Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Kausalzusammenhang zwischen Berufskrankheit und Todesursache
Orientierungssatz
Nach § 589 Abs 2 S 1 RVO wird das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen entschädigungspflichtiger Berufskrankheit und Todesursache vermutet, wenn die Erwerbsfähigkeit des verstorbenen Versicherten durch bestimmte Berufskrankheiten (ua Silikose) um mindestens 50 vH gemindert war. Allerdings ist diese Vermutung nach RVO § 589 Abs 2 S 2 als widerlegt anzusehen, wenn offenkundig die Silikose nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes ist. Die Voraussetzungen für die Offenkundigkeit im Sinne dieser Vorschrift liegen dann vor, wenn die Berufskrankheit mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten weder im medizinischen Sinne erheblich mitverursacht, noch ihn um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 1, 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 12.12.1967) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 14.05.1965) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1967 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin bezog von der Beklagten wegen Silikose eine Unfallrente, die zuletzt - seit dem 2. August 1959 - 70 v.H. der Vollrente betrug. Er starb am 30. November 1963. In seinem Obduktionsgutachten vom 30. April 1964 hat Dr. Sch ausgeführt, der Tod sei an innerer Vergiftung, Blutarmut und Auszehrung als Folgen einer Krebserkrankung der linken Lunge eingetreten. Die schwere Quarzstauberkrankung der Lungen habe den zum Tode führenden Luftröhrenkrebs nicht verursacht und auch den Zeitpunkt des Todes nicht um ein Jahr oder mehr vorverlegt. Sie sei nicht geeignet gewesen, mit einiger Sicherheit innerhalb eines Jahres allein zum Tode zu führen. Nachdem der Staatliche Gewerbearzt diesem Gutachten am 21. Mai 1964 zugestimmt hatte, lehnte die Beklagte die Gewährung einer Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 5. Juni 1964 ab, weil der Versicherte offenkundig nicht an den Folgen der Berufskrankheit gestorben sei.
Die Beklagte legte im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) eine Stellungnahme ihres Oberarztes Dr. R vom 16. November 1964 vor. Das SG hat ein Gutachten von Prof. Dr. H vom 22. Januar 1965 eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, der Versicherte sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einem Bronchialkrebs an der linken Lungenwurzel gestorben, der nicht durch die Quarzstaublunge verursacht oder wesentlich verschlimmert worden sei. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem zum Tode führenden Luftröhrenkrebs und der Berufskrankheit könne jedoch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Das SG hat ferner ein in dem Rechtsstreit S 23 Kn 1335/62 des SG Dortmund erstattetes Gutachten des Prof. Dr. B vom 28. April 1965 beigezogen, in dem grundsätzliche Ausführungen zu der Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Silikose und Bronchialkrebs gemacht worden sind. Das SG hat mit Urteil vom 14. Mai 1965 den Bescheid der Beklagten vom 15. Juni 1964 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach ihrem am 30. November 1963 verstorbenen Ehemann A Sch zu gewähren und der Klägerin darüber einen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der Berufung angefochten und eine Stellungnahme des Dr. W vom 21. Juni 1965 zu dem Gutachten des Prof. Dr. B eingereicht. Das Landessozialgericht (LSG) hat ein Gutachten des Prof. Dr. W vom 21. Dezember 1966 eingeholt, in dem angenommen wurde, es lasse sich nicht wahrscheinlich machen, daß der bei dem Versicherten aufgetretene Bronchialkrebs durch die bei ihm gleichzeitig vorliegenden silikotischen Lungenveränderungen hervorgerufen oder wesentlich ungünstig beeinflußt worden seien. Es sei offenkundig, daß der am 30. November 1963 eingetretene Tod des Versicherten auf den bei ihm bestehenden Bronchialkrebs mit seinen Folgen zurückzuführen sei und durch die gleichzeitig bestehende Berufskrankheit nicht um ein Jahr vorverlegt worden sei. Im Termin vom 12. Dezember 1967 hat das LSG den Facharzt für Chirurgie Dr. W gehört. Dieser Sachverständige nahm an, es erscheine offenbar unmöglich, den Tod des Versicherten am Bronchialkrebs mit der vorhanden gewesenen Silikose in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Gewisse, wenn auch sehr geringe Möglichkeiten kausaler Zusammenhangsbeziehungen seien allerdings einzuräumen. Sie lägen aber gerade im vorliegenden Fall sehr entfernt. Wissenschaftlich ernste Zweifel am Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs beständen nicht. Das LSG hat mit Urteil vom 12. Dezember 1967 auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG Dortmund vom 14. Mai 1965 abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. M erscheine es offenbar unmöglich, im vorliegenden Fall den Tod des Ehemannes der Klägerin mit der vorhanden gewesenen Solikose in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Gewisse, wenn auch sehr geringe Möglichkeiten kausaler Zusammenhangsbeziehungen seien unter bestimmten Voraussetzungen zwar denkbar, doch lägen sie gerade im vorliegenden Fall so sehr entfernt, daß ernstzunehmende wissenschaftliche Zweifel am Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs nicht auftreten könnten. Dieses Gutachten sei durchaus mit den Gutachten von Prof. Dr. H und Prof. Dr. B in Einklang zu bringen. Es sei daher offenkundig im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), daß der Tod des Ehemannes der Klägerin mit der Silikose nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Silikose und Tod sei nicht offenkundig. Wie sich insbesondere aus dem Gutachten von Prof. Dr. B ergebe, werde in der medizinischen Wissenschaft durchaus die Ansicht vertreten, daß ein Bronchialkrebs in Entstehung und Weiterentwicklung durch eine schwere Silikose begünstigt werden könne. Solange aber noch ein wissenschaftlicher Streit über den Zusammenhang zwischen Silikose und Bronchialkrebs bestehe, könne das Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs nicht als offenkundig bezeichnet werden.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und unter Aufhebung des Bescheides der Revisionsbeklagten vom 5. Juni 1964 die Revisionsbeklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrente und des Sterbegeldes nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die zulässige Revision der Klägerin kann keinen Erfolg haben, denn das LSG hat die Klage mit Recht abgewiesen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die begehrte Hinterbliebenenrente.
Nach der Rechtsprechung des Senats (BSG Bd. 28 S. 38) ist § 589 Abs. 2 RVO idF des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30. April 1963 (BGBl I S. 241) auch auf solche Fälle anzuwenden, in denen der Versicherte bereits vor dem 1. Juli 1963 an einer entschädigungspflichtigen Silikose mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 v.H. gelitten hat, wenn der Tod des Versicherten nach dem 30. Juni 1963 eingetreten ist. Das ist hier der Fall, denn der Versicherte ist am 30. November 1963 gestorben. Zwar steht nach Satz 1 dieser Vorschrift der Tod des Versicherten dem Tod durch Arbeitsunfall gleich. Diese - beschränkt widerlegbare - Vermutung gilt aber nach Satz 2 dann nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht. In dem bereits zitierten Urteil hat der Senat ausgeführt, offenkundig sei das Nichtbestehen des Kausalzusammenhangs, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit weder den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne mitverursacht noch ihn um wenigstens ein Jahr beschleunigt habe. Das LSG ist aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, es seien zwar gewisse, wenn auch sehr geringe Möglichkeiten kausaler Zusammenhangsbeziehungen zwischen den beiden Leiden unter bestimmten Voraussetzungen denkbar, doch lägen sie gerade im vorliegenden Fall sehr entfernt. Ernst zu nehmende wissenschaftliche Zweifel am Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs könnten nicht auftreten. Daran ist das Revisionsgericht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden, denn die Klägerin hat dagegen keine begründeten Revisionsrügen vorgetragen. Die Entscheidung der Frage, ob ernsthafte Zweifel an dem Nichtvorhandensein des ursächlichen Zusammenhangs bestehen, gehört nicht dem Akt der Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter das materielle Recht an, sondern dem der Subsumtion vorausgehenden Akt der Tatsachenermittlung und -feststellung. Sie beruht auf der Abwägung des vorliegenden Beweismaterials und vollzieht sich also im Bereich der dem Tatsachengericht vorbehaltenen freien richterlichen Beweiswürdigung. Mit ihrem Vortrag, das LSG hätte ernsthafte Zweifel an dem Fehlen des Kausalzusammenhangs haben müssen, greift die Klägerin die Beweiswürdigung an, die vom Revisionsgericht nur darauf nachgeprüft werden kann, ob sie mit dem Gesetz in Einklang steht und ob sie insbesondere nicht gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt. Es mag zwar in der medizinischen Wissenschaft umstritten sein, ob und wann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Silikose und Bronchialkrebs bestehen kann. Das zwingt aber nicht zu der Annahme, daß in jedem Fall das Zusammentreffen ernsthafte wissenschaftliche Zweifel an dem Fehlen des Kausalzusammenhangs bestehen. Das Berufungsgericht durfte vielmehr dem Gutachten des Dr. M darin folgen, daß gerade im konkreten Fall, auf den es allein ankommt, ernsthafte wissenschaftliche Zweifel an dem Nichtbestehen des Ursachenzusammenhangs nicht vorhanden seien, auch wenn man berücksichtige, daß nach dem jetzigen Stand der medizinischen Wissenschaft in anderen Fällen der Kausalzusammenhang nicht ausgeschlossen werden könne. Die vom LSG offengelassene sehr entfernt liegende Möglichkeit des Zusammenhangs im vorliegenden Fall zwingt nach der zitierten Entscheidung des Senats nicht zu der Annahme, daß ernsthafte Zweifel an dem Fehlen des Kausalzusammenhangs bestehen. Ist danach die in § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO aufgestellte Vermutung des Kausalzusammenhangs widerlegt und muß also davon ausgegangen werden, daß der Versicherte nicht an der Silikose gestorben ist, so steht der Klägerin nach § 589 Abs. 1 RVO die Hinterbliebenenrente nicht zu.
Die unbegründete Revision der Klägerin muß nach § 170 Abs. 1 SGG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.
Fundstellen