Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Bestrafung nach dem Militärstrafrecht (hier: Stubenarrest wegen Dienstaufsichtsverletzung) ist dem militärischen Dienst eigentümlich. Die Anwendbarkeit des BVG § 1 Abs 1 ist nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß die verhängte Strafe kein offensichtliches Unrecht iS des BVG § 1 Abs 2 Buchst d darstellt.

2. Bei einer Selbsttötung hat das Gericht ua den Sachverhalt durch die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zu klären.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. d Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juni 1959 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin zu 1) war die Ehefrau, der Kläger zu 2) ist der Sohn des am 15. Mai 1944 verstorbenen Oberfunkmeisters Karl G (G.). Dieser erhielt am 7. Mai 1944 von seinem Kompanieführer den Auftrag, vom Nachrichtenpark der 6. Armee in G (Rumänien) mit einem LKw Nachrichtengeräte abzuholen. Auf dieser Fahrt begleitete ihn als Fahrzeugführer der Schirrmeister der Kompanie. Unterwegs trafen beide einen ehemaligen Kameraden, mit dem sie bei einer Fahrtunterbrechung Wein tranken. Nach der Ankunft im Armeenachrichtenpark verließ G. zur Erledigung seines Auftrags das Fahrzeug. Während seiner Abwesenheit kam der frühere Generalfeldmarschall Sch zufällig an dem geparkten LKw vorbeigefahren. Er hielt an und weckte den inzwischen im Führerhaus eingeschlafenen Schirrmeister. Hierbei bemerkte er, daß dieser Alkohol getrunken hatte. Nach der Rückkehr des G. beschuldigte er diesen der mangelnden Dienstaufsicht, weil der Schirrmeister trotz Alkoholgenusses das Fahrzeug gesteuert hatte und befahl beiden, sich seiner Kolonne zur Kaserne in G anzuschließen. Dort wurde G. mit fünf Tagen Stubenarrest bestraft. Einige Tage später, am 15. Mai 1944, teilte der Kompanieführer dem inzwischen zu seiner Kompanie zurückgekehrten G. mit, daß er die dienstliche Weisung erhalten habe, die verhängte Strafe zu vollstrecken und von dem Vollzug der Strafe Meldung zu erstatten. Kurz darauf erschoß sich G. mit seiner Dienstpistole in seiner Unterkunft.

Mit Bescheid vom 3. April 1956 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) die von den Klägern beantragte Hinterbliebenenrente ab, weil es eine Einschränkung der freien Willensbestimmung des Verstorbenen z. Zt. der Selbsttötung durch Sachverhalte im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht für wahrscheinlich hielt. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Die Berufung der Kläger wies das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 18. Juni 1959 zurück. Selbst wenn unterstellt werde, daß die Selbsttötung in einem Zustand des Ausschlusses der freien Willensbestimmung erfolgt sei und daß dieser Zustand in einem gewissen Zusammenhang mit der Bestrafung gestanden habe, sei die Ablehnung der Hinterbliebenenansprüche nicht zu beanstanden. Hierbei könne dahingestellt bleiben, ob die Bestrafung mit fünf Tagen Stubenarrest als offensichtliches Unrecht anzusehen sei (§ 1 Abs. 2 Buchst. d BVG) oder ob diese Bestrafung eine dem Wehrdienstverhältnis eigentümliche Besonderheit darstelle (§ 1 Abs. 1 BVG). Ein Rentenanspruch stehe den Klägern schon deshalb nicht zu, weil nicht die Bestrafung, sondern eine aus anderen Gründen aufgetretene Depression die wesentliche Ursache für die Selbsttötung gewesen sei. Das Verhalten des Verstorbenen könne nur auf eine abnorme seelische Reaktion zurückgeführt werden. Normalerweise habe für einen Soldaten, auch wenn es sich, wie hier, um einen anständigen, pflichtbewußten Mann gehandelt habe, der mit Leib und Seele Soldat gewesen sei und bei seinen Vorgesetzten als strebsam, tüchtig und zuverlässig gegolten habe, keine Veranlassung bestanden, sich wegen einer Bestrafung mit fünf Tagen Stubenarrest das Leben zu nehmen. Abnorme psychische Reaktionen seien jedoch im Versorgungsrecht, auch wenn grundsätzlich von der Persönlichkeit des Betroffenen auszugehen sei, nicht zu berücksichtigen. Die Selbsttötung könne auch nicht auf eine echte Kurzschlußhandlung zurückgeführt werden. Da zwischen dem Ausspruch der Strafe und der Mitteilung des Kompanieführers an G., daß die Strafe zu vollstrecken sei, einige Tage gelegen hätten, in denen sich G. innerlich mit der Bestrafung habe abfinden können, habe ihn die angekündigte Vollstreckung nicht unvorbereitet getroffen. Deshalb könne die Nachricht von der bevorstehenden Strafvollstreckung normalerweise nicht einen derartigen Schock ausgelöst haben, daß eine Selbsttötung verständlich erscheine. Der als Zeuge vernommene ehemalige Kompanieführer S., den G. am 15. Mai 1944 in deprimiertem Zustand verlassen hatte, sei von der Selbsttötung völlig überrascht gewesen und habe eine solche Reaktion nicht erwartet. Das LSG ließ die Revision nicht zu.

Mit der Revision beantragen die Kläger,

die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kläger rügen Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie unrichtige Anwendung der Kausalitätsnorm (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Sie sind der Auffassung, das LSG habe durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens klären müssen, ob die Selbsttötung des Verstorbenen auf einer Kurzschlußhandlung beruhte. Eine medizinische Beurteilung dieser Frage sei nur in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 10. Oktober 1947, vom 5. Februar 1949 und vom 5. Mai 1949 erfolgt. Durch diese Stellungnahmen sei eine weitere ärztliche Sachaufklärung jedoch nicht entbehrlich geworden. Sie widersprächen einander und hätten auch nicht die Aussage des Zeugen Sch vom 18. Juni 1959 berücksichtigen können. Unter diesen Umständen habe sich das LSG bei der Verneinung einer Kurzschlußhandlung nicht allein auf die Aussage des Zeugen Sch und seine eigene psychologisch-psychiatrische Beurteilung stützen dürfen, ohne auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen eingegangen zu sein oder die sehr eingehende Aussage des Kompanieführers zum Anlaß einer abschließenden psychiatrischen Begutachtung genommen zu haben. Darüber hinaus habe das LSG den Sachverhalt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer normalen Belastung und nach dem Maßstab der generellen Belastbarkeit sondern danach beurteilen müssen, ob nach der besonderen individuellen Belastung und Belastbarkeit G.'s festzustellen sei, daß dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse ihn zu dem Entschluß der Selbsttötung brachten. Entscheidend sei nicht, wie eine andere beliebige Durchschnittsperson auf die vorliegenden Belastungen normalerweise reagiert hätte, sondern allein, wie gerade G. nach der Struktur seiner Persönlichkeit in diesem Falle habe reagieren können und müssen (BSG 11, 50). Das habe das LSG verkannt.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält die von den Klägern gerügten Verfahrensmängel für unbegründet und die angefochtene Entscheidung für richtig.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch statthaft, weil das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), den die Revision ordnungsgemäß gerügt hat.

Die Kläger machen zu Recht geltend, der Sachverhalt sei vom LSG nicht genügend aufgeklärt worden. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Hierbei bestimmt es zwar im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessen die zur Aufklärung notwendigen Ermittlungen und Maßnahmen. Sein Ermessen wird jedoch durch die in § 103 SGG festgelegte Sachaufklärungspflicht in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt (vgl. BSG 2, 238). Das Gericht hat demnach alle Ermittlungen anzustellen, zu denen es sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen (BSG in SozR SGG § 103 Da 2 Nr. 7). Dieser Verpflichtung ist das LSG nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung kam es für die Entscheidung darauf an, ob die Selbsttötung G.'s eine echte Kurzschlußhandlung darstellte. Diese Frage hat das LSG nicht ohne Einholung eines psychiatrischen Gutachtens verneinen dürfen. Die versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 10. Oktober 1947, 5. Februar 1949 und 5. Mai 1949, in denen die Selbsttötung als Folge einer echten Kurzschlußhandlung bisher allein medizinischerseits behandelt worden ist, machten die Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen (Psychiaters) nicht entbehrlich. Der Selbstmord ist in der ärztlichen Stellungnahme vom 5. Februar 1949 als Kurzschlußhandlung bezeichnet und als Folge von Wehrdiensteinflüssen angesehen worden. Der Leitende Arzt Dr. K hat dieser Stellungnahme "nach Rücksprache mit dem Psychiater" Dr. Sch zugestimmt. Somit hatten diese Ärzte eine Wehrdienstbeschädigung angenommen. Wenn deren Auffassung auch nicht vom ärztlichen Berater des Leiters der Versorgungsbehörde geteilt worden ist, so mußte dem LSG die weitere Aufklärung dieser medizinischen Frage doch erforderlich erscheinen, zumal der ärztliche Berater sich bei der Ablehnung überwiegend nicht medizinischer Erwägungen bedient hat. Hinzu kommt, daß die damaligen Ärzte die Aussage des Zeugen Sch vom 18. Juni 1959 nicht verwerten konnten. Diese Aussage kann jedoch für die Beurteilung der Frage, ob die Selbsttötung auf einer Kurzschlußhandlung beruhte, von wesentlicher Bedeutung sein. Sie enthält Angaben über das Verhalten G.'s im Wehrdienst in der vor dem Vorfall in G. liegenden Zeit und gibt eine genaue und umfassende Auskunft, wie G. die Bestrafung und insbesondere die Ankündigung des Vollzugs der Strafe aufgenommen hat. Da diese Angaben in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen nicht berücksichtigt werden konnten, reichen die von den Versorgungsärzten abgegebenen Beurteilungen als Entscheidungsgrundlage nicht aus. Das LSG hat die Verneinung einer Kurzschlußhandlung aber auch nicht auf seine eigene Beurteilung ... stützen dürfen. Bei der Beurteilung einer medizinischen Frage darf das Gericht von der Anhörung eines Sachverständigen nur absehen, wenn es die erforderliche Sachkunde selbst besitzt und darlegt, worauf diese beruht (vgl. BSG in SozR SGG § 103 Da 11 Nr. 33). Diese Grundsätze hat das LSG nicht genügend beachtet. Es hat eine Kurzschlußhandlung verneint, weil zwischen dem Ausspruch der Strafe und der Ankündigung des Vollzugs der Strafe einige Tage lagen und weil der Zeuge Sch eine Selbsttötung G.'s nicht erwartet hatte. Auf Grund welcher Sachkenntnis es zu dieser medizinischen Schlußfolgerung gekommen ist, hat es nicht angegeben. Zwar sind die Anforderungen, die an den Ausweis der eigenen Sachkunde im Urteil zu stellen sind, je nach dem Schwierigkeitsgrad der zu entscheidenden Frage unterschiedlich. Ein Verfahrensmangel ist aber dann anzunehmen, wenn die Urteilsgründe überhaupt nicht zu erkennen geben, woher das Gericht seine Sachkenntnis bei der Beurteilung einer medizinischen Frage bezogen hat. Das trifft im vorliegenden Fall zu. Aus den Gründen des angefochtenen Urteils läßt sich auch mittelbar nicht entnehmen, worauf die medizinische Sachkunde des LSG beruhte. Eine medizinische Beurteilung der Frage, ob die Selbsttötung G.'s eine akute Kurzschlußreaktion darstellte oder auf der seelischen Struktur des Verstorbenen beruhte, ist bisher nur in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen aus den Jahren 1947 und 1949 erfolgt. Auf diese Stellungnahmen hat sich das LSG nicht gestützt. Es hat sie bei der Verneinung einer Kurzschlußhandlung mit keinem Wort erwähnt. Einer Auseinandersetzung mit den versorgungsärztlichen Stellungnahmen hätte es aber bedurft, weil in ihnen die Frage einer Kurzschlußhandlung von mehreren Ärzten bejaht, zumindest aber unterschiedlich beurteilt worden ist. Da mithin auch die eigene Beurteilung des LSG die Anhörung eines Sachverständigen nicht ersetzen konnte, greift die nach § 103 SGG erhobene Rüge durch. Auf Grund dieses Verfahrensmangels ist die Revision statthaft. Ob auch die weiteren von den Klägern gerügten Gesetzesverletzungen vorliegen, kann dahingestellt bleiben. Auf diese Rügen kommt es nicht mehr an.

Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß die angefochtene Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn dem LSG die festgestellte Gesetzesverletzung nicht unterlaufen wäre. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den übrigen Entscheidungsgründen des Berufungsurteils. Das LSG hat die Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheides allein deshalb bejaht, weil es die Bestrafung G.'s mit fünf Tagen Stubenarrest nicht als wesentliche Bedingung der Selbsttötung ansah. Es hat dabei unterstellt, daß die Selbsttötung unter Ausschluß der freien Willensbestimmung erfolgt ist und der Ausschluß der freien Willensbestimmung in einem gewissen Zusammenhang mit der Bestrafung gestanden hat; es hat dahingestellt sein lassen, ob die Bestrafung auf dem militärischen Dienst eigentümliche Verhältnisse zurückzuführen war. Das LSG hat also mit der Verneinung einer Kurzschlußhandlung nur dartun wollen, daß die Bestrafung keine wesentliche Bedingung für die Selbsttötung darstellte, zumal sich die Ausführungen des LSG darüber unmittelbar an seine Erörterungen über die "wesentliche Ursache" anschließen. Es kann deshalb nicht angenommen werden, das LSG hätte die Bestrafung mit fünf Tagen Stubenarrest auch dann nicht als wesentliche Bedingung für die Selbsttötung angesehen, wenn es eine Kurzschlußhandlung bejaht hätte. Das Urteil des LSG beruht mithin auf der gerügten Gesetzesverletzung, die zur Statthaftigkeit der Revision geführt hat. Es unterliegt deshalb der Aufhebung, sofern sich die Entscheidung nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Dies ist nicht der Fall. Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen würden die Entscheidung des Vordergerichts nur rechtfertigen, wenn der Ausschluß der freien Willensbestimmung zZt. der Selbsttötung nicht durch schädigende Vorgänge im Sinne des § 1 BVG herbeigeführt sein könnte. Diese Möglichkeit ist jedoch nicht auszuschließen.

Zwar stellten die Bestrafung G.'s mit fünf Tagen Stubenarrest wegen Verletzung der Dienstaufsichtspflicht und die Ankündigung des Kompanieführers von dem bevorstehenden Vollzug der Strafe keine Straf- oder Zwangsmaßnahmen dar, die den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen sind (§ 1 Abs. 2 Buchst. d BVG). Solche Maßnahmen sind nur dann als offensichtliches Unrecht zu bewerten, wenn sie sich mit den anerkannten Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit in keiner Weise vereinbaren lassen (vgl. BSG 6, 195). Ein solches krasses Mißverhältnis hat hier zwischen der Verletzung der Dienstaufsichtspflicht und der verhängten Strafe nicht bestanden. Nachdem zZt. der Bestrafung G.'s geltenden Militärstrafrecht (Militärstrafgesetzbuch - MStGB - idF vom 10. Oktober 1940, RGBl I 1348) wurde derjenige, der die ihm obliegende Beaufsichtigung eines Untergebenen vorsätzlich oder fahrlässig verabsäumte, mit Freiheitsstrafe bestraft (§ 147 MStGB). Von den vorgesehenen Freiheitsstrafen (Gefängnis, Festungshaft, Arrest, § 16 MStGB) war die Bestrafung mit Stubenarrest die geringste Strafart des Arrestes, die in geschärften, gelinden oder Stubenarrest zerfiel (§ 19 MStGB). Die in § 147 MStGB enthaltene Strafnorm und die nach dieser Vorschrift vorgesehenen Strafen bei Verletzung der Dienstaufsichtspflicht waren auch in dem vor dem zweiten Weltkrieg und vor 1933 geltenden MStGB vorhanden (vgl. §§ 16, 19, 147 MStGB vom 20. Juni 1872, RGBl I 174).

Die gegen G. verhängte Freiheitsstrafe erfüllt jedoch die Voraussetzung des § 1 BVG, weil eine Bestrafung mit fünf Tagen Stubenarrest wegen Verletzung der Dienstaufsichtspflicht dem militärischen Dienst "eigentümlich" ist. Dem Militärdienst eigentümlich sind alle Verhältnisse, die für die Eigenart dieses Dienstes typisch sind und die von den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens abweichen (vgl. Wilke, Komm. z. BVG, § 1 Anm. 3; Schieckel, Komm. z. BVG, § 1 Anm. 9; van Nuis-Vorberg, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, 2. Teil, 50). Um ein solches Sonderverhältnis handelt es sich bei der gegen G ausgesprochenen Strafmaßnahme. Im bürgerlichen Bereich hat die Verletzung der Aufsichtspflicht, die ein Vorgesetzter allein dadurch begangen hat, daß er einem Untergebenen den Alkoholgenuß während des Dienstes gestattet und sodann das Führen eines Kraftfahrzeugs duldet, beim Fehlen besonderer Umstände (zB Fahruntüchtigkeit, Gefährdung Dritter) nicht zwangsläufig eine Freiheitsstrafe zur Folge.

Die Anwendbarkeit des § 1 Abs. 1 BVG ist auch nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil die gegen G. verhängte Strafe kein offensichtliches Unrecht im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG darstellt. Bei dieser Vorschrift handelt es sich nicht um eine Sonderregelung in dem Sinne, daß ein Versorgungsanspruch im Zusammenhang mit einem Freiheitsentzug nur gewährt wird, wenn diese Straf- oder Zwangsmaßnahme als offensichtliches Unrecht anzusehen ist. Aus dem Wortlaut des § 1 BVG läßt sich nicht entnehmen, daß Buchst. d des Absatzes 2 eine ausschließliche Regelung für Schädigungen infolge Straf- und Zwangsmaßnahmen enthält. Absatz 2 dieser Vorschrift, wonach einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 Schädigungen nach Abs. 2 Buchst. a - d "gleichstehen", bringt zum Ausdruck, daß die in Abs. 2 angeführten Schädigungsvorgänge "neben" den in Absatz 1 geregelten Fällen einen Versorgungsanspruch begründen. Auch die Entstehungsgeschichte des § 1 BVG bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß Abs. 2 Buchst. d die Anwendbarkeit des Abs. 1 einschränkt. Die Gesetzesmaterialien (Begründung zum Entwurf des BVG, Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode, Drucks. Nr. 1333, 46; Protokolle über die Verhandlungen des 26. Ausschusses für Kriegsopfer und Kriegsgefangene des Deutschen Bundestages über das BVG S. 123 B) ergeben, daß § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG nach seinem Sinn und Zweck insbesondere die Fälle erfassen soll, die in der letzten Phase des Krieges durch das Vorgehen deutscher Wehrmachts-, Partei- und Zivildienststellen oder Einzelpersonen entstanden, um die Erfüllung eines Einsatzes zu erzwingen, obwohl der verlangte Dienst den Umständen nach nicht mehr erwartet werden konnte (vgl. BSG 6, 197). § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG hat vor allem den Zweck, die durch militärische Zwangs- und Strafmaßnahmen unmittelbar verursachten, normalerweise von Gesetz und Recht beabsichtigten und gebilligten Folgen dann zu entschädigen, wenn sie sich im Einzelfall als offensichtliches Unrecht darstellten. Da der Gesetzgeber in den übrigen in Abs. 2 des § 1 BVG geregelten Fällen (Buchst. a - c) eine Erweiterung des versorgungsberechtigten Personenkreises gegenüber § 1 Abs. 1 BVG bezweckte, ist überdies nach der Systematik des Gesetzes und nach dem in Abs. 2 zum Ausdruck gebrachten Sinn und Zweck anzunehmen, daß § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG eine zusätzliche, nicht aber auch zum Teil eine einschränkende Regelung gegenüber § 1 Abs. 1 BVG darstellt.

Auf Grund der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist es dem Senat nicht möglich, in der Sache selbst zu entscheiden. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob die Bestrafung oder die Ankündigung des Vollzugs der verhängten Strafe als wesentliche Ursache für die Selbsttötung G.'s anzusehen sind. Das LSG hat nicht festgestellt, in welcher Weise die verhängte Strafe oder der bevorstehende Vollzug der Strafe und in welchem Ausmaß andere Umstände auf die Persönlichkeit und Psyche des Verstorbenen eingewirkt und die zum Selbstmord führenden Depressionen verursacht haben.

Aus diesem Grunde war die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Im weiteren Verfahren wird das LSG unter Beachtung der in BSG 11, 50 aufgeführten Gesichtspunkte zu prüfen haben, ob die Bestrafung mit fünf Tagen Stubenarrest oder die Ankündigung des Strafvollzugs neben anderen in Betracht kommenden Ursachen wesentliche Bedingung für die Selbsttötung gewesen ist. Zu diesem Zweck wird es durch Einholung eines geeigneten fachärztlichen (psychiatrischen) Gutachtens klären müssen, in welcher Weise die Bestrafung oder der angekündigte Vollzug der Strafe gerade auf G. einwirkte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324530

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