Leitsatz (amtlich)
Der Gesamtfreibetrag bei der Anrechnung des Elterneinkommens erhöht sich nur dann um einen besonderen Betrag für die auswärtige Unterbringung des Auszubildenden (§ 16 Abs 4 Nr 1 AusbFöAnO), wenn die Ausbildung nicht in generell-geeigneter Weise am Wohnort der Eltern - oder im Tagespendelbereich - erfolgen kann; daß die auswärtige Unterbringung aus sonstigen, nicht in den Risiko- und Aufgabenbereich der Bundesanstalt für Arbeit fallenden Gründen - hier: wegen einer Drogenentziehungstherapie - erforderlich ist, reicht für die Erhöhung des Gesamtfreibetrages nicht aus (Anschluß an BSG 30.1.1973 7 RAr 29/72 = BSGE 35, 164 = SozR Nr 1 zu § 40 AFG und an BSG 25.3.1976 12/7 RAr 75/74 = SozR 4440 § 11 Nr 1).
Normenkette
AusbFöAnO § 16 Abs. 4 Nr. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.09.1984; Aktenzeichen L 5 Ar 2011/83) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 30.09.1983; Aktenzeichen S 8 Ar 1117/82) |
Tatbestand
Im Prozeß geht es um die Frage, ob die auswärtige Unterbringung des Auszubildenden auch dann iS des § 16 Abs 4 Nr 1 der A Ausbildung "erforderlich" ist, wenn nicht Gründe des Ausbildungsangebots, sondern (nur) persönliche Gründe für die auswärtige Unterbringung bestehen.
Der im Jahr 1957 geborene Kläger, dessen Eltern in Dieburg Landkreis Darmstadt leben, war ab September 1980 wegen Drogenmißbrauchs in einer Einrichtung der Drogenhilfe Tübingen untergebracht. Am 1. September 1981 begann er in der dazugehörigen Metallwerkstatt in Dusslingen bei Tübingen eine Ausbildung zum Betriebsschlosser. Nach Beendigung der Langzeittherapie zog er am 1. April 1982 in eine Außenwohngruppe in Tübingen um. Am 31. März 1983 brach er die Ausbildung ab.
Mit Bescheid vom 5. Mai 1982 bewilligte das Arbeitsamt (AA) Reutlingen Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) von 378,-- DM monatlich für die Zeit von September 1981 bis März 1982 und von 379,-- DM monatlich für die Monate April und Mai 1982. Mit Bescheid vom 18. Mai 1982 änderte das AA wegen des Wechsels in der Unterkunftsart und der dadurch eingetretenen Verringerung des Gesamtbedarfs den Bescheid und bewilligte für die Monate April und Mai 1982 nur noch 29,-- DM monatlich; dabei stellte es dem Gesamtbedarf des Klägers mit 668,-- DM monatlich dessen Ausbildungsvergütung in Höhe von 365,-- DM monatlich und das anzurechnende Einkommen der Eltern gegenüber, wobei es keinen Freibetrag für auswärtige Unterbringung ansetzte.
Mit der Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen hat der Kläger zunächst beantragt, den zweiten Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für April und Mai 1982 eine BAB von 316,-- DM monatlich zu zahlen. Nachdem das AA mit Bescheid vom 30. November 1982 die Weiterbewilligung der BAB über den Monat Mai 1982 hinaus abgelehnt hatte, hat der Kläger beantragt, die Bescheide vom 18. Mai und 30. November 1982 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. April 1982 die BAB unter Anerkennung eines Freibetrages nach § 16 Abs 4 Nr 1 der A Ausbildung und von Fahrtkosten zu gewähren. Das SG hat mit Urteil vom 30. September 1983 diesem Antrag entsprochen und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, die auswärtige Unterbringung könne nicht nur aus Gründen des Ausbildungsplatzes, sondern auch aus zwingenden persönlichen Gründen erforderlich iS von § 16 Abs 4 Nr 1 der A Ausbildung sein; die Ausbildung des Klägers zum Betriebsschlosser habe deshalb nicht im Tagespendelbereich des Wohnorts seiner Eltern durchgeführt werden können, weil der Kläger gleichzeitig auf die in Tübingen angefangene Langzeittherapie angewiesen gewesen sei, ohne die eine Berufsausbildung nicht mit Erfolg habe abgeschlossen werden können.
Mit der Revision trägt die Beklagte vor, wegen der Notwendigkeit der Drogentherapie hätte der Kläger auch ohne die Ausbildung nicht bei seinen Eltern wohnen können. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die entgegengesetzte Auffassung der Vorinstanzen kann nicht übernommen werden.
Die Klage ist zulässig, da das SG dem Kläger Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Klagefrist bewilligt hat.
Unschädlich ist, daß die Bevollmächtigten des Klägers ihre Prozeßvollmacht erst im Berufungsrechtszug dem Gericht vorgelegt haben (BSGE 32, 253 = SozR Nr 17 zu § 73 SGG; vgl dazu auch GmSOGB in SozR 1500 § 73 Nr 4).
Die Klage ist nicht begründet. Daß dem Kläger nach § 40 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) BAB zu gewähren ist, wie das LSG dem Grunde nach entschieden hat, wird von der Revision nicht bezweifelt. Der Streit geht um die Höhe, auch soweit die Beklagte ab Juni 1982 wegen der Anrechnung von Einkommen überhaupt keine BAB zahlt. Rechtsgrundlage für die Höhe der Leistung ist die nach § 39 iVm § 191 Abs 3 AFG vom Verwaltungsrat der Beklagten erlassene Anordnung über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung (A Ausbildung) vom 31. Oktober 1969 (ANBA 1970, 213) idF der am 1. Januar 1982 in Kraft getretenen 21. Änderungsanordnung vom 16. März 1982 (ANBA 555); die Übergangsregelung des § 22 greift hier nicht ein. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Anordnung mehrmals als Rechtsnorm bestätigt (BSGE 35, 164 = SozR Nr 1 zu § 40 AFG für die ursprüngliche Fassung; SozR 4440 § 11 Nr 1 für die Fassung vom 19. März 1971). Der Kläger beanstandet die aufgrund der Anordnung berechnete Höhe der BAB nur insoweit, als er einen um die Fahrtkosten höheren Gesamtbedarf und ein um einen Freibetrag niedrigeres anzurechnendes Einkommen der Eltern annimmt. Nach § 16 Abs 4 Nr 1 A Ausbildung erhöht sich der Gesamtfreibetrag um 750,-- DM monatlich, wenn - der Auszubildende außerhalb des Haushalts der Eltern untergebracht ist und - für eine geeignete Berufsausbildung die Vermittlung einer Ausbildungsstelle erforderlich ist, die nur bei Unterbringung des Auszubildenden außerhalb des Haushalts der Eltern aufgenommen werden kann.
Während die erste Voraussetzung eindeutig vorliegt, geht um die zweite Voraussetzung der Streit der Beteiligten. Daß der Kläger die Ausbildung gerade in der Umgebung von Tübingen durchführen mußte, hat er mit seinem Angewiesensein auf die in Tübingen angefangene Langzeittherapie begründet; die Vorinstanzen sind ihm darin gefolgt. Die Revision ist dagegen der Ansicht, eine auswärtige Ausbildung müsse aus arbeitsmarkt- und berufspolitischen Gründen - wegen der Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt - erforderlich gewesen sein, um eine Erhöhung des Gesamtfreibetrages rechtfertigen zu können; persönliche - und damit wohl auch gesundheitliche - Gründe genügten nicht.
Der 7. Senat des BSG hat zu § 11 Abs 2 der A Ausbildung entschieden, es entspreche dem Sinn des AFG, auch bei den Kosten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung nur diejenigen, die durch die Berufsausbildung verursacht sind, nicht aber den Bedarf, der aus erzieherischen Gründen entsteht, zu berücksichtigen; die Heimunterbringungskosten seien daher nur dann durch die Berufsausbildung entstanden, wenn diese nicht am Wohnort der Eltern oder in zumutbarer Nähe möglich sei oder überhaupt kein Elternhaus bestehe (BSGE 37, 64, 68 f = SozR Nr 1 zu § 11 AA vom 31. Oktober 1969); die Beklagte habe in der A Ausbildung bei Vorhandensein der Wohnung eines Elternteiles am Ausbildungsort nicht darauf abstellen müssen, ob der Auszubildende zumutbar dort wohnen könne (SozR 4440 § 11 Nr 2). In dem nicht veröffentlichten Beschluß vom 21. Oktober 1981 - 7 BAr 77/81 - hat der gleiche Senat betont, daß § 16 Abs 4 Nr 1 A Ausbildung nicht von der Vermittlung in eine für den Auszubildenden geeignete Ausbildungsstelle, sondern von der Vermittlung in eine Ausbildungsstelle für eine "geeignete Berufsausbildung" spreche und keinen Bezug zwischen Eignung der Berufsausbildung und persönlichen Verhältnissen des Auszubildenden erkennen lasse. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.
Wenn es nach § 16 Abs 4 Nr 1 der A Ausbildung darauf ankommt, ob für eine geeignete Berufsausbildung eine Ausbildungsstelle erforderlich ist, die nur bei Unterbringung des Auszubildenden außerhalb des Haushalts der Eltern aufgenommen werden kann, dann handelt es sich ersichtlich um einen objektiven Maßstab, der von den persönlichen Verhältnissen des Auszubildenden unabhängig ist. Kann die Ausbildung in generell geeigneter Weise überhaupt am Wohnort der Eltern erfolgen, dann wird der Gesamtfreibetrag nicht erhöht, selbst wenn eine auswärtige Unterbringung des Auszubildenden aus sonstigen Gründen geboten wäre. Sonach muß die auswärtige Unterbringung aus Gründen erfolgen, die in den Risiko- und Aufgabenbereich der Bundesanstalt für Arbeit -BA- (§ 3 AFG) fallen. Auch Abs 4 Nr 2 und die Absätze 5 und 6 des § 16 der A Ausbildung, auf die das LSG zur Begründung seiner abweichenden Ansicht hinweist, betreffen lediglich Umstände berufs- und ausbildungsrechtlicher Art.
Nach den - unwidersprochen gebliebenen - Feststellungen des LSG ist die Ausbildung des Klägers (nur) deshalb nicht in der Umgebung von Dieburg durchgeführt worden, weil der Kläger auf die Langzeittherapie in Tübingen angewiesen war. Die Drogenentziehungstherapie war kein von der Beklagten zu vertretender Umstand, unabhängig davon, ob eine solche Therapie im Raum Dieburg möglich war oder ob eine Verlegung des Klägers von Tübingen nach Dieburg aus ärztlicher Sicht verantwortet werden konnte.
Die Klage kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt Erfolg haben, daß Drogenentziehung und Berufsausbildung eng miteinander verknüpft gewesen seien. Das BSG hat zwar, worauf die Revision zutreffend verweist, die Leistungspflicht der BA für die Kosten einer auswärtigen Unterbringung dann angenommen, wenn der Erfolg einer beruflichen Bildung nicht ohne gleichzeitige Stabilisierung der Persönlichkeit des Behinderten mit Hilfe auswärtiger Unterbringung zu gewährleisten ist; trotz der mit der Heimunterbringung absichtsvoll verbundenen allgemeinen Resozialisierung könnten dann deren Kosten der BA anheimfallen (SozR 4100 § 56 Nr 14 S 28 f). Nach den Feststellungen des LSG war es aber nicht so, daß die berufliche Bildung im Vordergrund stand und die Heimunterbringung nur das Mittel zur Erreichung des Zweckes darstellte. Es war eher umgekehrt. Im Vordergrund stand die Therapie des Drogenmißbrauchs, der vor Jahren zum Abbruch einer Lehre geführt hatte. Im Rahmen der Therapie erfolgte dann die Ausbildung, die zudem erst ein Jahr nach der Aufnahme der Therapie begonnen wurde.
Daß die BA in besonderen Fällen neben der von ihr finanzierten beruflichen Rehabilitation auch die Kosten der Therapie ehemaliger Drogenabhängiger trägt, steht entgegen der Auffassung des Klägers der Entscheidung nicht entgegen. Denn die Zuständigkeit der BA beschränkt sich auf die Förderung der beruflichen Bildung; nicht dazu gehören regelmäßig die Maßnahmen, die eine Behinderung beseitigen, bessern oder ihrer Verschlechterung entgegenwirken sollen; deshalb muß stets geprüft werden, ob die Maßnahmen ihr Schwergewicht in der sozialen Betreuung und Persönlichkeitsbildung haben oder durch das Erlernen beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten geprägt sind (BSG SozR 4100 § 56 Nr 4 S 4 f). Daraus folgt, daß die BA grundsätzlich nur diejenige nicht-berufliche Rehabilitation zu erbringen hat, die zum Erfolg der - den Schwerpunkt bildenden - beruflichen Rehabilitation erforderlich ist.
Wenn sonach die Voraussetzungen des § 16 Abs 4 Nr 1 der A Ausbildung nicht vorlagen, dann stand dem Kläger auch nicht ein Anspruch auf die Kosten für im Regelfall eine Heimfahrt monatlich zu den Eltern zu. Denn der Kläger war nicht "wegen seiner Ausbildung" auswärts untergebracht, wie das nach § 13 Nr 2 der A Ausbildung Bedingung für den Kostenersatz ist.
Auf die Revision der Beklagten hin war unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen