Leitsatz (amtlich)
1. Wäre bei Gewährung des angemessenen Unterhalts der geschiedenen Frau iS des EheG § 58 der eigene angemessene Unterhalt des Mannes nicht gewährleistet, so muß der beiderseitige Bedarf im entsprechenden Verhältnis eingeschränkt werden.
2. Wenn der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau gegenüber dem allein oder überwiegend für schuldig erklärten Ehemann nach EheG § 59 zu beurteilen ist, besteht ein Unterhaltsanspruch der Frau gegenüber dem Manne insoweit nicht, als der eigene notdürftige Unterhalt des Mannes nicht gewährleistet wäre.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20, § 59 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. Juni 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) (sog. Geschiedenen-Witwenrente) aus der Arbeiterrentenversicherung ihres früheren Ehemannes.
Die Ehe der im Jahre 1913 geborenen Klägerin mit dem im Jahre 1911 geborenen Versicherten, der von Beruf Fleischergeselle war, wurde am 1. September 1949 geschieden. Durch Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Schöneberg vom 3. September 1951 wurde der Versicherte verurteilt, an die Klägerin Unterhalt in Höhe von 28,- DM monatlich zu zahlen. Unterhaltszahlungen wurden im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten nicht geleistet, die Klägerin wurde vielmehr vom Sozialamt unterstützt. Der Versicherte verdiente vom 1. Oktober 1956 bis zum 2. September 1957 wöchentlich netto rund 43,- DM. Am 3. September 1957 starb er.
Im Oktober 1957 stellte die Klägerin Antrag auf Gewährung der Hinterbliebenenrente. Durch Bescheid vom 17. Mai 1958 wies die Beklagte den Antrag ab. Der Versicherte sei nicht unterhaltspflichtig gewesen, weil er in den letzten Jahren vor seinem Tode überwiegend krank und arbeitslos gewesen sei und im letzten Jahr vor seinem Tode nur einen Verdienst erzielt habe, der es ihm allenfalls ermöglicht hätte, die unterhaltsberechtigten Kinder zu unterstützen. Der Klägerin hätte er keinen Unterhalt leisten können, ohne seinen eigenen Lebensunterhalt zu gefährden. Eine Unterhaltsleistung sei auch nicht erfolgt.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage. Durch Urteil vom 13. August 1959 hat das Sozialgericht (SG) Berlin den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin vom 1. Oktober 1957 an Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zu gewähren. Der Versicherte habe der Klägerin zwar im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet. Ob nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) eine Verpflichtung des Versicherten, der Klägerin Unterhalt zu leisten, bestanden habe, könne dahinstehen. Jedenfalls sei aber der Versicherte der Klägerin gegenüber im Zeitpunkt seines Todes "aus sonstigen Gründen" zum Unterhalt verpflichtet gewesen. Denn das Anerkenntnisurteil, das bis zu seinem Tode nicht abgeändert worden ist, sei als sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO anzusehen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Der Klägerin stehe Hinterbliebenenrente nicht zu, da die Voraussetzungen keiner der Alternativen des § 1265 RVO vorlägen. Eine Unterhaltsverpflichtung nach dem EheG habe nicht bestanden. Die eigene Einlassung der Klägerin, daß ihr Ehemann wegen Krankheit nie in der Lage gewesen sei, ihr Unterhalt zu leisten, und sie ihren Lebensbedarf durch Unterstützung des Sozialamts gedeckt habe, spreche dafür, daß eine Verpflichtung nach dem EheG nicht bestanden habe. Der Versicherte habe nur während der Dauer der Ehe für seine Frau und seine Kinder gesorgt, danach sei er nicht mehr dazu in der Lage gewesen. Nach der Lohnbescheinigung des Fleischermeisters Sch vom 30. März 1958 habe der Versicherte in der Zeit vom 1. Oktober 1956 bis zum 2. September 1957 einen Lohn von brutto 49,86 DM = netto rd. 43,- DM wöchentlich verdient. Der pfändungsfreie Grundbetrag habe damals nach dem Gesetz vom 22. April 1952 (BGBl I, 247) 39,- DM wöchentlich betragen. Für die beiden unterhaltsberechtigten Kinder seien zu diesen Freibeträgen noch 9,40 DM und 4,70 DM hinzugekommen. Das Einkommen des Versicherten habe somit weit unter dem pfändungsfreien Betrag gelegen. Dieser sei zwar bei Unterhaltsverpflichtungen kein absoluter Maßstab, er werde jedoch auch von den ordentlichen Gerichten in Unterhaltsprozessen den Schuldnern mit Recht häufig zugebilligt, weil anderenfalls der Arbeitswille des Unterhaltsverpflichteten beeinträchtigt würde. - Auch eine Unterhaltsverpflichtung aus "sonstigem Grund" habe nicht bestanden. Entgegen der Auffassung des SG sei unter "sonstigem Grund" im Sinne des § 1265 RVO eine vertragliche Unterhaltsverpflichtung, nicht aber ein Urteil zu verstehen. Das Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Schöneberg vom 3. September 1951 habe zudem nur noch formale Bedeutung gehabt. Die Klägerin habe nicht versucht, aus diesem Urteil eine Vollstreckung vorzunehmen, offenbar weil ihr bekannt gewesen sei, daß der Versicherte wegen Krankheit nicht mehr voll arbeitsfähig gewesen sei, und sie daher eine Zahlung nicht erlangen konnte. Dem Versicherten wäre es ohne weiteres möglich gewesen, auf Grund der geänderten Verhältnisse eine Abänderung des Anerkenntnisurteils zu erreichen. - Die dritte Alternative des § 1265 RVO komme nicht in Betracht, da nach der Scheidung Zahlungen des Ehemannes nach dem Vorbringen der Klägerin nicht geleistet worden seien.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie ist der Ansicht, daß das Anerkenntnisurteil ein "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO sei, so daß ihr Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zustehe.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 13. August 1959 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und ist der Auffassung, daß ein Unterhaltsurteil kein "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO sei.
Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die zulässige Revision hatte insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben, und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden ist.
Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 1265 RVO . Er ist hiernach nur dann begründet, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.
Es war zunächst zu prüfen, ob der Versicherte während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode (SozR RVO § 1265 Bl. Aa 7 Nr. 8) nach dem EheG verpflichtet war, der Klägerin Unterhalt zu leisten (1. Alternative, erster Unterfall des § 1265 RVO ). Da der Versicherte am 1. September 1949, also unter der Herrschaft des geltenden EheG von 1946, gestorben ist, kam es darauf an, ob nach den §§ 58 ff dieses Gesetzes während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten eine Unterhaltspflicht des Versicherten (BSG 5, 277 ff) bestanden hat. Nach § 58 aaO hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen des Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Wenn es auch nach dem angefochtenen Urteil den Anschein hat, daß das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten sei zumindest aus überwiegendem Verschulden des Versicherten geschieden worden, so fehlt es doch an einer ausdrücklichen Feststellung dessen. Wird von mindestens überwiegender Schuld des Versicherten ausgegangen, so fehlt es ferner an der Feststellung, welches der nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessene Unterhalt der Klägerin gewesen ist. Maßgebend sind die Lebensverhältnisse der Ehegatten zur Zeit der Scheidung, die sich insbesondere aus dem Beruf sowie den Einkommens- und Vermögensverhältnissen beider Ehegatten ergeben. Als angemessener Unterhalt der Ehefrau ist in der Regel etwa ein Drittel bis ein Viertel des Nettoeinkommens des Mannes zur Zeit der Scheidung anzusehen, wobei die Umstände des einzelnen Falles, insbesondere die sonstigen Unterhaltsverpflichtungen des Mannes, zu berücksichtigen sind. (Vgl. zum Vorstehenden Hoffmann-Stephan, EheG, Anm. 4 A zu § 58; Godin, EheG, 2. Aufl., Anm. 3 zu § 58; Brühl, Unterhaltsrecht, 2. Aufl. S. 56 ff). Da der Versicherte zur Zeit der Scheidung vorübergehend arbeitslos gewesen zu sein scheint - eine Feststellung darüber fehlt allerdings ebenfalls - wird, weil nur vorübergehende Einkommensverhältnisse nicht geeignet sind, ein zutreffendes Bild von den Lebensverhältnissen der Ehegatten zu geben, entscheidend sein, wie hoch das Einkommen des Versicherten in der letzten Zeit vor Beginn der Arbeitslosigkeit gewesen ist. Auch darüber fehlen jedoch Feststellungen. Wenn feststeht, wie hoch der der Klägerin zustehende angemessene Unterhalt zur Zeit der Scheidung war, muß zusätzlich die inzwischen bis zum Tode des Versicherten eingetretene Erhöhung der allgemeinen Lebenshaltungskosten in der Weise berücksichtigt werden, daß dieser Betrag entsprechend erhöht wird. Wenn auch grundsätzlich die Lebensverhältnisse zur Zeit der Scheidung maßgebend sind und später eintretende Veränderungen der Lebensverhältnisse, soweit sie nicht zur Zeit der Scheidung mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen sind, nicht berücksichtigt werden können, so muß doch eine zwischen dem Zeitpunkt der Scheidung und dem Zeitpunkt des Todes des Versicherten liegende allgemeine Erhöhung der Lebenshaltungskosten zu einer entsprechenden Erhöhung dieses Betrages führen, da anderenfalls der Lebensstandard der Klägerin, wie er zur Zeit der Scheidung bestanden hat, nicht mehr sichergestellt wäre. (Vgl. Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in Sachen Z. ./. LVA Freie und Hansestadt Hamburg - 12 RJ 98/62 -.) Der Versicherte hat, da er aus gesundheitlichen Gründen vor seinem Tode nicht mehr vollwertig tätig sein konnte, nur noch etwa 185,- DM netto monatlich verdient. Es ist sicherlich in hohem Grade zweifelhaft, kann aber vom erkennenden Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht entschieden werden, ob der Versicherte mit diesem Einkommen den angemessenen Unterhalt der Klägerin im Sinne des § 58 EheG 46 bestreiten konnte, ohne seinen eigenen angemessenen Unterhalt zu gefährden. Wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte der beiderseitige Bedarf im entsprechenden Verhältnis eingeschränkt werden müssen (Hoffmann-Stephan aaO, Anm. 3 B Abs. 2 zu § 58). Aber auf jeden Fall muß in einem Fall wie dem vorliegenden, in welchem infolge von Unterhaltsansprüchen minderjähriger Kinder der angemessene Unterhalt des Versicherten nicht mehr gewährleistet war und sich der Unterhaltsanspruch der Klägerin somit nach § 59 EheG 46 richtet, dem Versicherten der zur Bestreitung des eigenen notdürftigen Unterhalts erforderliche Betrag verbleiben. Dies hat das Berufungsgericht anscheinend auch richtig erkannt. Es glaubt allerdings, hierbei als Anhalt, wenn auch nicht als absoluten Maßstab, den Betrag verwerten zu können, der nach § 850 c der Zivilprozeßordnung (ZPO) unpfändbar ist. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Der notdürftige Unterhalt deckt vielmehr nur das zum Leben unumgänglich Erforderliche (vgl. dazu Brühl aaO S. 60). Auch insoweit kann der Senat mangels der erforderlichen Feststellungen eine Entscheidung selbst nicht treffen.
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht das vorliegende Anerkenntnisurteil nicht als "sonstigen Grund" im Sinne des § 1265 RVO angesehen. Wie der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) inzwischen durch Beschluß vom 27. Juni 1963 entschieden hat, ist ein vollstreckbarer Titel grundsätzlich als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO . Dies gilt nach dieser Entscheidung allerdings dann nicht mehr, wenn nach Erlaß des Unterhaltsurteils eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist, und infolgedessen eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber seiner früheren Ehefrau zur Zeit seines Todes nicht mehr bestanden hat, wenn also eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO oder eine Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO , wäre sie erhoben worden, Erfolg gehabt hätte. Es geht nicht an, einen öffentlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch davon abhängig zu machen, ob und gegebenenfalls wann der Versicherte eine Klage erhoben hat. Das Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Schöneberg vom 3. September 1951 muß somit als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO angesehen werden, wenn nicht später eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen der Klägerin oder des Versicherten eingetreten ist, und eine Unterhaltsverpflichtung infolgedessen zur Zeit des Todes des Versicherten nicht mehr bestanden hat. Auch insoweit fehlen die für die Entscheidung erforderlichen Feststellungen, insbesondere über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten und der Klägerin zur Zeit des Erlasses des Anerkenntnisurteils. Daher kann nicht entschieden werden, ob zwischen dem Erlaß des Unterhaltsurteils und dem Tode des Versicherten eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist. Auch kann mangels der erforderlichen Feststellungen nicht entschieden werden, ob, wenn das bejaht wird, während der Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber der Klägerin nicht mehr bestanden hat, wie bereits ausgeführt wurde.
Allein entscheidungsreif ist die Frage, ob die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 1265 RVO erfüllt sind. Diese sind nicht erfüllt, da nach den getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin keinen Unterhalt geleistet hat.
Es bleibt aber die Frage offen, ob die Voraussetzungen einer der bei den Unterfälle der ersten Alternativen des § 1265 RVO gegeben sind. Insoweit konnte eine Entscheidung nicht getroffen werden, da es, wie bereits ausgeführt wurde, an den erforderlichen Feststellungen mangelt. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
RegNr, 2082 |
FEVS, 12, 30 (Leitsatz 1-2 und Gründe) |
SozR, v 20.2.1946 (Leitsatz) |
SozR, (Leitsatz und Gründe) |
SozR, v 20.2.1946 (Leitsatz) |