Leitsatz (redaktionell)
Kein Versicherungsschutz für den auf einem Umweg zur Arbeitsstätte, der der Unterbringung der Kinder der berufstätigen Versicherten diente, erlittenen Unfall.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. Juli 1963 und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29. September 1961 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin wurde am 31. Dezember 1960 von einem Unfall betroffen.
Über das Unfallgeschehen enthält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende tatsächlichen Feststellungen: Die Klägerin ist in einem Schuhwarengeschäft auf der Bayreuther Straße in N als Verkäuferin halbtagsweise beschäftigt. Sie ist verheiratet und wohnt mit ihrem ebenfalls berufstätigen Ehemann und zwei Kindern in der Sch.-straße in N. Ihren täglichen Weg zur Arbeitsstätte legt sie zu Fuß zurück. Da die Klägerin ihre beiden Kinder, die zur Unfallzeit zwei und drei Jahre alt waren, nicht in der Wohnung allein lassen konnte, brachte sie die Kinder während ihrer Arbeitszeit regelmäßig bei ihren in der F.-straße wohnenden Eltern unter. Hierdurch war die Klägerin gehindert, ihre Arbeitsstätte auf dem kürzesten Weg aufzusuchen; sie war auf den Weg angewiesen, der über die Goethestraße, den Schillerplatz und die Löbleinstraße zur F.-straße und weiter durch den Stadtpark zur Bayreuther Straße führte.
Am 31. Dezember 1960 mußte die Klägerin ihre Arbeit um 10 Uhr aufnehmen. Sie hatte daher um 9.15 Uhr mit den beiden Kindern ihre Wohnung verlassen. Sie übergab die Kinder ihren Eltern in deren Wohnung und verließ das Haus alsbald wieder, um sich zu ihrer Arbeitsstätte zu begeben. In der Nähe des Hauses stürzte sie auf der Straße infolge Schneeglätte. Dabei zog sie sich einen Bruch des Sprunggelenks am rechten Bein zu.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 10. Mai 1961 mit der Begründung ab, die Klägerin sei vom unmittelbaren Weg zur Arbeitsstätte aus eigenwirtschaftlichen Gründen, nämlich wegen des Wegbringens ihrer Kinder zu ihren Eltern, abgewichen und habe dadurch den Zusammenhang mit dem Unternehmen unterbrochen. Da sich der Unfall während dieser Unterbrechungszeit ereignet habe, seien Entschädigungsansprüche der Klägerin nicht begründet.
Der Klage gegen diesen Bescheid hat das Sozialgericht Nürnberg stattgegeben. Es ist der Ansicht, das Unterbringen der Kinder bei den Eltern sei für die Klägerin Vorbedingung dafür gewesen, daß sie überhaupt ihre berufliche Beschäftigung habe aufnehmen können; deshalb sei der Umweg zu ihrer Arbeitsstätte für ihren Versicherungsschutz unschädlich gewesen.
Die Berufung der Beklagten hiergegen ist durch Urteil des Bayerischen LSG vom 3. Juli 1963 zurückgewiesen worden. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Klägerin habe zwar nicht unter Versicherungsschutz gestanden, als sie von dem kürzesten Weg zu ihrer Arbeitsstätte abgewichen sei, um ihre Kinder bei ihren Eltern unterzubringen; denn die Notwendigkeit, den verlängerten Weg zur Arbeit zu benutzen, sei durch familiäre Verhältnisse begründet gewesen. Trotzdem habe für die Klägerin aber im Zeitpunkt des Unfalls Versicherungsschutz bestanden, weil das private Wegbringen der Kinder bereits abgeschlossen gewesen sei, als die Klägerin verunglückte; sie habe den Weg nach der Arbeitsstätte erst vom Haus ihrer Eltern aus angetreten. Bei diesem Weg habe es sich nicht um einen Rückweg von einer privaten Tätigkeit, sondern um einen neuen Weg gehandelt, den die Klägerin zum Erreichen der Arbeitsstätte unternommen habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte, der das Urteil am 3. Oktober 1963 zugestellt worden ist, hat am 25. Oktober 1963 Revision eingelegt und sie am 30. Oktober 1963 begründet. Sie hat dazu ausgeführt: Die Klägerin habe sich auf einem erheblichen Umweg zu ihrer Arbeitsstätte befunden, als sie verunglückt sei. Diesen Umweg habe sie aus eigenwirtschaftlichen Gründen gewählt. Bis zur Wohnung ihrer Eltern habe sie nicht einen gesondert zu beurteilenden Wegteil zurückgelegt und etwa erst nach dem Aufenthalt in dieser Wohnung den Weg nach der Arbeitsstätte angetreten.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei und trägt unter Bezug auf die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 27. April 1961 in SozR Nr. 32 zu § 543 RVO aF und vom 30. August 1963 - 2 RU 243/61 - vor: Der zum Unfall führende Weg der Klägerin sei weder richtungsmäßig noch nach der Verkehrsanschauung ein Rückweg von der Wohnung der Eltern der Klägerin gewesen.
Die Revision der Beklagten ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin mit dem Unterbringen ihrer beiden aufsichtsbedürftigen Kinder bei ihren Eltern für die Dauer ihrer beruflichen Arbeitszeit eine ihrem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnende Tätigkeit verrichtet hat. In diesem Sinne hat der erkennende Senat in seinem zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts (BSG) vorgesehenen Urteil vom 30. September 1964 - 2 RU 161/60 - bereits entschieden. Dort ist ausgeführt, daß es an dem für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem zur Unterbringung der Kinder während der Arbeitszeit unternommenen Weg und der versicherten Arbeitstätigkeit fehlt, auch wenn ohne eine ausreichende Betreuung der Kinder eine gleichzeitige Arbeitstätigkeit der Eltern nicht möglich wäre.
Obwohl sich die Klägerin am Unfalltag von ihrer Wohnung aus nicht auf dem nächsten Weg zu ihrer Arbeitsstätte begeben konnte, weil sie ihre Kinder in der abseits dieses Weges gelegenen Wohnung ihrer Eltern unterbringen mußte, hat das LSG dem Umstand, daß der Zweck dieses längeren Weges unternehmensfremd war, keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Es hat vielmehr angenommen, daß es sich bei diesem Weg um zwei dem Ziel und Zweck nach verschiedene Wegteile gehandelt habe, von denen der erste Teil mit dem Erreichen der Wohnung der Eltern beendet gewesen und der zweite Teil dort begonnen worden sei. Diese Auffassung und die daraus hergeleitete Schlußfolgerung des LSG, die Klägerin habe beim Eintritt des Unfalls unter Versicherungsschutz gestanden, da sie in diesem Zeitpunkt nur zum Zwecke der Aufnahme ihrer versicherten Arbeitstätigkeit unterwegs gewesen sei, treffen jedoch nicht zu.
Zwar kann der Weg nach der Arbeitsstätte auch von einem anderen Ort als der eigenen Wohnung des Versicherten aus angetreten werden (vgl. das zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des BSG vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1964 - 2 RU 157/63 -). Wenn sich jedoch - wie im vorliegenden Streitfall - die Klägerin auf den Weg zur Arbeit von ihrer Wohnung aus begeben hat und aus dem vorstehend dargelegten Grunde nicht den direkten Weg dorthin einschlagen konnte, so hat entgegen der Ansicht des LSG der Zwischenaufenthalt der Klägerin in der Wohnung ihrer Eltern nicht ohne weiteres zur Folge, daß der gesamte Weg in zwei rechtlich verschieden zu beurteilende Teile zerfällt. Als Ausgangspunkt eines neuen Weges könnte die elterliche Wohnung nur dann angesehen werden, wenn der Aufenthalt der Klägerin in dieser Wohnung einen rechtlich ins Gewicht fallenden Einschnitt in das Zurücklegen des gesamten Weges bewirkt hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Klägerin hatte sich nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG nur eine kurze Zeit, und zwar nur so lange in der Wohnung ihrer Eltern aufgehalten, wie für die Übergabe der beiden Kinder in die Obhut der Eltern erforderlich war. Ihr Verweilen in dieser Wohnung ist nicht einer Betätigung gleichzuerachten, die geeignet sein konnte, dem vorangegangenen Weg eine selbständige Bedeutung zu geben. Das Zurücklegen des Weges der Klägerin diente von ihrer Wohnung aus - unabhängig von der Notwendigkeit, ihn über die Wohnung der Eltern zu wählen - dem Zweck, zur Arbeitsstätte zu gelangen.
Dies hat das LSG nicht ausreichend berücksichtigt. Jedenfalls rechtfertigen die Umstände, unter denen die Klägerin zunächst die Wohnung ihrer Eltern aufgesucht hat, nicht die Annahme, daß dort der Weg beendet sein sollte. Dementsprechend sollte der Weg, auf dem die Klägerin nach dem Verlassen der elterlichen Wohnung zu ihrer Arbeitsstätte weitergehen wollte, nicht neu begonnen werden. Da hiernach die Klägerin am Unfalltag ihren Weg nach der Arbeitsstätte im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF bereits von ihrer eigenen Wohnung aus angetreten hat, hätte das LSG den Weg als einen rechtlich einheitlichen Gesamtweg ansehen und unter dem Gesichtspunkt des Umweges betrachten müssen. Auf diesem Umweg stand die Klägerin nicht unter Versicherungsschutz, da es sich um eine erhebliche, nicht unternehmensbedingte Abweichung von dem direkten Weg zur Arbeitsstätte handelte. Der Weg über die Wohnung der Eltern verlängerte sich gegenüber dem unmittelbaren Weg um etwa ein Drittel. Dazu kommt, daß die Umwegstrecke in starker Ausbiegung von der direkten Wegeverbindung abwich und teilweise in einer anderen Richtung zu ihr verlief. Unter diesen vom LSG festgestellten Umständen stellte die Abweichung nicht eine unbedeutende, kleine Umwegstrecke dar, welche für den Versicherungsschutz unschädlich gewesen wäre. Sie stand zu dem direkten Weg der Klägerin nach der Arbeitsstätte nicht in einem angemessenen Verhältnis und ist daher als ein wesentlicher Umweg zu werten.
Da die Klägerin, wie eingangs ausgeführt ist, den weiteren Weg aus einem ihrer privaten Lebenssphäre zuzurechnenden Grund eingeschlagen hat, entfällt für ihn der nach § 543 RVO aF erforderliche ursächliche Zusammenhang mit ihrer versicherten Arbeitstätigkeit. Daran ändert nichts, daß die Klägerin diesen Weg regelmäßig gehen mußte (vgl. LVAmt Württemberg-Baden vom 8. März 1950 in Breithaupt 1950, 540 und LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 1957 in Breithaupt 1957, 1102).
Das LSG hat hiernach die Entschädigungspflicht der Beklagten zu Unrecht bejaht.
Die Klage mußte daher unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen