Orientierungssatz

Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit unterbrochen worden ist, sind (nur dann) Ausfallzeiten iS des RVO § 1259 Abs 1 Nr 1, wenn sie in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen bescheinigt sind.

Zeugenaussagen, jedenfalls die Aussagen solcher Zeugen, die nicht berufen sind, medizinische  Sachverhalte zu beurteilen, können als kein geeignetes Beweismittel für die Feststellung der Tatbestände nach RVO § 1259 Abs 1 Nr 1 und 2 angesehen werden und sind deshalb vom Zeugenbeweis insoweit ausgeschlossen.

Die Frage, ob dies auch für die Aussagen eines Arztes oder anderer fachkundiger Personen als "sachverständiger Zeugen" (ZPO § 414) zu gelten hätte, ist hier nicht zu entscheiden.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; ZPO § 414 Fassung: 1950-09-12

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 9. März 1967 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 10. September 1965 ein Altersruhegeld von monatlich 463,20 DM ab 1. September 1965. Der Kläger beanstandete die Rentenhöhe. Er begehrte, die Zeit vom 11. Mai 1926 bis 30. April 1928, in der er infolge Krankheit arbeitsunfähig gewesen sei, als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu berücksichtigen; schriftliche Unterlagen über diese Arbeitsunfähigkeit seien allerdings nicht mehr vorhanden und auch nicht mehr zu beschaffen. Die Beklagte lehnte dieses Begehren ab.

Mit der Klage berief sich der Kläger zum Beweise seiner Arbeitsunfähigkeit in der streitigen Zeit auf das Zeugnis seiner Ehefrau, seines Schwagers und eines früheren Wohnungsnachbarn.

Das Sozialgericht (SG) Bremen vernahm die genannten Zeugen und verurteilte darauf die Beklagte, bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers die Zeit vom 11. Mai 1926 bis April 1928 nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG als Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen (Urteil vom 25. Oktober 1966).

Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Bremen mit Urteil vom 9. März 1967 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Die von dem Kläger behauptete Arbeitsunfähigkeit sei nur dann als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu berücksichtigen, wenn sie in den Versicherungskarten "oder sonstigen Nachweisen bescheinigt ist". Nachweise i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG seien - auch nach den eigenen Angaben des Klägers - weder vorhanden noch zu beschaffen; durch Zeugenaussagen könnten "Nachweise" i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht ersetzt werden, der Kreis der zulässigen "Nachweismittel" sei insoweit ausdrücklich auf "einschlägige Urkunden" beschränkt. Das LSG ließ die Revision zu.

Mit der fristgemäß und formgerecht eingelegten Revision beantragte der Kläger,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger rügte, das LSG habe § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG verletzt.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch unbegründet.

Das LSG hat zu Recht verneint, daß bei der Feststellung des Altersruhegeldes des Klägers (ab 1. September 1965) die Zeit vom 11. Mai 1926 bis 30. April 1928 als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG (= § 1259 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -, beide idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes - RentVÄndG - vom 9. Juni 1965) zu berücksichtigen ist. Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit unterbrochen worden ist, sind (nur dann) Ausfallzeiten i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG, "wenn sie in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen bescheinigt sind".

Diese Voraussetzungen liegen für die Zeiten, deren Anrechnung der Kläger als Ausfallzeiten begehrt, nicht vor. Nachweise, in denen die von dem Kläger behauptete Arbeitsunfähigkeit "bescheinigt" ist, d. h. in denen das Wissen von der Arbeitsunfähigkeit des Klägers - von einer zur Äußerung hierzu berufenen Person oder Stelle - schriftlich niedergelegt ist, sind nach den Feststellungen des LSG und den eigenen Angaben des Klägers nicht vorhanden. Die Auffassung des Klägers, unter diesen Umständen habe er die behauptete Arbeitsunfähigkeit auch durch die Bekundungen der vom SG vernommenen Zeugen - seiner Ehefrau, seines Schwagers und eines früheren Wohnungsnachbarn - nachweisen können, trifft nicht zu. Zwar kann auch im Recht der Sozialversicherung der Beweis der rechtserheblichen Tatsachen in der Regel mit allen zulässigen Beweismitteln, also auch durch Zeugen geführt werden; für den Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG hat das Gesetz jedoch ausdrücklich eine Ausnahme normiert; es hat den Kreis der "Nachweismittel" insoweit grundsätzlich auf "einschlägige Urkunden" beschränkt (BSG 20, 255, 256). Wenn das Gesetz für die Ausfallzeittatbestände in Nr. 1 und Nr. 2 des § 36 Abs. 1 AVG die Beweismittel beschränkt hat, während es dies für die Tatbestände in Nr. 3 bis Nr. 5 des § 36 Abs. 1 AVG nicht getan hat, so liegt der Grund hierfür darin, daß bei der Feststellung der Tatbestände in den Fällen Nr. 1 und Nr. 2 - anders als in den Fällen Nr. 3 bis Nr. 5 - medizinische Fragen, und zwar in der Vergangenheit liegende medizinische Befunde und ihre fachkundige Beurteilung, im Vordergrund stehen (Beschluß des Bundessozialgerichts vom 2. November 1963, SozR Nr. 8 zu ArVNG Art. 2 § 14).

Das Gesetz hat danach Zeugenaussagen, jedenfalls die Aussagen solcher Zeugen, die nicht berufen sind, medizinische Sachverhalte zu beurteilen, als kein geeignetes Beweismittel für die Feststellung der Tatbestände nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AVG angesehen und deshalb den Zeugenbeweis insoweit ausgeschlossen. Die Frage, ob dies auch für die Aussagen eines Arztes oder anderer fachkundiger Personen als "sachverständiger Zeugen" (§ 414 der Zivilprozeßordnung) zu gelten hätte, ist hier nicht zu entscheiden. Das Gesetz hat gewisse Härten, die sich daraus ergeben können, daß sich lange in der Vergangenheit zurückliegende Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge des Verlustes schriftlicher Unterlagen hierüber nicht mehr nachweisen lassen, in Kauf genommen; er hat aber diese Härten durch die Vorschrift über die "Ausfallzeitpauschale" in Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes, jetzt idF des RentVÄndG vom 9. Juni 1965, weitgehend gemildert.

Der Einwand des Klägers, es verstoße gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 des Grundgesetzes), wenn vor ihm als "Einheimischem" für den Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG der "strenge Urkundenbeweis" gefordert werde, während für "Vertriebene" nach § 4 des Fremdrentengesetzes (FRG) für den Nachweis dieser Ausfallzeit der "leichtere Zeugenbeweis" zugelassen sei, ist unbegründet. Auch Vertriebene, die ihren Rentenanspruch auf die Vorschriften des FRG stützen, müssen jedenfalls eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit, die sie als eine im Bundesgebiet oder im Land Berlin eingetretene Ausfallzeit geltend machen, ebenso wie "Einheimische" in der nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG gebotenen Form nachweisen; die "Beweiserleichterung" des § 4 FRG gilt bei Tatsachen, die nach den allgemeinen Vorschriften erheblich sind (wie Ausfallzeiten nach § 36 AVG) nur für "außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes eingetretene Tatsachen". Soweit das Gesetz für die Feststellung "in ausländischen Gebieten eingetretener Tatsachen" leichtere Beweisanforderungen stellt als für die Feststellung "im Bundesgebiet eingetretener Tatsachen", handelt es sich weder um eine sachfremde noch um eine willkürliche Differenzierung.

Da das LSG die Rechtslage zutreffend gewürdigt hat, ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2296959

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