Leitsatz (redaktionell)

1. Die Versäumung der (materiell-rechtlichen Ausschluß-)Frist des AnVNG Art 2 § 43 (= AnVNG Art 2 § 44) schließt eine Nachprüfung des Rentenantrages  unter Anwendung des neuen Rechts schlechthin aus.

2. Ein Bescheid ist auch dann rechtmäßig, wenn er durch eine Vorschrift gerechtfertigt ist, die in dem Bescheid nicht angeführt und vom Versicherungsträger auch später nicht herangezogen worden ist, sofern nur die Heranziehung dieser Vorschrift den Bescheid nicht in seinem Inhalt wesentlich ändert.

Die Frist des AnVNG Art 2 § 43 S 3 ist eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist.

 

Normenkette

AnVNG Art. 2 § 43 S. 3 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 44 S. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. Mai 1964 wird zurückgewiesen.

Kosten sind der Klägerin auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin, geboren ... 1898, begehrt von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit. Sie stellte einen Rentenantrag erstmals im April 1952 bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg. Die LVA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 13. Dezember 1952 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei; sie beanstandete in diesem Bescheid 12 freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung, die die Klägerin in der Zeit zwischen Juni 1950 und April 1952 entrichtet hatte, und nachträglich noch einen Pflichtbeitrag für Mai 1950, weil die Klägerin schon seit April 1950 berufsunfähig und invalide gewesen und deshalb zur Entrichtung freiwilliger Leistungen nicht noch berechtigt gewesen sei (§ 190 AVG aF in Verbindung mit § 1443 Reichsversicherungsordnung - RVO - aF). Dieser Bescheid, der eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung enthielt, wurde von der Klägerin nicht angefochten. Auf entsprechenden Hinweis der LVA ließ sich die Klägerin die beanstandeten Beiträge zurückerstatten.

Im Dezember 1960/Februar 1961 stellte die Klägerin einen neuen Rentenantrag bei der Beklagten. Sie machte geltend, die Wartezeit sei erfüllt, weil weitere Pflichtbeitragszeiten (Zeiten einer Beschäftigung beim Deutschen Roten Kreuz von Ende 1941 bis 30. Mai 1945 und Beschäftigungszeiten in den Jahren 1946 bis Mai 1950 in der sowjetischen Besatzungszone) anzurechnen seien; außerdem seien die 13 Beiträge zwischen Mai 1950 und April 1952 zu Unrecht beanstandet worden; sie erklärte sich bereit, die erstatteten Beiträge wieder an die Beklagte zu entrichten.

Mit Bescheid vom 23. August 1962 lehnte die Beklagte diesen Antrag wegen Nichterfüllung der Wartezeit ab. In diesem Bescheid wurde auf die Vorschriften des neuen Rechts (§§ 23 Abs. 2, 28 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) verwiesen. Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg führte in seinem Urteil vom 12. Mai 1964 aus: Der Ablehnungsbescheid vom 13. Dezember 1952 sei bindend geworden. Die Klägerin habe zwar unter den Voraussetzungen des Art. 2 § 43 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) bis 31. Dezember 1958 eine erneute Prüfung ihres Antrages verlangen können; da sie aber diese Frist nicht gewahrt habe, sei sie mit dem Antrag auf Nachprüfung des vor dem 1. Januar 1957 geltend gemachten Anspruchs ausgeschlossen gewesen. Ob die Beklagte trotzdem über den Anspruch der Klägerin in dem Bescheid vom 23. August 1962 erneut sachlich, wenn auch wiederum mit negativem Ergebnis, habe entscheiden dürfen, könne offen bleiben, weil jedenfalls die Wartezeit weder nach altem noch nach neuem Recht erfüllt sei. Auf die Wartezeit könnten nach den gemäß Art. 2 § 6 AnVNG hier anzuwendenden Vorschriften des alten Rechts nur 48 Monate Pflichtbeitragszeit zwischen Februar 1946 und Ende April 1950 angerechnet werden; die in dem Bescheid vom 13. Dezember 1952 beanstandeten und später an die Klägerin zurückgezahlten Leistungen, seien unwirksam geworden; Einwände gegen die Rechtmäßigkeit der Beitragsbeanstandung und Rückzahlung könne die Klägerin nur in einem besonderen Beitragsstreitverfahren geltend machen. Während des durch die Dienstverpflichtung begründeten Beschäftigungsverhältnisses beim Deutschen Roten Kreuz von 1941 bis 1945 sei die Klägerin als Ehefrau eines damals aktiven Offiziers versicherungsfrei gewesen (§ 8 der Durchführungsverordnung vom 13. September 1941 zum Gesetz über weitere Maßnahmen in der Rentenversicherung aus Anlaß des Krieges in Verbindung mit § 14 AVG aF), die Zeit dieser Beschäftigung sei auch nicht eine Ersatzzeit alten Rechts; die Ersatzzeitvorschriften des neuen Rechts (§ 28 AVG nF) gälten hier nicht, weil der Versicherungsfall nicht nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sei. Entgegen der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl. insbesondere Urteil vom 18. November 1960, BSG 13, 259) sei auch nicht zu prüfen, ob bei der Klägerin etwa nach dem 31. Dezember 1956 der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit eingetreten sei und ihr Anspruch auf Rente nach § 24 Abs. 2 AVG nF zustehe.

Das LSG ließ die Revision zu.

Mit der rechtzeitig und formgerecht eingelegten Revision beantragte die Klägerin,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Berücksichtigung von 103 Beitragsmonaten - Versicherungszeit ab 1. Januar 1941 - Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Zur Begründung der Revision trug sie vor: Der Bescheid vom 13. Dezember 1952 sei hinsichtlich der Beitragsbeanstandung nicht bindend geworden. Die Klägerin habe auch ihren Erstattungsantrag angefochten, die Beklagte dürfe die Klägerin nicht an ihrer damaligen Rechtshandlung festhalten, weil die Klägerin 1952 nicht habe voraussehen können, wie sich die Beitragserstattung nach der Neuregelung der Rentenversicherung später für sie auswirken werde. Über die Voraussetzungen des Art. 2 § 43 AnVNG müsse in dem anhängigen Rechtsstreit entschieden werden. Die Beklagte habe über den Antrag der Klägerin auch noch nach Ablauf der Frist des Art. 2 § 43 Satz 3 AnVNG (31. Dezember 1958) entscheiden dürfen. Mit den von der Beklagten bereits angerechneten und mit den zu Unrecht beanstandeten Beiträgen sei die Wartezeit erfüllt, außerdem sei aber auch die Zeit der Dienstverpflichtung auf die Wartezeit anzurechnen. Das LSG habe ferner die Voraussetzungen eines Anspruchs der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit prüfen müssen.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist jedoch nicht begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 23. August 1962. Zum Erlaß dieses Bescheides ist die Beklagte verpflichtet gewesen, weil die Klägerin eine neue Prüfung ihres Rentenantrages u. a. mit dem Hinweis auf die "Rentenreformgesetzgebung einschließlich des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes" (vgl. ihren Antrag vom 29. Dezember 1960, Rentenakte Bl. 25) begehrt, also eine Prüfung ihres mit dem Bescheid vom 13. Dezember 1952 bindend abgelehnten Antrages nach Artikel 2 § 43 Satz 2 AnVNG beantragt hat. Mit dem Bescheid vom 23. August 1962, der auf einem für einen solchen Antrag nicht zugeschnittenen Formular erteilt worden ist, hat die Beklagte über den Antrag der Klägerin auf Rente nach neuem Recht entschieden, sie hat den Antrag wiederum abgelehnt, weil die Wartezeit nach den §§ 23 Abs. 3, 24 Abs. 3 AVG nF nicht erfüllt sei. Ob diese Begründung zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Der Bescheid vom 23. August 1962 ist nämlich jedenfalls deshalb rechtmäßig, weil der Antrag der Klägerin auf Prüfung, ob die Vorschriften des neuen Rechts hinsichtlich der Erfüllung der Wartezeit für sie günstiger sind, nicht innerhalb der Frist des Art. 2 § 43 Satz 3 AnVNG - bis 31. Dezember 1958 - gestellt worden ist. Die Beklagte hat sich zwar weder in dem Bescheid vom 23. August 1962 noch im gerichtlichen Verfahren auf die Fristversäumnis berufen. Hierauf kommt es aber nicht an. Ein Bescheid ist auch dann rechtmäßig, wenn er durch eine Vorschrift gerechtfertigt ist, die in dem Bescheid nicht angeführt und vom Versicherungsträger auch später nicht herangezogen worden ist, sofern nur die Heranziehung dieser Vorschrift den Bescheid nicht in seinem Inhalt wesentlich ändert (Urteil des BSG vom 16. März 1962, BSG 16, 253, 255 mit weiteren Hinweisen). Das ist hier nicht der Fall. Entscheidend ist, daß nach der einen wie nach der anderen Begründung der Rentenantrag abgelehnt worden ist. Die Beklagte hat über die Versäumung der Antragsfrist nicht hinweggehen dürfen. Die Frist des Artikels 2 § 43 Satz 3 AnVNG ist eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist, ihre Versäumung schließt eine Nachprüfung unter Anwendung der Vorschriften neuen Rechts schlechthin aus, die Wahrung der Frist ist eine zwingende Voraussetzung für die Anwendung des neuen Rechts auf den geltend gemachten Anspruch. Eine Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist ist in keinem Fall statthaft, auf die Gründe der Fristversäumung kommt es nicht an. Die Beklagte hat die Frist auch nicht etwa aus Billigkeitsgründen unbeachtet lassen dürfen. Dies hat das LSG richtig erkannt. Seine Auffassung steht im Einklang mit der von ihm zitierten Rechtsprechung des BSG.

Auf die weitere - vom LSG verneinte - Frage, ob die Beklagte entsprechend dem Urteil des BSG vom 18. November 1960 (BSG 13, 259) in dem Bescheid vom 23. August 1962 noch die Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Klägerin für die Zeit ab 1. Januar 1957 (§ 24 Abs. 2 AVG nF) habe prüfen müssen, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits schon deshalb nicht an, weil die Klägerin zu keiner Zeit geltend gemacht hat, sie sei unter der Herrschaft des neuen Rechts - also nach dem 31. Dezember 1956 - erwerbsunfähig geworden; sie hat im übrigen auch keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt.

Das LSG hat sonach zu Recht die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2296956

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