Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Versicherungsschutzes auf einem Wege, der von der Mahlzeit im Wohnzimmer zur Aufnahme einer betrieblichen Tätigkeit innerhalb des Wohnhauses führen soll.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 5. November 1957 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der im Jahre 1885 geborene Kläger übte eine Tierarztpraxis in O aus. Nachdem er im Juni 1953 einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, mußte er sich zweitweise in der Praxis vertreten lassen. Von Ende Juli oder Anfang August 1953 an nahm er die Sprechstunden wieder wahr; er hielt sie in Räumen ab, die innerhalb seiner Wohnung lagen.
Am Nachmittag des 25. August 1953 hatte die Nichte des Klägers, die ihm den Haushalt führt, eine Bekannte, die Ehefrau St zu Besuch. Die beiden Damen und der Kläger tranken gemeinsam in einem Raum Kaffee, der während der Sprechstunden als Sprechzimmer zu dienen pflegte und sonst als Wohnzimmer benutzt wurde. Frau St verabschiedete sich gegen 18.00 Uhr. Sie wurde von der Nichte des Klägers zur Wohnungstür gebracht und noch ein Stück Wegs begleitet. Während der Abwesenheit seiner Nichte kam der Kläger in dem Zimmer, in dem man Kaffee getrunken hatte, zu Fall und zog sich einen Schenkelhalsbruch zu. Über den Zweck, den er mit dem unfallbringenden Weg verfolgte, gab der Kläger in der Unfallanzeige an, er habe aus dem auf dem Flur stehenden Apothekenschrank Arzneien holen wollen; dabei sei er gestolpert. Den Entschädigungsanspruch des Klägers lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. September 1954 ab, weil der Unfall sich innerhalb des häuslichen Wirkungskreises des Klägers ereignet habe und ein Zusammenhang mit der tierärztlichen Praxis nicht erwiesen sei.
Zur Begründung der hiergegen gerichteten Klage hat der Kläger vorgetragen, er habe den Arzneimittelschrank in gewohnter Weise kontrollieren und die Arzneitasche auffüllen wollen. Das Sozialgericht (SG.) hat nach Beweiserhebung durch Urteil vom 17. Januar 1956 die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe keine Betriebstätigkeit verrichtet, sondern sich lediglich auf dem Wege zur Arbeit befunden; ein solcher Weg stehe innerhalb der Wohnung nicht unter Versicherungsschutz. Auch die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG.) hat sich in seinem Urteil vom 5. November 1957 auf keine der teilweise voneinander abweichenden Darstellungen festgelegt, die der Kläger über die Umstände des Unfalls gegeben hat. Es hat unterstellt, daß er vom Kaffeetisch aufgestanden sei, "um etwas an seinem Arzneimittelschrank zu tun". In rechtlicher Hinsicht hat das LSG. ausgeführt: Der Raum, in dem der Kläger zu Schaden gekommen sei, habe - wie mehr oder minder alle seine Räumlichkeiten - gleichzeitig privaten und beruflichen Zwecken gedient. Es könne daher nicht ohne weiteres angenommen werden, daß ein Arbeitsunfall vorliege, vielmehr müsse der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit wahrscheinlich gemacht werden. Ebenso wenig könne, da der Versicherte vor dem Unfall etwas Privates getan habe, die Behauptung oder auch der Nachweis, daß eine betriebliche Tätigkeit beabsichtigt gewesen sei, den Gang dorthin zu einem versicherten Betriebsweg machen. Nicht schon der Gang zu einer beabsichtigten Betriebstätigkeit sei geschützt, sondern nur diese selbst (§ 542 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); die Betriebstätigkeit müsse erkennbar begonnen worden sein. Das sei hier nicht der Fall gewesen. § 543 RVO sei nicht anwendbar, weil kein Weg außerhalb des Wohnhauses vorliege. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 24. Januar 1958 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 24. Februar 1958 Revision eingelegt und diese am 22. März 1958 begründet.
Die Revision rügt Verletzung der §§ 542, 543 RVO. Sie meint, auch wenn die Arbeitsstätte innerhalb desselben Hauses liege, in dem sich die Wohnung befindet, sei es gerechtfertigt, den zur Erreichung des Arbeitsplatzes erforderlichen Weg als einen Weg zur Arbeitsstätte im Sinne des § 543 RVO anzusehen. Insoweit bezieht sich die Revision auf Entscheidungen des Bayerischen Landesversicherungsamts (LVAmts) vom 27. Januar und 2. März 1949 (Wagner, "Der Arbeitsunfall", 2. Aufl. S. 218 und 165 = Breithaupt 1949 S. 47 und 46). Jedenfalls aber, so führt die Revision aus, sei der Versicherungsschutz aus § 542 RVO herzuleiten. Der Weg zum Arzneimittelschrank sei als ein mit der Ausübung der Praxis zusammenhängender Weg anzusehen, weil die Arbeit am Schrank ohne den Weg dorthin nicht hätte verrichtet werden können. Die Rechtsauffassung des LSG. führe zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung der Versicherten, die in gemischt genutzten Räumen ihrer Arbeit nachgehen, gegenüber denjenigen, die beim Betreten rein betrieblich genutzter Räume einen Unfall erleiden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 25. August 1953 Entschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Urteils.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt. Von der Möglichkeit, in dieser Weise zu verfahren, hat der Senat Gebrauch gemacht.
II
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Dem LSG. ist im Ergebnis darin beizupflichten, daß ein Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO nicht vorliegt.
Nach den Feststellungen, die von der Revision nicht angegriffen und daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindend sind (§ 163 SGG), verunglückte der Kläger "kurz nachdem er (von der Kaffeetafel) aufgestanden war". Weiter hat das LSG. zu Gunsten des Klägers unterstellt, er sei aufgestanden, "um etwas an seinem Arzneimittelschrank zu tun". Hierbei hat das LSG. unter "etwas" offenbar, wie zu Gunsten des Klägers angenommen werden kann, eine zur Ausübung der tierärztlichen Praxis gehörende Verrichtung verstanden. Der Weg - in der Bedeutung des Sichfortbewegens -, auf dem der Kläger verunglückt ist, hat demnach sowohl den Abschluß des dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Klägers zuzurechnenden Kaffeetrinkens gebildet als auch mit der dem Versicherungsschutz unterliegenden Ausübung der Praxis insofern in Zusammenhang gestanden, als er eine Verrichtung in der Praxis ermöglichen sollte. Ein solches Sichhinwenden von einer privaten und daher unversicherten Tätigkeit zu einer betrieblichen Verrichtung ist jedoch, obwohl es notwendig ist, damit diese Verrichtung begonnen werden kann, in der Regel nicht in allen Phasen so betriebsbezogen, daß es schon im Hinblick auf den Zweck, dem es letztlich dient, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen wäre. So befindet sich z.B. ein Versicherter, der frühmorgens den Entschluß faßt, sich aus dem Bett zu erheben, um nach dem Ankleiden eine betriebliche Verrichtung außerhalb des Schlafzimmers auszuführen, beim Aufstehen und während des Ankleidens im Schlafzimmer grundsätzlich nicht unter Versicherungsschutz, weil er seinen rein persönlichen Lebensbereich noch nicht verlassen hat. Ob dies auch zutrifft, wenn der Versicherte durch besondere Umstände gezwungen ist, die beabsichtigte Tätigkeit in einem bestimmten Zeitpunkt und möglicherweise in Hast oder Eile auszuführen, bedurfte nicht der Entscheidung, weil der Sachverhalt hierzu keine Veranlassung bietet. Die Auffassung, daß der unversicherte Bereich bei einem Sichhinwenden von einer privaten zu einer betrieblichen Verrichtung sich grundsätzlich auf die rein persönliche Sphäre des Versicherten erstreckt, findet eine Parallele in der Rechtsprechung über den Beginn des versicherten Weges zu der außerhalb des Wohnhauses gelegenen Arbeitsstätte (§ 543 RVO). Auch hier setzt der Versicherungsschutz nicht schon in dem Augenblick ein, in dem der Versicherte sich nach Einnahme des Frühstücks und Beendigung des Ankleidens in Richtung auf seine Arbeitsstätte in Bewegung setzt, sondern erst nach dem Verlassen des häuslichen Bereichs (BSG. 2 S. 239). Die Auffassung, daß der Gang von einer privaten Tätigkeit zu einer betrieblichen Verrichtung innerhalb der Wohnung nicht dem Versicherungsschutz unterliegt, solange der Versicherte den rein persönlichen Lebensbereich noch nicht verlassen hat, entspricht der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) und auch der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Zu unterschiedlichen Entscheidungen ist es nur in Fällen gekommen, in denen der Versicherte in einem Bereich verunglückte, der sich sowohl der privaten als auch der betrieblichen Sphäre zuordnen ließ (RVA., AN. 1912 S. 861 Nr. 2549 sowie EuM. Bd. 27 S. 511 Nr. 193 und Bd. 41 S. 198; LSG. Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1955 S. 131; Hess. LSG., Breithaupt 1954 S. 907 und Wagner, "Der Arbeitsunfall", Nachtrag zum Anhang Nr. 5 der 2. und 3. Auflage, 1958 S. 170; Bayer. LSG., Bayer. Amtsblatt 1955 S. B 112; LSG. Hamburg, BG. 1956 S. 304; LSG. Celle, Niedersächs. Ministerialblatt 1958, Rechtsprechung S. 67, 80 und 114, Breithaupt 1959 S. 213; LSG. Hamburg, Breithaupt 1956 S. 794; LSG. Baden-Württemberg, Breithaupt 1959 S. 993). Wie in solchen Fällen der Versicherungsschutz abzugrenzen ist, ob er vor allem erst einsetzt, wenn die beabsichtigte Betriebstätigkeit - wie das LSG. meint - begonnen wird, bedurfte nicht der Entscheidung, weil der Kläger sich im Zeitpunkt des Unfalls nach der Auffassung des Senats noch im rein persönlichen Lebensbereich befand. Das Zimmer, in dem er zu Fall kam, diente zwar während der Sprechstunden auch der tierärztlichen Praxis. Es war aber dadurch, daß der Kläger, seine Nichte und Frau St. dort zum Kaffeetrinken Platz genommen hatten, der betrieblichen Zweckbestimmung vorübergehend entkleidet und gehörte jedenfalls während der Kaffeezeit und während des Unfalls des Klägers zu dessen privatem Lebensbereich. Dafür, daß die Einrichtung des Raumes besondere, der Praxis zuzurechnende Gefahren geboten oder sonstige Umstände vorgelegen hätten, die zu einer anderen rechtlichen Beurteilung führen könnten, sind keine Anhaltspunkte gegeben. Der Weg, den der Kläger vom Kaffeetisch bis zur Unfallstelle zurückgelegt hat, ist deshalb nicht als ein unter Versicherungsschutz stehender Betriebsweg im Sinne des § 542 RVO anzusehen.
Es fehlt auch aus einem anderen Grunde an dem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und der tierärztlichen Berufstätigkeit. Die Annahme eines solchen Zusammenhangs setzt voraus, daß der Versicherte durch seine Betriebstätigkeit an die Stelle geführt wurde, an der zu dieser Zeit die Gefahr wirksam wurde, der er erlag, während er ihr sonst wahrscheinlich nicht erlegen wäre (vgl. RVA., AN. 1912 S. 930; EuM. Bd. 22 S. 100 und Bd. 33 S. 15; BSG. 6 S. 164 (168, 169); Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl. § 542 Anm. 3 II, a S.64). Diese Voraussetzung ist hier insofern nicht gegeben, als der Kläger, auch wenn er keine Verrichtung am Arzneimittelschrank auszuführen gehabt hätte, nach dem Kaffeetrinken und dem Weggang der beiden Damen nicht an der Kaffeetafel sitzen geblieben, sondern aufgestanden wäre und sich vom Tisch wegbewegt hätte. Es ist kein Anhaltspunkt dafür gegeben, daß es in diesem Fall nicht zu dem Unfall gekommen wäre, vielmehr ist es wahrscheinlich, daß die Dinge sich auch dann so, wie geschehen, abgespielt hätten. Die Absicht, eine Verrichtung am Arzneimittelschrank auszuführen, und das Sichhinwenden zur Zimmertür haben daher keine besondere, die Ursächlichkeit im Sinne der Unfallversicherung begründende Beziehung zu dem Eintritt des Unfalls gehabt.
Das LSG. hat auch mit Recht die Anwendbarkeit des § 543 RVO auf den vorliegenden Fall verneint. Versicherungsschutz für Wegeunfälle besteht nach feststehender Rechtsprechung nur außerhalb des häuslichen Bereichs (vgl. BSG. 2 S. 239). Verunglückt ein Versicherter innerhalb dieses Bereichs auf einem Gang, den er aus der häuslichen Sphäre heraus zur Aufnahme der Arbeit im Hause angetreten hat, so ist die Annahme eines Wegeunfalls begrifflich ausgeschlossen (so z.B. auch Hess. LSG., Breithaupt 1954 S. 907 und Wagner a.a.O. Nachtrag 1958 S. 170; LSG. Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1955 S. 131; LSG. Celle, Breithaupt 1958 S. 617 sowie 1959 S. 213 und 993). Die Berufung der Revision auf die beiden angeführten Entscheidungen des Bayerischen LVAmts geht fehl, weil dort kein Weg im Sinne des § 543 RVO, sondern ein nach § 542 RVO unter Versicherungsschutz stehender Betriebsweg angenommen worden ist. Auch die in der Revisionsbegründung angeführte Anmerkung von Bogs (NJW. 1954 S. 287) vermag die Auffassung der Revision nicht zu stützen; sie bezieht sich auf einen Unfall außerhalb des häuslichen Bereichs.
Wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn der Unfall sich nicht im rein persönlichen Lebensbereich, sondern in einem von dem Kläger zur Zeit des Unfalls auch betrieblich genutzten Raume ereignet hätte, und ob bei Ablehnung des Versicherungsschutzes auch für einen solchen Fall - wie die Revision meint - eine ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber denjenigen Versicherten vorläge, die beim Betreten rein betrieblich genutzter Räume einen Unfall erleiden, bedurfte nicht der Prüfung, weil der Sachverhalt und die vom Senat daraus gezogenen Folgerungen hierzu keine Veranlassung boten.
Hiernach war die Revision als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen