Orientierungssatz
Antrag nach § 109 SGG in Berufungsinstanz:
In der Berufungsinstanz muß zur selben Beweisfrage wie im ersten Rechtszug ein zweiter Arzt nur dann gutachtlich nach § 109 SGG gehört werden, wenn besondere Umstände das Verlangen rechtfertigen. Solche Umstände sind dann gegeben, wenn später weitere Gutachten eingeholt worden sind oder aus der Verhandlung vor dem LSG neue Tatsachen sich ergeben, die in dem ersten, nach § 109 SGG eingeholten Gutachten nicht gewürdigt worden sind (vgl BSG 1958-05-06 10 RV 813/56 = SozR SGG § 109 Nr 18).
Normenkette
SGG § 109
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.06.1967) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 20.10.1966) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Juni 1967 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des am 11. Dezember 1961 verstorbenen Beschädigten, der von Februar 1940 bis 4. Mai 1945 bei der Organisation Todt (OT) und anschließend bis zum 20. April 1950 in russischer Gefangenschaft war. Er bezog wegen Lungentuberkulose vom 1. Mai 1950 an Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. und vom 1. August 1951 an auch Pflegezulage, vom 1. August 1954 nur noch Rente nach einer MdE um 80 v. H. Die im Dezember 1961 beantragte Hinterbliebenenrente lehnte das Versorgungsamt H mit Bescheid vom 16. November 1962 ab. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 15. Oktober 1963). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim mit Urteil vom 20. Oktober 1966 festgestellt, daß der Tod des Beschädigten Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei, und hat den Beklagten verurteilt, den Klägerinnen vom 1. Januar 1962 an Witwen- und Waisenrente zu zahlen. Das SG hat den Tod durch Herzinfarkt für erwiesen gehalten; es ist bei dieser Feststellung den Sachverständigen Prof. Dr. H (Gutachten vom 22. Mai 1965) und Internisten Dr. E (Gutachten vom 5. August 1966/17. Oktober 1966) gefolgt, welche diese Todesart aus der Plötzlichkeit des Todes (Sekundentod) geschlossen haben, weil bei einer Hirnblutung in der Regel stunden- und tagelang anhaltende Bewußtlosigkeit eintrete. Das Herz sei durch das anerkannte Versorgungsleiden vorgeschädigt gewesen. Dieses vorgeschädigte Herz habe die im Rahmen der allgemeinen Gefäßsklerose einhergehende Coronarsklerose nicht mehr ausgehalten. Der exzessive Zwerchfellhochstand links habe zur Verlagerung des Herzens geführt und dieses ungünstig beeinflußt. Ohne die Lungentuberkulose hätte der Beschädigte wahrscheinlich ein Jahr länger gelebt.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 26. Juni 1967 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat den Bluthochdruck (in Übereinstimmung mit allen Sachverständigen) für essentiell gehalten. Dieser habe sich offenbar erst seit 1955 allmählich entwickelt und 1961 ganz erheblich erhöht. Das LSG hat die Frage offen gelassen, ob der Tod durch Hirnblutung oder durch Herzinfarkt eingetreten ist. Bei Annahme einer Hirnblutung sei das wehrdienstunabhängige Bluthochdruckleiden einzige Ursache, im Falle eines Herzinfarktes sei ein Zusammenhang mit der angenommenen Vorschädigung des Herzens zwar möglich, nicht aber wahrscheinlich, wenn auch der Zwerchfellhochstand die Leistungsbreite des Herzens deutlich herabgemindert habe. Auch sei nur möglich, nicht aber wahrscheinlich, daß der Tod als Folge der Lungentuberkulose um ein Jahr früher eingetreten sei als sonst. Das Gericht hat dem Hilfsantrag der Klägerinnen, einen bestimmten Arzt nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gutachtlich zu hören, nicht entsprochen, weil zu der gleichen Beweisfrage bereits im ersten Rechtszug das Gutachten von Prof. Dr. H nach § 109 SGG eingeholt worden sei.
Die Klägerinnen haben gegen das ihnen am 14. Juli 1967 zugestellte Urteil mit dem am 10. August 1967 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Schriftsatz vom 9. August 1967 Revision mit dem Antrag eingelegt,
unter Aufhebung des Berufungsurteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
Die Revision rügt, das LSG habe § 109 SGG dadurch verletzt, daß es von der beantragten Beweisaufnahme abgesehen habe. Der Beklagte habe seine Berufung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Medizinaloberrats Dr. R vom 18. November 1966 gestützt; das LSG habe aber selbst kein Gutachten eingeholt. Die versorgungsärztliche Stellungnahme weise auf das starke Übergewicht des Beschädigten hin, das durchaus zulasse, daß eine Verletzung durch Fall eingetreten sei. Im übrigen trete als Todesursache eine mögliche Vorschädigung des Herzens durch die Lungentuberkulose zurück gegenüber dem exzessiven Bluthochdruck. Das Recht der Klägerinnen, auch im zweiten Rechtszug nach § 109 SGG gehört zu werden, sei nicht verbraucht. Medizinaloberrat Dr. R habe zur Todesursache und zu einer Vorschädigung des Herzens neue Gesichtspunkte gebracht. Der Hilfsantrag nach § 109 SGG halte sich im Rahmen zweckentsprechender Rechtsverfolgung, weil zu der vom Beklagten beigebrachten versorgungsärztlichen Stellungnahme, insbesondere zur Frage der Vorschädigung des Herzens durch Schädigungsfolgen und zur Beantwortung der Frage über einen vorzeitigen Tod um mindestens ein Jahr noch ein ärztlicher Gutachter von Amts wegen hätte gehört werden sollen. Dadurch hätten auch die unberechtigten Angriffe gegen die Sachverständigengutachten des Prof. Dr. H und Dr. E (insbesondere die Behauptung einer nur unerheblichen Rechtsüberlastung des Herzens) abgewehrt werden können. Das Berufungsgericht habe den Klägerinnen weder grobe Nachlässigkeit noch Verschleppungsabsicht unterstellt. Das LSG habe die Bedeutung des § 109 SGG verkannt, wodurch die Klägerinnen in unzulässiger Weise gehindert worden seien, Widersprüche aufzuklären.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerinnen als unzulässig zu verwerfen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung schriftlich zugestimmt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Die Revision ist nur statthaft, wenn der allein gerügte Verfahrensmangel durchgreift, das LSG habe § 109 SGG (Sachaufklärungspflicht auf Antrag des Versorgungsberechtigten) verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das ist hier der Fall.
Nach § 109 SGG hat das Gericht auf Antrag des Versorgungsberechtigten einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören. Das LSG hat den in der letzten mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrag der Klägerinnen nicht etwa im Hinblick auf § 109 Abs. 2 SGG, sondern deshalb abgelehnt, weil zu der gleichen Beweisfrage Prof. Dr. H bereits im ersten Rechtszug gehört worden war.
Der Klagepartei ist grundsätzlich nicht verwehrt, sich im zweiten Rechtszug derselben Angriffs- und Verteidigungsmittel zu bedienen wie im ersten Rechtszug. Die Klägerinnen können also auch im zweiten Rechtszug grundsätzlich einen Antrag nach § 109 SGG zu einer Sachaufklärung in ihrem Sinne stellen (§ 157 SGG). Der Antrag muß sich allerdings in den Grenzen zweckentsprechender Rechtsverfolgung halten (SozR SGG § 109 Nr. 6). So hat das BSG in SozR SGG § 109 Nr. 18 ausgesprochen, daß das LSG zur selben Beweisfrage wie im ersten Rechtszug einen zweiten Arzt nur dann gutachtlich nach § 109 SGG hören muß, wenn besondere Umstände das Verlangen rechtfertigen. Solche Umstände sind dann gegeben, wenn später weitere Gutachten eingeholt worden sind oder aus der Verhandlung vor dem LSG neue Tatsachen sich ergeben, die in dem ersten, auf Antrag des Versorgungsberechtigten eingeholten Gutachten nach § 109 SGG nicht gewürdigt worden sind.
Das LSG hat sich mit Recht nicht darauf gestützt, daß die Klagepartei mit ihrem Antrag den Prozeß verschleppen wolle, denn das Gericht hat die Klägerinnen mit der Terminsbenachrichtigung nicht wissen lassen, daß es in der mündlichen Verhandlung einen etwaigen Antrag nach § 109 SGG nicht mehr entgegen nehme. Der Antrag war daher auch in der mündlichen Verhandlung noch nicht zu spät. Auch daß nur hilfsweise die Beweisaufnahme beantragt worden ist, beeinträchtigt den Antrag nicht; bedingte Prozeßhandlungen sind zwar im allgemeinen unzulässig, aber sie sind dann zulässig, wenn - wie hier - durch einen bedingten Antrag keine Unsicherheit in das Verfahren getragen wird (SozR SGG § 109 Nr. 17). Die rechtliche Situation hat sich vor dem Berufungsgericht dadurch für die Klägerinnen ungünstig gestaltet, daß das LSG auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Medizinaloberrats Dr. R vom 18. November 1966 keine weiteren medizinischen Beweise für notwendig gehalten hat und dies auch in der mündlichen Verhandlung vom 16. Juni 1967 nicht hat erkennen lassen. Dieser Prozeßlage hat die Klagepartei mit dem Hilfsantrag nach § 109 SGG entgegenzuwirken gesucht. Der von den Klägerinnen gestellte Hilfsantrag befand sich daher noch innerhalb der Grenzen zweckentsprechender Rechtsverfolgung. Der Antrag war auch nach der Beweislage inhaltlich gerechtfertigt; denn in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 18. November 1966 ist erstmals von einer Verletzung durch Sturz infolge des starken Übergewichts des Beschädigten die Rede gewesen. Der Versorgungsarzt hat auch eine wehrdienstbedingte Beschädigung des Herzens und eine Lebensverkürzung von einem Jahr als Folge des Versorgungsleidens bezweifelt. Weiter ist nach dem im ersten Rechtszug nach § 109 SGG erstatteten und der Klagepartei günstigen Gutachten des Prof. Dr. H vom 22. Mai 1965 das der Klagepartei ungünstige Gutachten des Prof. Dr. M vom 9. April 1966 eingeholt worden. Das Gericht mußte daher einen Arzt des Vertrauens der Klägerinnen hören (§ 109 Abs. 1 SGG). Der Sinn des § 109 SGG liegt gerade darin, den mißtrauisch gewordenen Versorgungsberechtigten in der Auswahl eines Sachverständigen seines Vertrauens zu schützen. Dieses Recht nach § 109 SGG gibt dem Versorgungsberechtigten das Bewußtsein, auf seiner Seite alles versucht zu haben, um den Sachverhalt aufzuklären, mag auch das Gericht einem anderen Sachverständigen folgen. Denn die Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden, daß der nach § 109 SGG benannte und gehörte Sachverständige den medizinischen Sachverhalt zugunsten der Klagepartei so schlüssig darlegt und begutachtet, daß sich hiervon das Gericht überzeugen läßt. Ein Beschädigter, der fünf Jahre im militärischen Dienst und weitere fünf Jahre in russischer Gefangenschaft gewesen ist, sich eine Lungentuberkulose mit einer MdE von 100 v. H. und später bis zum Tod um 80 v. H. zugezogen hat und geraume Zeit Pflegezulageempfänger gewesen ist, kann an Herz und Kreislauf so geschädigt sein, daß die sonst bestehende Lebenserwartung erheblich durch Schwächung der Widerstandskraft des Körpers verkürzt worden ist. Eine Sachaufklärung in dieser Richtung muß daher den Klägerinnen zugestanden werden. Das LSG hat mithin durch Ablehnung des Beweisantrages nach § 109 SGG das Gesetz verletzt.
Dieser Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil der Ausgang des nach § 109 SGG einzuholenden Gutachtens nicht abgesehen werden kann, und es möglich ist, daß der Sachverhalt anders zu beurteilen ist. Auf die Revision der Klägerinnen war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht wird die Sachaufklärung in der Richtung zu führen haben, daß es untersucht, inwieweit die Schwächung der Widerstandskraft des Beschädigten durch Gefangenschaft (Dystrophie) und Lungentuberkulose (geminderter Sauerstoffzufuhr) sich ungünstig auf Herz und Kreislauf ausgewirkt haben. Zu prüfen wäre auch, ob das erheblich gewordene Übergewicht des Beschädigten ebenso wie der Zwerchfellhochstand eine Folge der Lungentuberkulose ist, weil deren Heilung zu reichlicher Nahrungsaufnahme zwingt.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen