Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Nachprüfung einer vom Versicherungsamt gegen den behandelnden Arzt nach RVO § 1543d verhängten Ordnungsstrafe sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hinsichtlich der Strafhöhe auf die Prüfung beschränkt, ob das Versicherungsamt die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Anschluß an BSG 1961-08-28 3 RK 44/57 = BSGE 15, 161).

2. Nach Erlaß einer Strafverfügung wegen einer Zuwiderhandlung gegen Vorschriften der RVO, für die nicht die Gerichte zuständig sind, läuft auch dann keine neue Verjährungsfrist für die Strafverfolgung, wenn die Strafverfügung nicht bindend geworden ist, sondern in einem sozialgerichtlichen Verfahren nachgeprüft wird (vgl RVA AN 1914, 386; EuM 13, 26).

 

Normenkette

SGG § 54 Fassung: 1958-08-23; RVO § 147 Fassung: 1924-12-15, § 1543d Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. September 1958 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der selbständige Landwirt Anton B, der mit seinem landwirtschaftlichen Unternehmen der Westfälischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (BG) angehört, verunglückte am 11. November 1950. Das Pferdegespann, mit dem er Kartoffeln nach Münster gebracht hatte, ging durch. Er wurde vom Wagen geschleudert. Behandelnder Arzt war der Kläger, der die von der BG angeforderten Berichte und Auskünfte jeweils ordnungsgemäß erstattet hat. Das Verfahren wurde zunächst durch eine formlose Mitteilung der BG vom 28. März 1951 abgeschlossen. Die BG teilte dem Verunglückten mit, daß er Entschädigungsansprüche erst vom Beginn der 14. Woche nach dem Unfall an habe und infolgedessen keine Entschädigung beanspruchen könne, da über die 13. Woche hinaus keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H. bestanden habe und auch die Heilbehandlung abgeschlossen sei. Zu den Rechnungen des Klägers (für ärztliche Behandlung) und des J.-Hospitals in S. (Pflegekosten für stationäre Behandlung, Röntgenaufnahme, Medikamente) gewährte die BG jeweils einen Behandlungskostenzuschuß.

Mit Schreiben vom 20. Januar 1953 teilte der Landwirt B der BG mit, der Kläger habe ihn seinerzeit behandelt und wieder gesund geschrieben; er habe aber immer noch Kopfschmerzen und sei bei dem Kläger in Behandlung und bitte deshalb, die Kosten zu übernehmen. Daraufhin forderte die BG den Kläger mit Schreiben vom 31. Januar 1953, das am 2. Februar 1953 abgegangen ist, auf, einen Bericht über den Verlauf der Krankheit und den heutigen Stand der Behandlung zu erstatten. Mit Schreiben vom 7. März 1953 und 16. April 1953 erinnerte sie den Kläger an die Erstattung des erbetenen Berichts. Mit Schreiben vom 16. Mai 1953, das am 18. Mai 1953 abgegangen ist, wandte sich die BG an die Ärztekammer Westfalen-Lippe in Münster mit der Bitte, den Kläger zu veranlassen, seiner gesetzlichen Auskunftspflicht nachzukommen. Zugleich wies sie darauf hin, daß sie sonst genötigt sei, die Bestrafung beim Versicherungsamt zu beantragen. Die Ärztekammer teilte daraufhin mit, sie habe den Kläger mit Schreiben vom 21. Mai 1953 gebeten, den Bericht umgehend zu erstatten.

Mit Schreiben vom 1. Juli 1953 beantragte die BG beim Versicherungsamt in Lüdinghausen unter Bezugnahme auf die §§ 1543 d, 1502 der Reichsversicherungsordnung (RVO), gegen den Kläger eine Ordnungsstrafe in angemessener Höhe zu verhängen. Daraufhin erließ der Oberkreisdirektor der Kreisverwaltung Lüdinghausen in seiner Eigenschaft als Leiter des Versicherungsamts am 8. Oktober 1953 eine Strafverfügung an den Kläger, in der es heißt, der Kläger habe trotz wiederholter Erinnerung den erbetenen Bericht nicht abgegeben und auch bisher der Westfälischen landwirtschaftlichen BG nicht mitgeteilt, weshalb die Abgabe des Arztberichts abgelehnt werde. Daher werde gegen ihn auf Grund des § 1543 d RVO i. V. m. § 1502 RVO eine Ordnungsstrafe in Höhe von 50,- DM festgesetzt, die binnen einer Woche an die Westfälische landwirtschaftliche BG in Münster einzuzahlen sei. Gegen diesen Strafbescheid könne binnen einem Monat Beschwerde beim Oberversicherungsamt (OVA) in Münster eingelegt werden.

Gegen diesen Strafbescheid hat der Kläger am 29. Oktober 1953 mit Schreiben vom 27. Oktober 1953 beim OVA in Münster Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt: Da er im Mai 1953 erkrankt sei, habe er in der Klinik in Münster eine Anfrage in der Unfallsache B beantwortet, die Dr. H, dessen Praxis er vertrete, weiterschicken sollte. Eine weitere Antwort habe er am 30. Juni 1953 geschrieben. Sollten diese Schreiben von Dr. H, der die Schriftführung in der Praxis erledigt habe, nicht abgeschickt worden sein, wäre es doch wohl angebracht gewesen, vorerst eine Mahnung zu schicken. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Beschwerde als Klage auf das Sozialgericht (SG) Münster übergegangen (§ 215 Abs. 2 und 4 SGG). Das SG hat lediglich die Westfälische landwirtschaftliche BG am Verfahren beteiligt, die unter Hinweis auf den Inhalt ihrer Akte beantragt hat, die Klage als unbegründet zurückzuweisen. Durch Urteil vom 26. Juni 1956, in dem Dr. M als Kläger, die Westfälische landwirtschaftliche BG als Beklagte bezeichnet ist, hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ua ausgeführt, die Entschuldigung des Klägers, er sei im Mai 1953 krank gewesen und der schriftführende Arzt Dr. H habe die Absendung des Berichts vergessen, könne nicht durchgreifen, abgesehen davon, daß der Kläger bereits vor der im Mai erfolgten Mahnung durch die Ärztekammer im Februar und März von der BG erinnert worden sei, bildeten weder Arbeitsüberlastung noch verwaltungsmäßige Schwierigkeiten eine stichhaltige Entschuldigung. Der zur Auskunft verpflichtete Arzt müsse auch auf diese Weise in Zusammenarbeit mit dem Versicherungsträger zum Wohl des Unfallverletzten beitragen.

Der Kläger, dem dieses Urteil am 16. Juli 1956 zugestellt worden ist, hat dagegen durch seinen Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 1. August 1956, der am 10. August 1956 beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingegangen ist, Berufung eingelegt. Mit Schreiben vom 26. Februar 1957 hat der Vorsitzende des Senats des LSG den Prozeßbevollmächtigten des Klägers, die landwirtschaftliche BG und das Versicherungsamt darauf hingewiesen, es bestünden rechtliche Bedenken dagegen, daß das SG die Westfälische landwirtschaftliche BG als Beklagte behandelt habe. Der Strafbescheid sei vom Versicherungsamt erlassen und diesen Verwaltungsakt habe der Kläger angefochten.

Die Anfechtungsklage könne sich nur gegen die Verwaltung richten, die den Verwaltungsakt erlassen habe. Der Fehler könne durch Klageänderung beseitigt werden. Die Berufung würde sich dann gegen das Versicherungsamt wenden, dieses wäre die Beklagte. Die BG müsse aus dem Rechtsstreit entlassen und als Beigeladene zugelassen werden.

Durch Beschluß vom 31. Juli 1958 hat der Vorsitzende des Senats des LSG die Kreisverwaltung (Versicherungsamt) in Lüdinghausen mit der Begründung beigeladen, das Versicherungsamt sei an dem Rechtsverhältnis wegen des von ihm erteilten Strafbescheides beteiligt.

Auf die Ladung zum Termin vom 24. September 1958 hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, weder er noch der Kläger selbst könnten wegen dringender Verpflichtungen den Termin wahrnehmen. Er übersende daher eine Untervollmacht mit der Bitte, sie demjenigen Rechtsanwalt zu übergeben, der sich im Sitzungszimmer aufhalte, und genehmige im voraus alle Erklärungen, die er für ihn abgebe, ausgenommen die Zurücknahme des Rechtsmittels. Sollte kein Anwalt anwesend sein, so möge den Prozeßbevollmächtigten diejenige Person vertreten, die den Kläger in der vorangegangenen Sache vertreten habe.

Im Termin vom 24. September 1958 sind lediglich das Versicherungsamt und die landwirtschaftliche BG vertreten gewesen. Der Vorsitzende hat die Beteiligten erneut darauf hingewiesen, daß das Versicherungsamt die richtige Beklagte sei und die Westfälische landwirtschaftliche BG als Beklagte aus dem Rechtsstreit entlassen und als Beigeladene wieder in den Rechtsstreit eingeführt werden müsse; das umgekehrte gelte für das Versicherungsamt.

Die Prozeßbevollmächtigten der landwirtschaftlichen BG und des Versicherungsamts haben daraufhin erklärt: "Wir sind mit einer derartigen Klagänderung einverstanden." Nach der Beratung ist dann folgender Beschluß verkündet worden:

1. Die Westfälische landwirtschaftliche BG wird als Beklagte aus dem Rechtsstreit entlassen und gemäß § 75 SGG beigeladen.

2. Die Kreisverwaltung Lüdinghausen - Versicherungsamt - wird als Beigeladene aus dem Rechtsstreit entlassen und als Beklagte in den Rechtsstreit eingeführt.

Der Prozeßbevollmächtigte der landwirtschaftlichen BG hat erklärt, Dr. Mangel habe auch bis zum Termin die gewünschte Auskunft nicht erteilt und sei auch in anderen Fällen wiederholt säumig gewesen. Die erschienenen Beteiligten haben übereinstimmend Entscheidung nach Lage der Akten beantragt. Daraufhin ist - nach Beratung - folgendes Urteil verkündet worden:

Die Berufung gegen das Urteil des SG Münster vom 26. Juni 1956 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision an das Bundessozialgericht (BSG) wird zugelassen.

Dieses Urteil, in dem nunmehr Dr. M als Kläger und Berufungskläger, das Versicherungsamt als Beklagte und Berufungsbeklagte und die Westfälische landwirtschaftliche BG als Beigeladene bezeichnet sind, ist dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 20. März 1959 zugestellt worden.

Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Berufung sei statthaft. § 1502 Abs. 2 Satz 3 RVO, nach dem das OVA endgültig entscheide, sei zwar nicht unter den aufgehobenen Vorschriften der RVO in § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG aufgeführt, gehöre aber zu den Vorschriften, die nach § 224 Abs. 3 SGG aufgehoben seien, weil sie denselben Gegenstand regelten wie jetzt das SGG. Berufungsausschlußgründe seien in §§ 144 bis 149, 206 SGG erschöpfend geregelt. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG sei nicht anwendbar, weil es sich nicht um eine einmalige "Leistung" im Sinne dieser Vorschrift handele.

Der Beteiligtenwechsel, der im Einverständnis zwischen der Westfälischen landwirtschaftlichen BG und dem Versicherungsamt erfolgt sei, sei den Regeln über die Klageänderung zu unterstellen (BGH LM § 264 ZPO Nr. 82). Das Versicherungsamt sei die richtige Beklagte, weil es den angefochtenen Strafbescheid erlassen habe. Es möge zwar bedenklich sein, den Beteiligtenwechsel in diesem weit vorgeschrittenen Stand des Verfahrens zuzulassen, weil der neue Beklagte auf das bisherige Verfahren keinen Einfluß nehmen konnte. Der Fehler der Vorinstanz habe hier indes im Wege der Klagänderung behoben werden können, weil die bisherige Beklagte und die bisherige Beigeladene damit einverstanden seien und weder dem Kläger noch den übrigen Beteiligten durch die Klagänderung ein Rechtsnachteil erwachse.

Das Klagbegehren sei darauf gerichtet, den Strafbescheid aufzuheben. Deshalb könne sich die Anfechtungsklage nur gegen die Behörde richten, die den Strafbescheid erlassen habe. Vom Kläger könne nicht verlangt werden, daß er in der Klagschrift den Beklagten bezeichne. Der Vorsitzende des Gerichts habe die Pflicht, von Amts wegen den richtigen Beklagten festzustellen (§ 106 Abs. 1 SGG). Durch diese Unterlassung des SG sei der Kläger jedoch nicht benachteiligt worden, weil er den angefochtenen Strafbescheid zum Gegenstand seiner Rechtsverteidigung gemacht habe und die jetzige Feststellung des richtigen Beklagten das Klagbegehren nicht nachteilig berühre. Die bisherige Beklagte und die bisherige Beigeladene seien durch das klagabweisende Urteil nicht beschwert.

Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit sei zulässig. Denn es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung. Insbesondere sei der Rechtsweg zur Strafgerichtsbarkeit nicht gegeben, da es sich weder um eine Kriminalstrafe noch um eine durch Bußgeldbescheid geahndete Ordnungswidrigkeit handele (§§ 1 Abs. 1, 75 OWiG). Das ergebe sich aus § 76 OWiG.

Die Strafbefugnis des Versicherungsamts nach §§ 1543 d Abs. 1 Satz 2, 1502 RVO verstoße nicht gegen die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) und gegen Art. 19 Abs. 4, 92 ff des Grundgesetzes (GG). Art. 6 MRK beziehe sich auf strafrechtliche Anklagen, die zur Verhängung einer kriminellen Strafe führen sollen. Hierzu gehörten nicht die in der RVO vorgesehenen Ordnungsstrafen. §§ 1543 d, 1502 RVO beträfen ihrem Wesen nach Ordnungsverstöße. Ebensowenig liege ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG vor, denn die Gewährleistung des Rechtszuges besage nicht, daß eine Angelegenheit unmittelbar beim Richter beginnen müsse, es sei denn, es handele sich um eine Freiheitsentziehung (Art. 104 GG), für die allein der Richter zur Entscheidung berufen sei. Der Rechtsweg sei gewährleistet, wenn die von einer Verwaltungsstelle getroffene nichtrichterliche Entscheidung auf Antrag durch ein Gericht nachgeprüft werden könne.

Der Strafbescheid sei auch rechtmäßig, der Kläger sei auskunftspflichtig gewesen, denn er sei der behandelnde Arzt gewesen. Das Anstellungsverhältnis zu Dr. H. sei für die Frage, ob der Kläger auskunftspflichtig sei, unerheblich. Der Kläger verkenne Sinn und Zweck der die ärztliche Schweigepflicht einengenden Auskunftspflicht. Die Unfallversicherungsträger seien zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigerweise auch auf die ärztlichen Befunde des behandelnden Arztes angewiesen. Nur dieser sei im Besitz der Befunde. Daher stelle es das Gesetz bei der Regelung der Auskunftspflicht bewußt auf die tatsächliche Seite, nämlich die Behandlung des Verletzten ab und lasse andere Umstände wie die Art des Beschäftigungsverhältnisses außer Betracht. Aus diesem Grunde gehe auch der Hinweis des Klägers fehl, er könne nicht anders behandelt werden als der bei einem Rechtsanwalt beschäftigte Anwaltsassessor. Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, daß die Auskunft durch das Verhalten des inzwischen verstorbenen Dr. H nicht in den Besitz der BG gelangt sei. Wenn der Kläger, der allein auskunftspflichtig sei, sich zur Beförderung der angeblich von ihm gefertigten Auskunft der Hilfe des Dr. H bedient habe, so müsse er für dessen Fahrlässigkeit ebenso einstehen wie im bürgerlichen Recht der Schuldner für ein Verschulden der Person, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bediene (§ 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -).

Die Zuwiderhandlung sei bei Erlaß des Strafbescheides auch nicht verjährt gewesen (§ 147 Satz 1 RVO). Nach § 147 Satz 2 RVO beginne die Verjährung mit dem Tage, an dem die Handlung begangen ist. Das beziehe sich auch auf Unterlassungen. Der behandelnde Arzt müsse die verlangte Auskunft in angemessener Frist erteilen, also regelmäßig in kürzester Frist, spätestens etwa in zwei Wochen. Da der Kläger erstmalig mit Schreiben der Beklagten vom 31. Januar 1953 um die Auskunft gebeten worden sei, habe die Verjährung etwa Mitte Februar 1953 begonnen. Der Strafbescheid vom 18. Oktober 1953 sei daher fristgerecht. Das gelte erst recht, wenn man die Verjährung erst mit den Erinnerungsschreiben beginnen lassen wollte.

Das Strafmaß von 50,- DM sei gleichfalls bedenkenfrei. Das Gericht habe insoweit nur die Befugnis nachzuprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des der Beklagten bei der Festsetzung der Ordnungsstrafe zukommenden Ermessens überschritten seien (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Es bestehe kein Anhalt für einen Ermessensfehlgebrauch. Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung über Vermögensstrafen und -bußen vom 6. Februar 1924 (RGBl I 44) idF vom 12. Dezember 1924 (RGBl I 755) habe ein Strafrahmen von 1 - 1.000,- DM zur Verfügung gestanden. Die Festsetzung von 50,- DM halte sich innerhalb des Ermessens.

Gegen das Urteil des LSG hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers am 20. April 1958 Revision eingelegt mit dem Antrag,

das Urteil und den Strafbescheid aufzuheben.

In der am 24. April 1959 eingegangenen Revisionsbegründungsschrift wird u. a. ausgeführt: Es werde um Prüfung gebeten, ob die Strafverfolgung verjährt sei, in der Zeit vom 29. Oktober 1953 (Einlegung der Beschwerde) bis zum 26. Juni 1956 (Verkündung des SG-Urteils), in der Zeit vom 26. Februar 1957 oder auch 14. Mai 1957 und dem 31. Juli 1958 (Beiladung des Versicherungsamts). In beiden Zeiträumen seien keine richterlichen Unterbrechungshandlungen geschehen. Der behandelnde Arzt sei der Inhaber der Praxis und nicht der Vertreter. Wenn nur der behandelnde Arzt im Besitz der Befunde sei, so sei dies nicht der Assistent. Die Behauptung, der Kläger habe die Aufforderung zur Berichterstattung Herrn Dr. H. zur Beantwortung gegeben, der im Besitz der Befunde gewesen sei, sei als wahr unterstellt worden.

Es werde beantragt, auch die anderen Rechtsausführungen nachzuprüfen.

Das Versicherungsamt hat erklärt, daß auf eine Gegenäußerung verzichtet werde.

Die Westfälische landwirtschaftliche BG beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und durch Zulassung statthaft, sie ist also zulässig. Jedoch hatte sie keinen Erfolg.

Das LSG hat die Berufung gegen das Urteil des SG Münster vom 25. Juni 1956 mit Recht als zulässig angesehen. Das OVA in Münster hätte zwar nach § 1502 RVO über die bei ihm anhängige Beschwerde gegen den Straffestsetzungsbescheid des Versicherungsamts "endgültig" entschieden. Mit dem Inkrafttreten des SGG war diese Beschwerde jedoch auf das SG übergegangen und damit zur "Klage" geworden (vgl. die Übergangsvorschriften in § 215 Abs. 2 und 4 SGG, in denen zugleich bestimmt ist, daß ein Vorverfahren nicht stattfindet). Über diese Klage hat das SG entschieden, und die Zulässigkeit der Berufung gegen das Urteil, mit dem die Klage abgewiesen worden ist, richtet sich ausschließlich nach §§ 143 ff SGG, die keine Vorschriften enthalten, die für den vorliegenden Fall die Berufung ausschließen. Insbesondere ist § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht anwendbar, da es sich bei der durch den Strafbescheid festgesetzten Ordnungsstrafe von 50,- DM nicht um eine "Leistung" im Sinne von § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG handelt (vgl. u. a. das Urteil des erkennenden Senats vom 28.2.1961 SozR Nr. 19 zu § 144 SGG).

Das LSG hat auch zutreffend die Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit für die Klage gegen die Festsetzung der Ordnungsstrafe bejaht (§ 51 SGG). Die Vorschriften der RVO, nach denen die Versicherungsträger oder Verwaltungsbehörden die Befugnis zur Festsetzung von Ordnungs- oder Zwangsstrafen haben, stehen auch, wie das LSG mit ausführlicher Begründung zutreffend dargelegt hat, weder mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (vgl. BGBl 1952 II 685 ff) noch mit dem Grundgesetz in Widerspruch (vgl. Art. 19 Abs. 4, 92 ff GG). Das GG verwehrt es dem Gesetzgeber nicht, einer Verwaltungsstelle die Befugnis zur Festsetzung von Ordnungsstrafen oder Geldbußen zu übertragen. Es ist nur erforderlich, daß der Betroffene die Möglichkeit hat, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Daß das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten auf Ordnungsstrafen nach der RVO nicht anwendbar ist und daß derartige Ordnungsstrafen infolgedessen auch nicht unter das Straffreiheitsgesetz 1954 fallen, hat der Senat im Urteil vom 29. November 1956 (BSG 4, 140) mit ausführlicher Begründung dargelegt.

Das LSG hat auch mit Recht darauf hingewirkt, daß im Berufungsverfahren anstelle der vom SG als Beklagten angesehenen Westfälischen landwirtschaftlichen BG die Kreisverwaltung Lüdinghausen in ihrer Eigenschaft als Versicherungsamt getreten ist. Der Kläger hatte sich von Anfang an mit seiner Klage gegen den Verwaltungsakt des Versicherungsamts gewendet, und auch der in der Berufung gestellte Antrag richtete sich ausschließlich gegen diesen Verwaltungsakt, so daß die Stelle, die den Strafbescheid erlassen hatte, von vornherein als Beklagte anzusehen gewesen wäre. Allerdings hat der Kläger dem Parteiwechsel auf der Seite der Beklagten, der erst in der Berufungsinstanz eingetreten ist, zwar nicht widersprochen und ihn auch in der Revisionsinstanz nicht beanstandet, er hat ihm aber auch nicht ausdrücklich durch eine schriftliche oder in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG abgegebene Erklärung zugestimmt. Jedoch kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Zustimmung erforderlich wäre (vgl. § 99 SGG), da eine Verweigerung der Zustimmung zu der sachlich notwendigen Richtigstellung der verfahrensrechtlichen Stellung der Beteiligten auf jeden Fall ein Mißbrauch gewesen wäre.

Das LSG hat sich somit ohne Rechtsirrtum für berechtigt gehalten, in dem vor ihm anhängigen Verfahren sachlich nachzuprüfen, ob die Voraussetzungen für die Festsetzung einer Ordnungsstrafe durch das Versicherungsamt gegeben waren.

Daß der Kläger die von der BG angeforderte Auskunft nicht erteilt hat, wird vom Kläger selbst nicht in Abrede gestellt. Diese Feststellung des LSG ist auch im Revisionsverfahren nicht durch Rügen angegriffen worden (vgl. § 163 SGG). Es geht auch nicht etwa darum, ob der Kläger durch seine ärztliche Schweigepflicht gehindert war, diese Auskunft zu erteilen, vielmehr ist ausschließlich streitig, ob der Kläger selbst zur Erteilung der Auskunft verpflichtet war oder, wie der Kläger meint, Dr. H. Hierzu hat das LSG festgestellt, daß der Kläger "behandelnder Arzt" war, d. h. den Landwirt B selbst behandelt hat. Das stimmt auch damit überein, daß B in seinem Antrag auf Erstattung der Arztkosten ausdrücklich auf die Behandlung durch den Kläger Bezug genommen hat, und diese Feststellung des LSG ist auch von der Revision nicht mit wirksamen Rügen (vgl. § 163 SGG) angegriffen worden. Das LSG hat hieraus mit Recht den Schluß gezogen, daß die Verpflichtung, der BG über die Behandlung des Landwirts B und die Wahrnehmungen hierbei Auskunft zu erteilen (§ 1543 d RVO), den Kläger selbst traf. Die Einwendungen des Klägers dagegen, daß ihm die Nichterfüllung dieser Verpflichtung zur Last gelegt wird, sind schon in tatsächlicher Beziehung nicht geeignet, ihn schlüssig zu entlasten. Der Kläger beruft sich darauf, er habe Dr. H Notizen über die Behandlung zukommen lassen. Dieses Vorbringen bezieht sich jedoch auf die Zeit, während deren der Kläger nach seinem Vortrag erkrankt in der Klinik in Münster lag, d. h. auf den Mai 1953. Inzwischen war der Kläger aber schon mit Schreiben vom 7. März 1953 und 16. April 1953 an die bereits am 2. Februar 1953 abgegangene Anfrage erinnert worden. Da die Auskunftspflicht den Kläger traf, wäre es überdies auch seine Sache gewesen, sich darum zu kümmern, daß die von der BG angeforderte Auskunft auch tatsächlich abging. Das LSG hat somit ohne Rechtsirrtum die Voraussetzungen für die Festsetzung einer Ordnungsstrafe als gegeben angesehen.

Die Zuwiderhandlung gegen die Auskunftspflicht war im Zeitpunkt der Festsetzung der Strafe durch das Versicherungsamt auch noch nicht verjährt (vgl. § 147 RVO). Entgegen der Auffassung der Revision ist eine solche Verjährung auch nicht im Laufe des gerichtlichen Verfahrens eingetreten. Wie bereits das Reichsversicherungsamt in der Grundsätzlichen Entscheidung 1813 (AN 1914, 386 - vgl. auch EuM 13, 26) mit ausführlicher Begründung, deren Gedankengänge auch auf das Verfahren der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit noch zutreffen, dargelegt hat, unterscheidet sich die Stellung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in den Verfahren, die Klagen gegen eine Ordnungsstrafe betreffen, insofern wesentlich von der Stellung der Gerichte der Strafgerichtsbarkeit, als diese unmittelbar die Aufgabe haben, den "Strafanspruch" zu verwirklichen, während im Bereich der RVO die Strafbefugnis ausschließlich den Verwaltungsstellen zusteht und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auf eine richterliche Nachprüfung beschränkt sind. Deshalb gilt die Verjährungsvorschrift des § 147 RVO nur für das Verfahren bis zum Erlaß der Strafverfügung. Während des Verfahrens vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit tritt keine Verjährung ein (vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 283).

Bei der Nachprüfung der Höhe der vom Versicherungsamt festgesetzten Strafe, gegen die der Kläger im übrigen keine Einwendungen vorgetragen hat, hat sich das LSG rechtlich zutreffend auf die Prüfung beschränkt, ob das Versicherungsamt die Grenzen des ihm bei der Festsetzung der Höhe der Ordnungsstrafe zustehenden Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zwecke der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Auch hierbei ist entscheidend, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht wie die Gerichte der Strafgerichtsbarkeit selbst den "Strafanspruch" verwirklichen und dabei auch hinsichtlich der Höhe ein eigenes richterliches Ermessen ausüben (vgl. hierzu z. B. Peters, Lehrbuch des Strafprozesses 1952, S. 29 und 519 ff), sondern auf die Prüfung beschränkt sind, ob die Stelle, der allein die Ausübung der Strafbefugnis zusteht, hierbei ihr Ermessen hinsichtlich der Strafhöhe richtig ausgeübt hat (vgl. BSG 15, 161, 167; Brackmann aaO S. 286; a. M. Bayer. LSG, Amtsbl. 1964 B 49). Ein Rechtsverstoß bei dieser Nachprüfung ist nicht ersichtlich und wird auch von der Revision nicht gerügt.

Da hiernach das LSG die Berufung gegen das Urteil des SG Münster mit Recht zurückgewiesen hat, ist die Revision unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380477

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