsgedanken manifestiert hätten. Auch die Beklagte habe schon § 48 Abs 2 SGB 10 sinngemäß auf das lange vorher ergangene Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Oktober 1979 - 12 RK 15/78 - angewendet. Dies müsse entsprechend für andere Vorschriften gelten.
Im übrigen könne sich die Beklagte nach Treu und Glauben nicht auf die Versäumung der Widerspruchsfrist berufen, weil das Interesse des Klägers - entgegen der Auffassung des LSG - das Interesse der Beklagten bei weitem überwiege. Das Interesse der Beklagten an einer Fristwahrung sei geringfügig, da ohnehin durch eine Vielzahl in den letzten Tagen vor Fristablauf eingegangener, nicht präzisiert gewesener Anträge bis zum Ablauf der Frist keine Klarheit über den Umfang der Nachentrichtung habe gewonnen werden können; schließlich seien auch durch den deutsch-amerikanischen sowie den deutsch-israelischen Vertrag die Nachentrichtungsfristen für große Personenkreise erweitert worden. Gegenüber einem nur geringfügigen Interesse der Beklagten an der Fristwahrung gehe es hier für den Kläger um die Anrechnung von 15 bis 16 Versicherungsjahren.
Schließlich meint der Kläger, ihm müsse das Nachentrichtungsrecht aufgrund eines Herstellungsanspruchs eingeräumt werden, weil die Beklagte für die unzureichende Information und Beratung durch das Konsulat in Windhoek einzustehen habe. Auch in einer Parallelsache (Hellmann) habe der Versicherte von den Nachentrichtungsmöglichkeiten bis zum Ende des Jahres 1975 erst Anläßlich eines Besuchs in der Bundesrepublik erfahren.
Abgesehen davon sei es Aufgabe der Beklagten gewesen, eine gezielte persönliche Aufklärung durchzuführen. Sie sei verpflichtet gewesen, ihre Akten durchzusehen und aktiv darauf hinzuwirken, daß möglichst jeder Verfolgte von der Möglichkeit der Nachentrichtung erfahre. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe erst vor wenigen Jahren (BVerfGE 27, 297 ff, 306 ff) gezielte Maßnahmen zur Durchführung der Wiedergutmachung gefordert.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG abzuändern sowie unter Aufhebung des
Bescheides vom 10. Februar 1978 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20. November 1978 die Beklagte zu
verurteilen, den Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10
WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Entgegen der Auffassung des Klägers verstößt allerdings die Einführung einer Ausschlußfrist für Anträge nach § 10 WGSVG durch § 19 Nr 1 des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 29. April 1975 -18.RAG- (BGBl I, 1018) nicht gegen verfassungsrechtliche Grundrechte.
So stellt es nach Ansicht des Senats keinen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 oder 2 GG dar, daß das Nachentrichtungsrecht für weibliche Verfolgte, denen Beiträge wegen Heirat erstattet wurden (§ 8 WGSVG), anders als das Nachentrichtungsrecht nach § 10 WGSVG nicht fristgebunden ist. Dies entspricht der Regelung des Nachentrichtungsrechts wegen Heiratserstattung im Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) und im AnVNG (Art 2 § 28 ArVNG = Art 2 § 27 AnVNG). Auch dort gibt es keine Befristung der Nachentrichtung im Gegensatz zu den allgemeinen Nachentrichtungsvorschriften in Art 2 § 51a ArVNG, Art 2 § 49a AnVNG. Die günstigere Behandlung der weiblichen Versicherten, denen Beiträge wegen Heirat erstattet wurden, trägt der besonderen Situation derjenigen Versicherten Rechnung, die bisher in der Heirat eine ausreichende soziale Sicherung gesehen hatten. Für sie läßt sich häufig nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt übersehen, inwieweit die durch Heirat bewirkte Sicherung Bestand hat. Deshalb ist es sachgerecht, bei ihnen auf eine Frist für den Nachentrichtungsantrag zu verzichten.
Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht ist auch nicht darin zu erblicken, daß der Gesetzgeber des WGSVG, als er nachträglich eine Frist für die Stellung von Nachentrichtungsanträgen nach § 10 WGSVG bestimmte (zu den Gründen vgl BT-Drucks 7/3235 S 6 unter Nr 7), den Antragstellern dafür nur eine kurze Zeit ließ. Dem Kläger ist allerdings einzuräumen, daß die Frist zwischen der Verkündung des 18. RAG (3. Mai 1975) und dem Ablauf der Frist (31. Dezember 1975) außerordentlich knapp bemessen war, besonders wenn man bedenkt, daß ein großer Teil der Betroffenen im Ausland - teils sogar in weit entfernten Gegenden - lebte und lebt. Bei ihnen bestand in der Tat die Gefahr, daß der einzelne nicht mehr rechtzeitig bis zum Fristablauf disponieren konnte. Der Senat ist indes der Auffassung, daß die Dauer der Frist dennoch generell ausreichte, um der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und den Organisationen der Verfolgten die Möglichkeit zu geben, die eingetretene Rechtsänderung auch im Ausland bekannt zu machen und damit zumindest den Großteil der Betroffenen in die Lage zu versetzen, sich auf die Änderung einzustellen. In Fällen, in denen dies aus Gründen, für die die BfA einzustehen hat, nicht gelang, könnte ein Herstellungsanspruch in Betracht kommen. In anderen Fällen wird - worauf noch einzugehen ist - unter bestimmten Voraussetzungen eine Nachsichtgewährung unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben zu erwägen sein, sofern den Verfolgten nicht selbst ein Verschulden trifft. Hierdurch erscheint ausreichend gesichert, daß die Wahrung der Frist und damit die Ausübung des Nachentrichtungsrechts nicht in einem verfassungsrechtlich unerträglichen, insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbaren Umfang von Zufälligkeiten abhing.
Entgegen der Ansicht des Klägers ist hier auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig, weil es sich bei der versäumten Frist um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist handelt, für die nach der Rechtsprechung des Senats im Rahmen des auf diesen Fall noch anzuwendenden früheren Rechts Wiedereinsetzungsmöglichkeiten nicht vorgesehen waren. Eine Anwendung des § 27 SGB 10 scheidet aus, weil diese Vorschrift erst 1981 in Kraft getreten ist. Sie kann auch nicht nur als eine gesetzliche Konkretisierung schon vorher verfestigter Rechtsgedanken angesehen werden. Es handelt sich bei ihr vielmehr - ebenso wie bei § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und § 110 der Abgabenordnung 1977 - um eine neue Regelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die - soweit sie auch materiell-rechtliche Ausschlußfristen betrifft - keineswegs eine gefestigte Rechtsauffassung festschreibt, sondern einen bisher überwiegend anders beantworteten Fragenkreis neu regelt und deshalb auch erst für die Zeit nach ihrem Inkrafttreten angewendet werden kann (vgl BSGE 48, 12).
Der Senat teilt auch nicht die Auffassung des Klägers, daß es verfassungsrechtlich geboten sei, auch für Anschlußfristen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorzusehen. Die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zu dieser Frage (vgl BVerfGE 44, 302, 306; 41, 323, 326; 40, 88, 91; 40, 42, 44; 38, 35, 38) bezieht sich auf Verfahrensfristen und ist überwiegend mit den Rechtsschutzgarantien des GG (Art 19 Abs 4 GG) begründet worden. Derartige Gründe treffen für die Abgabe materiell-rechtlicher Erklärungen, die an eine Ausschlußfrist gebunden sind, nicht zu.
Allerdings können durch materiell-rechtliche Ausschlußfristen auch andere Verfassungsgrundsätze berührt sein, insbesondere das Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG). Diesem Prinzip - mit der darin enthaltenen Forderung nach Verhältnismäßigkeit der an die Nichterfüllung einer Obliegenheit geknüpften Rechtsfolgen - würde es widersprechen, wenn die Bestimmung von Ausschlußfristen zur Folge hätte, daß Ansprüche, deren sachliche Voraussetzungen sonst erfüllt sind, allein an zufälligen, für die Berechtigten nicht beherrschbaren Umständen scheitern, die Berechtigten also das Opfer von bloßen Zufälligkeiten werden. Dieser Gedanke wird aber bereits hinreichend dadurch berücksichtigt, daß in der Rechtsprechung des BSG eine Ausschlußfrist nur in dem Umfang zu beachten ist, als ihre Einhaltung durch den Sinn der betreffenden Regelung gedeckt ist (vgl BSGE 14, 246, 250), und daß ferner eine Berufung auf die Ausschlußfrist ausgeschlossen ist, wenn sich ergibt, daß das Interesse der Allgemeinheit oder der Verwaltung an der Einhaltung dieser Frist gering ist, auf der anderen Seite jedoch ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen (vgl BSG SozR 4100 § 72 Nr 2; SozR 5486 Art 4 § 2 Nr 2; BSGE 48, 12; und BSG SozR 2200 § 1227 Nr 25). Auf diese Weise wird dem Bedürfnis, den Bürger nicht in jedem Falle an für ihn "zufälligen" Fristversäumnissen festzuhalten, in einer dem gesetzgeberischen Anliegen der jeweiligen Norm entsprechenden Umfange und damit sogar besser Rechnung getragen, als dies eine generell und unterschiedslos anzuwendende Wiedereinsetzungsvorschrift könnte.
Hieraus ergibt sich zugleich, daß die erforderliche Interessenabwägung nicht für jede Ausschlußfrist in gleicher Weise zu erfolgen hat; deshalb kann zB die zu § 2 Abs 1 Nr 11 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG- (Antragspflichtversicherung) vorgenommene Interessenabwägung, nach der ein Verstoß gegen Treu und Glauben durch Berufung auf die Ausschlußfrist regelmäßig nur noch in Betracht kommt, wenn die Behörde in irgendeiner Form durch ihr Verhalten die Verspätung begünstigt hat (vgl SozR 2200 § 1227 Nr 25), nicht ohne weiteres auf die Ausschlußfrist des § 10 WGSVG übertragen werden, wie im übrigen zwischen Ausschlußfristen im Leistungsrecht un solchen im Beitragsrecht durchaus Unterschiede bestehen (SozR 5486 Art 4 § 2 Nr 2). Es bedarf deshalb keiner Auseinandersetzung mit der Meinung des Klägers, daß eine Übertragung der zu anderen Vorschriften ergangenen Rechtsprechung auf die Ausschlußfrist des § 10 WGSVG eine verfassungswidrige Gleichbehandlung ungleicher Tatbestände enthalte.
Auch im Falle des Klägers könnte eine auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützte Nachsichtgewährung gegenüber der Versäumung der Ausschlußfrist in Betracht kommen. Anders als bei der Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG, wo in aller Regel langfristig wirksame Interessen der Antragsteller auf dem Spiel standen und deshalb davon auszugehen war, daß der Gesetzgeber die erforderliche Abwägung (von Ausnahmen abgesehen) selbst schon vorgenommen hatte, kann die Interessenabwägung im Rahmen von § 10 WGSVG zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen, da die Nachentrichtungsbedürfnisse und die Nachentrichtungsmöglichkeiten hier bei den einzelnen Antragstellern ganz verschieden liegen können. Dementsprechend ist hier auch ein größerer Raum für eine Abwägung bei der Rechtsanwendung gegeben. Bei § 10 WGSVG kommt hinzu, daß es sich um eine Norm des Wiedergutmachungsrechts handelt. In diesem Bereich besteht ein besonderes öffentliches Interesse daran, daß alle, denen das Gesetz Antragsrechte verliehen hat, an deren Ausübung nicht durch einen - in der Regel verfolgungsbedingten - entfernten und evtl schwer erreichbaren Wohnsitz gehindert werden. Dieses besondere öffentliche Interesse gebietet es, gegenüber der gesetzlichen Ausschlußfrist Nachsicht zumindest dann zu gewähren, wenn die Fristüberschreitung gering ist, der Berechtigte ein Opfer der typischen Schwierigkeiten geworden ist, die der verfolgungsbedingte Wohnsitz im Ausland mit sich bringt, außerdem erhebliche Interessen des einzelnen auf dem Spiel stehen und ihn selbst an der Fristversäumung kein Verschulden trifft.
Der Kläger begehrt die Nachentrichtung von Beiträgen für einen Zeitraum von 16 bis 17 Jahren. Daraus ist zu entnehmen, daß es sich um eine Angelegenheit von erheblichem Gewicht für seine Altersversorgung handelt. Die Fristversäumnis hat demgegenüber für die Erreichung des Normzwecks ein geringes Gewicht. Die Befristung betraf nur den Antrag als solchen. Die Konkretisierung im einzelnen wie auch die Zahlung der erforderlichen Beträge nahm ohnehin regelmäßig einen längeren Zeitraum in Anspruch. Die Frist diente lediglich dazu, das Nachentrichtungsrecht aus Gründen der Übersichtlichkeit und zur Vermeidung von Manipulationen zu begrenzen, hatte also im wesentlichen Ordnungscharakter. Diese Ziele wurden durch die geringfügige Fristüberschreitung nicht in Frage gestellt. Die Interessenabwägung kann allerdings auch bei Verfolgten nicht generell zur Gewährung von Nachsicht unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben führen. In den oben abgesteckten Grenzen ist sie aber erforderlich, um dem Gesetzeszweck der Wiedergutmachung und den Geboten der Verfassung (Rechtsstaatsprinzip, Gleichbehandlung) zu genügen.
Voraussetzung ist allerdings, wie schon dargelegt, daß dem Antragsteller selbst an der Versäumung der Frist kein Verschulden trifft. Insofern könnte hier für den Kläger von Bedeutung sein, ob und welche Informationsmöglichkeiten er an seinem Wohnsitz in Namibia über eine für ihn in Betracht kommende Beitragsnachentrichtung und die dafür vorgeschriebene Antragsfrist hatte. Als Informationsquelle käme dabei vor allem das frühere deutsche Konsulat in Windhoek in Frage, das bei der Antragstellung im Jahre 1976 noch bestanden zu haben scheint. Inwieweit der Kläger sich unter Benutzung der für ihn verfügbaren Unterrichtungsmöglichkeiten rechtzeitig Kenntnis über seine Nachentrichtungsbefugnisse und deren fristgerechte Wahrnehmung hätte verschaffen können, wird das LSG noch zu klären haben und danach abschließend darüber entscheiden, ob der Kläger die Antragsfrist schuldhaft versäumt hat. Bei einer Verneinung der Frage wird der Kläger zu der von ihm beantragten Beitragsentrichtung zuzulassen sein.
Angesichts dieser Möglichkeiten einer Nachsichtgewährung bedarf es hier keiner Erörterung, ob dem Kläger auch ein Herstellungsanspruch zustehen könnte, wenn die Beklagte ihrer allgemeinen Informationspflicht nicht genügt und das Konsulat in Windhoek nicht mit den erforderlichen Unterlagen versorgt hätte, oder ob ein Herstellungsanspruch sogar dann in Betracht käme, wenn diese Unterlagen zwar geliefert wurden, von dem Konsulat aber den Berechtigten nicht zur Kenntnis gebracht worden wären.
Da das BSG die fehlenden Ermittlungen nicht selbst vornehmen kann, war das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen