Leitsatz (amtlich)
1. Vorstrafen schließen, auch wenn sie auf charakterliche Mängel deuten, nach dem derzeit geltenden Recht die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (Vergleiche BSG 1956-03-21 7 RAr 7/55 = BSGE 2, 67) nicht aus.
2. Durch charakterliche Mängel wird die - nur medizinisch zu beurteilende - Arbeitsfähigkeit im Sinne des AVAVG 1927 § 88 Abs 1 nicht ausgeschlossen. Sie können nur ein Anzeichen für einen Geisteszustand sein, der seinerseits Arbeitsfähigkeit ausschließt.
3. Zahlt das Arbeitsamt auf Grund eines noch nicht rechtskräftigen Urteils des Sozialgerichts Alu oder Alfu auch für die Zeit vor Erlaß des Urteils, so liegt darin allein noch kein Anerkenntnis und kein Rechtsmittelverzicht seitens der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.
Normenkette
AVAVG § 87; AVAVG 1927 § 87; AVAVG § 87a; AVAVG 1927 § 87a; AVAVG § 88 Abs. 1; AVAVG 1927 § 88 Abs. 1; SGG § 154 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 11. August 1955 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 28. September 1953 hinaus Arbeitslosenfürsorgeunterstützung in der gesetzlichen Höhe zu gewähren.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts des Klägers vor dem Bundessozialgericht wird auf 100,- DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1889 geborene Kläger, von Beruf kaufmännischer Angestellter, bezog beim Arbeitsamt B seit August 1949 mit kurzfristigen Unterbrechungen Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu).
Durch Verfügung vom 1. Oktober 1953 wurde sie mit Wirkung vom 29. September 1953 eingestellt, da der Kläger nicht mehr vermittlungsfähig und deshalb nicht arbeitslos im Sinne des § 87 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) sei.
Der Kläger erhob Einspruch, wurde jedoch durch Entscheidung des Spruchausschusses des Arbeitsamts vom 4. November 1953 abgewiesen. Nach dem Gutachten des Arbeitsamtsarztes sei er in seinem Beruf "oder ähnlich" nur etwa zu 40 v. H. arbeitsfähig, für körperliche Arbeit dagegen nicht mehr verwendbar. Er erfülle danach in gesundheitlicher Hinsicht zwar noch die Mindestvoraussetzungen. Das allein genüge aber nicht. Er müsse außerdem zur Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, demnach subjektiv als Arbeitnehmer tätig sein wollen sowie objektiv brauchbar und geeignet sein, also auch in charakterlicher Hinsicht den Mindestanforderungen genügen. Das sei aber nicht der Fall, da er schon dreimal wegen Zoll- und Steuervergehen bestraft gewesen sei.
II. Die Berufung des Klägers beim Oberversicherungsamt ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht Bremen über. Dieses hob mit Urteil vom 5. Oktober 1954 die Vorderentscheidungen auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger über den 28. September 1953 hinaus in der gesetzlichen Höhe Alfu zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts sei die Vermittlungsfähigkeit nicht Voraussetzung der Unterstützung. Von dem Begriff des Arbeitseinsatzes sei die Arbeitsfähigkeit als medizinische Frage scharf zu trennen. Trotz seiner Vorstrafen könne der Kläger als kaufmännischer Angestellter in weniger verantwortungsvoller Stellung durchaus arbeitseinsatzfähig sein.
Die Beklagte legte Berufung ein. Unterstützung könne nur gewährt werden, wenn noch die Möglichkeit bestehe, den Zustand der Arbeitslosigkeit gemäß § 131 AVAVG durch Arbeitsaufnahme zu beenden. Dies sei hier zu verneinen. Außer der Arbeitsfähigkeit, die beim Kläger sehr beschränkt sei, müsse ein Arbeitsuchender auch die persönlichen und charakterlichen Voraussetzungen erfüllen, die auf dem Teil des Arbeitsmarktes gefordert würden, für den er nach beruflichem Werdegang, körperlicher und geistiger Verfassung in Betracht komme; denn nach § 64 AVAVG sei der Arbeitsvermittler berechtigt und auf Verlangen verpflichtet, Auskunft über Besonderheiten von Arbeitnehmern zu geben, wenn es besondere Umstände rechtfertigten. Dies treffe aber bei einer Beschäftigung zu, die ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfordere.
Der Kläger beantragte Abweisung der Berufung. Das Arbeitsamt habe ihm auf Grund des Urteils des Sozialgerichts den Unterschiedsbetrag von 400,- DM und seitdem laufend Alfu gezahlt. Es habe damit den Klageanspruch anerkannt und erfüllt. Materiell-rechtlich sei Vermittlungsfähigkeit nicht Voraussetzung der Unterstützung.
Das Landessozialgericht hat nach Anhörung des Arbeitsamtsarztes und eines weiteren Sachverständigen durch Urteil vom 11. August 1955 das Urteil des Sozialgerichts und die Ausführungsbescheide des Arbeitsamts B vom 1. und 2. November 1954 und 24. Januar 1955 aufgehoben, die Klage als unbegründet abgewiesen und die Bescheide des Arbeitsamts vom 30. September 1953 (richtig muß es heißen: 1. Oktober 1953) und des Spruchausschusses vom 4. November 1953 wiederhergestellt.
Auf den Einwand des Klägers, die Beklagte habe den Anspruch durch Zahlung anerkannt, hat das Gericht auf die §§ 154, 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG verwiesen, wonach die Beklagte zu diesen Zahlungen nach Erlaß des Urteils verpflichtet gewesen sei; soweit sie für die Zeit vorher gezahlt habe, sei sie dazu nach § 86 Abs. 3 SGG auch ohne Antrag des Klägers und ohne Nachteil für ihren Klageanspruch berechtigt gewesen.
Zur materiell-rechtlichen Beurteilung hat das Landessozialgericht festgestellt, daß der Kläger wegen Zoll- und Steuervergehen im Verwaltungsstrafverfahren zu Geldstrafen von zweimal 150,- DM und von 410,- DM sowie zum Wertersatz verurteilt worden ist. Wegen Nichtbeitreibbarkeit hat er entsprechende Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt. Ferner hat er nach diesen Feststellungen Arbeiterwochenfahrkarten zu Unrecht bezogen, indem er die entsprechenden Vordrucke der Bundesbahn mit fremden Firmenstempeln versah und mit falschem Namen unterschrieb.
Dem Kläger sei deshalb die Alfu zu Recht entzogen worden; denn nach seiner Gesamtpersönlichkeit sei er nicht mehr arbeitsfähig im Sinne des § 88 AVAVG. Das für kaufmännische Tätigkeiten ohne körperliche Belastung an sich sehr begrenzte Arbeitsfeld sei ihm verschlossen, weil er das dafür unerläßliche Mindestmaß an charakterlicher Zuverlässigkeit nicht mehr besitze.
Revision wurde zugelassen.
III. Gegen das am 5. September 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 1. Oktober 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 3. Oktober - Revision eingelegt. Durch Telegramm vom 4. Oktober 1955 - beim Bundessozialgericht an demselben Tage eingegangen - beantragte er, das Urteil aufzuheben und der Klage stattzugeben. Mit Schriftsatz vom 2. November 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 3. November - begründete er die Revision; er rügte Verletzung der §§ 86 Abs. 3, 154, 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG sowie des § 88 Abs. 1 AVAVG in Verbindung mit § 1 der Bremer Alfu-VO.
Aus dem Umstand, daß die Beklagte seinen Anspruch auch für die rückliegende Zeit befriedigt habe, müsse auf ein Anerkenntnis geschlossen werden, so daß die Beklagte mit ihrem Vorbringen nicht mehr gehört werden könne. Das Vordergericht habe die §§ 86 Abs. 3, 154, 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG falsch ausgelegt. Es habe im übrigen zu Unrecht angenommen, daß er wegen seiner Verfehlungen nicht mehr arbeitsfähig im Sinne des AVAVG sei; denn er sei lediglich wegen Zollvergehen verurteilt worden. Das Gericht habe auch unterlassen, eine Testuntersuchung über die Arbeitsfähigkeit in seinem Buchhalterfach anzuordnen.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 27. Februar 1956 beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 1. Mai 1956 erwidert.
Im einzelnen wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.
IV. Die Revision ist zulässig. Sie mußte auch Erfolg haben.
Zwar irrt der Kläger, wenn er annimmt, die Beklagte habe durch Zahlung des Unterschiedsbetrages für die Vergangenheit und Weiterzahlung der Alfu den Klageanspruch anerkannt. Nach § 154 Abs. 2 SGG bewirkt die Berufung der Bundesanstalt als Versicherungsträgers Aufschub nur, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlaß des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Für die Zeit nach Erlaß des Urteils des Sozialgerichts war sie dagegen verpflichtet, Alfu zu zahlen. Eine Verletzung der §§ 154 und 199 SGG liegt deshalb jedenfalls nicht vor.
Soweit das Arbeitsamt außerdem den bis zum Erlaß des Urteils des Sozialgerichts entstandenen Unterschiedsbetrag ausgezahlt hat, hielt es sich in rechtsirriger Auslegung des durch das Gesetz vom 10. August 1954 (Bundesgesetzblatt I S. 239) eingefügten Absatzes 3 zum § 86 SGG dazu aufgrund einer Beschwerde des Klägers für verpflichtet. Es hat dabei allerdings nicht beachtet, daß diese Vorschrift sich nur auf das Vorverfahren bezieht. Aus den ganzen Umständen - ein besonderer Bescheid ist nicht erteilt worden - ergibt sich jedoch, daß mit der Zahlung nicht ein neuer, bewilligender Verwaltungsakt gesetzt werden sollte. Als Anerkenntnis des Anspruchs könnte diese Maßnahme schon deshalb nicht gewertet werden, weil nach § 23 Abs. 1 des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 10. März 1952 (Bundesgesetzblatt I S. 123) in Verbindung mit § 4 Abs. 1 der Satzung der Bundesanstalt vom 24. Juni 1953 (Bundesanzeiger Nr. 153 vom 12. August 1953) die gerichtliche Vertretung nicht dem Direktor des Arbeitsamts zusteht. Der hierfür zuständige Präsident des Landesarbeitsamts war demnach berechtigt, Berufung einzulegen.
V. Materiell-rechtlich kommt es auf die Arbeitsfähigkeit des Klägers und auf seine Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt an. Nach § 88 Abs. 1 des Bremer Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Oktober 1947 (BrGBl. S. 259) in Verbindung mit § 1 Abs. 1 der Bremer Verordnung über die Arbeitslosenfürsorge vom 15. August 1949 (BrGBl. S. 167) ist arbeitsfähig, wer imstande ist, durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes zugemutet werden kann, wenigstens ein Drittel dessen zu erwerben, was geistig und körperlich gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.
Aus diesem Wortlaut, insbesondere aus dem Vergleich mit den "geistig und körperlich gesunden Personen", geht hervor, daß es sich um eine medizinische Frage handelt. Dabei schließt der Hinweis auf die billige Berücksichtigung der Ausbildung und des bisherigen Berufes zwar ein, daß bei der Bewertung der Arbeitsfähigkeit beachtet werden soll, bei welchen Beschäftigungen der Arbeitslose noch das sogenannte gesetzliche Lohndrittel verdienen kann. Immer aber kann es sich nur um die Frage der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit handeln. Hiermit hat sich der erkennende Senat - auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, insbesondere die Grundsätzlichen Entscheidungen Nr. 5258 (Amtliche Nachrichten 1939 S. 57) und Nr. 3780 (Amtliche Nachrichten 1930 S. 292) - in seinem Urteil vom 23. November 1955 (Bundessozialgericht 2 S. 36) näher befaßt, auf das Bezug genommen wird. Ist aber die Arbeitsfähigkeit nur medizinisch zu beurteilen, so gehen Betrachtungen, wie sie das Landessozialgericht über die "Gesamtpersönlichkeit" anstellt, fehl. Das Landessozialgericht hat hier den Begriff der Arbeitsfähigkeit zu Unrecht mit dem der Vermittlungsfähigkeit verkoppelt, der zwar im Entwurf der Großen Novelle zum AVAVG vorgesehen war, dem geltenden Recht aber fremd ist und auch in das vom 1. April 1957 an gültige Gesetz zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 (Bundesgesetzblatt I S. 1018) nicht aufgenommen wurde.
Nach der derzeitigen Rechtslage können demnach charakterliche Mängel Arbeitsunfähigkeit nicht herbeiführen. Ob sich für die Zukunft ein Wandel aus § 88 in der Fassung des Gesetzes vom 23. Dezember 1956 ergibt, weil dieser einen erweiterten Inhalt aufweist, hatte der Senat hier nicht zu prüfen. Ein Arbeitsloser kann gegenwärtig wohl durch erhebliche geistige Defekte (Geistesschwäche, Geisteskrankheit) arbeitsunfähig sein oder werden, charakterliche Mängel können aber nur ein Indiz für einen solchen Zustand abgeben, der seinerseits Arbeitsunfähigkeit im medizinischen Sinne begründen kann. Dafür liegt jedoch im Falle des Klägers kein ausreichender Anhalt vor, zumal alle Verfehlungen während der Zeit der Arbeitslosigkeit begangen und unter diesem Gesichtspunkt mit zu beurteilen sind. Eine Zurückverweisung der Sache zwecks erneuter Begutachtung hielt der erkennende Senat unter diesen Umständen nicht für geboten. Auch das Reichsversicherungsamt hat übrigens in der erwähnten Entscheidung Nr. 3780 Vorstrafen keinen Einfluß auf die Arbeitsunfähigkeit eingeräumt.
VI. Zu prüfen blieb aber noch, ob der Arbeitslose angesichts seiner charakterlichen Mängel dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
Mit der Frage der Verfügbarkeit hat sich der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. März 1956 (Bundessozialgericht 2 S. 67 Nr. V bis VII) eingehend auseinandergesetzt und im Rahmen des Begriffs der Arbeitslosigkeit festgestellt, daß der Arbeitslose dem Arbeitsmarkt subjektiv und objektiv zur Verfügung stehen müsse. In das Merkmal der Verfügbarkeit dürften jedoch nicht andere, im Gesetz nicht vorgesehene Umstände hineingetragen werden; insbesondere werde die Verfügbarkeit nicht dadurch ausgeschlossen, daß ein Arbeitsloser körperliche, geistige, seelische oder charakterliche Eigenschaften aufweist, die zwar seine Arbeitsfähigkeit nicht berühren, derentwegen er aber von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern abgelehnt wird (a. a. O. Nr. VII Abs. 4).
Aus den Verfehlungen des Klägers kann daher nach geltendem Recht nicht der Schluß gezogen werden, daß er nicht mehr für den Arbeitsmarkt verfügbar sei. Die Unterbringung solcher und anderer schwer zu vermittelnder Personen stellt für eine qualifizierte Arbeitsvermittlung, wie sie die beklagte Bundesanstalt betreiben soll, eine zwar schwierige aber lösbare und ihr jedenfalls obliegende Aufgabe dar.
VII. Unter diesen Umständen mußte das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Beklagte verurteilt werden, dem Kläger über den 28. September 1953 hinaus Alfu zu gewähren (§§ 170 Abs. 1 Satz 1, 130 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, die über die Gebühr des Prozeßbevollmächtigten des Klägers auf § 196 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1772231 |
NJW 1957, 727 |