Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewertung von beitragslosen Zeiten
Leitsatz (amtlich)
Den zur Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu AVG § 32a (= RVO § 1255a) gehörenden Versicherten mit einer in AVG § 36 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1259) bezeichneten Fachschulausbildung können nicht in erweiternder Auslegung Versicherte mit anderer Ausbildung gleichgestellt werden.
Normenkette
AVG § 32a Anl 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255a Anl 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 32a S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255a S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Juli 1973 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 15. März 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob bei der Berechnung der Rente des Klägers für Zeiten im Sinne des § 32 a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) der Wert zugrunde zu legen ist, den die Anlage 1 zu dieser Vorschrift der dort angeführten Leistungsgruppe 2 für männliche Angestellte zuweist.
Der 1907 geborene Kläger war nach dem Besuch der Volksschule Verwaltungslehrling bei einer Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Er nahm an Fortbildungskursen für Krankenkassenangestelltes teil, bestand die Anstellungsprüfung (sogenannte A-Prüfung) und die Beförderungsprüfung (sogenannte B-Prüfung) und wurde als Dienstordnungsangestellter (DO-Angestellter) im Krankenkassendienst schließlich Verwaltungsdirektor (Besoldungsgruppe A 15). Die Beklagte gewährte ihm ab Februar 1969 ursprünglich Berufsunfähigkeitsrente. Das anschließende Klageverfahren endete mit einem Vergleich. Darin verpflichtete sich die Beklagte, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, während der Kläger auf "weitergehende Ansprüche" verzichtete. In der Sitzungsniederschrift - nicht jedoch im Text des Vergleichs- findet sich der Satz: "Soweit der Kläger Ansprüche aus § 32 a geltend macht, sind diese unberechtigt. Der Kläger ist richtig eingestuft".
In Ausführung dieses Vergleichs gewährte die Beklagte dem Kläger ab Februar 1969 die Erwerbsunfähigkeitsrente (Bescheid vom 13. März 1970). Dabei bewertete sie die streitigen Zeiten (36 Beitragsmonate im Sinne von § 32 Abs. 4 AVG, 14 Beitragsmonate im Sinne von § 32 Abs. 7 AVG, 84 Ersatzzeitmonate von 1943 bis 1950) gemäß § 32 a Nr. 1 Satz 1 AVG monatlich mit 9,73. Das war der nach § 32 Abs. 3 bis 7 AVG ermittelte Durchschnittswert aus den vor dem 1. Januar 1965 zurückgelegten Beitragszeiten ohne die Beiträge im Sinne von § 32 Abs. 4 und 7 AVG. Da diese Durchschnittsberechnung sich auf weniger als 60 Beitragsmonate stützte, hatte die Beklagte gemäß § 32 a Nr. 1 Satz 2 AVG außerdem geprüft, ob sich aus der Anlage 1 zu dieser Vorschrift ein höherer Wert ergebe. Sie hatte das verneint, weil sie den Kläger in die Leistungsgruppe 3 dieser Anlage einordnete, der für männliche Angestellte der Wert 8,67 beigegeben ist.
Der Kläger erhob erneut Klage; er begehrte eine höhere Bewertung. Die Klage hatte in der zweiten Instanz Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte, für "die beitragslosen Zeiten Werte der Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu § 32 a AVG zugrunde zu legen" (Wert für männliche Angestellte 12,12). Die Klage sei zulässig, weil die Frage der "Einstufung" nicht zum Inhalt des früheren Vergleiches gemacht worden sei. Begründet sei sie insofern, als der Kläger der Leistungsgruppe 2 zuzuordnen sei. Er gehöre zwar nicht zu dem dort bezeichneten Personenkreis, nämlich den "Versicherten mit einer in § 36 Abs. 1 Nr. 4 (AVG) bezeichneten Schul- oder Fachschulausbildung"; er sei jedoch in entsprechender Anwendung der Vorschrift wie ein Versicherter mit abgeschlossener Fachschulausbildung zu behandeln. Der Gesetzgeber habe der genannten Leistungsgruppe 2 die gleichen Entgelte zugewiesen wie im Fremdrentengesetz (FRG) der Leistungsgruppe 3 der Anlage 1 zu § 22 FRG. Die bestandene B-Prüfung habe den DO-Angestellten in der gesetzlichen Krankenversicherung eine berufliche Stellung (Qualifikation) verschafft, die derjenigen der Leistungsgruppe 3 der Anlage 1 zu § 22 FRG entspreche der B-Prüfungsabschluß komme in Schwierigkeit und Bedeutung für den weiteren Berufsweg der abgeschlossenen Fachschulausbildung mindestens gleich.
Das LSG hat die Revision zugelassen, weil die Frage, ob in § 32 a AVG der Fachschulausbildung andere Ausbildungsgänge gleichzustellen sind, grundsätzliche Bedeutung habe.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung materiellen Rechts. Die Ausbildung des Klägers sei mit einer Fachschulausbildung nicht vergleichbar. Das LSG verstoße gegen die Gesetzessystematik; die durch die Rechtsprechung zu § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG festgelegten Grundsätze dürften bei § 32 a AVG nicht ausgeweitet werden.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Das LSG hat die Klage im Ergebnis zu Recht für zulässig erachtet. Bedenken gegen die Zulässigkeit konnten sich allenfalls ergeben, wenn sich der vom Kläger jetzt verfolgte prozessuale Anspruch bereits durch den früheren gerichtlichen Vergleich erledigt hätte - vorausgesetzt eine solche "Erledigung" schlösse (wie die Klagerücknahme nach § 102 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) eine erneute Klage mit demselben prozessualen Anspruch aus. Es ist jedoch nicht feststellbar, daß sich der Streitgegenstand der jetzigen Klage mit dem der früheren - auch nur teilweise - deckt. Die Akten des ersten Rechtsstreits ergeben nicht deutlich genug, daß der Kläger den Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente damals auch der Höhe nach schon beim Sozialgericht (SG) rechtshängig gemacht hatte.
Der frühere Vergleich kann auch nicht zur Unbegründetheit der Klage führen. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil das LSG festgestellt hat, daß die Einstufung nach der Anlage 1 zu § 32 a AVG nicht Inhalt des Vergleiches gewesen ist. Bei der materiellen Prüfung ist das Bundessozialgericht (BSG) - im Gegensatz zur Nachprüfung der Prozeßvoraussetzungen - aber an tatsächliche Feststellungen gebunden, die von den Beteiligten nicht angefochten werden (§ 163 SGG). Es kann also dahinstehen, welche Folgen eine Vereinbarung der Beteiligten über die Einstufung gehabt hätte.
Die Klage ist jedoch aus anderen Gründen nicht begründet. Der Senat kann dem LSG nicht darin zustimmen, daß die "beitragslosen Zeiten" des Klägers mit dem Wert der Leistungsgruppe 2 (für männliche Angestellte) der Anlage 1 zu § 32 a AVG zu bewerten wären. Die Anlage ist nach § 32 a Nr. 1 Satz 2 AVG dann heranzuziehen, wenn "nicht mehr als 60 Kalendermonate mit Beiträgen belegt sind". Diese Grenze wird beim Kläger nur unterschritten, wenn außer den Inflationsbeiträgen (§ 32 Abs. 7 AVG) auch die 36 Pflichtbeiträge während der ersten fünf Kalenderjahre nach Versicherungseintritt (§ 32 Abs. 4 AVG) unberücksichtigt bleiben. Die Beklagte hat sie hier wohl deshalb außer Betracht gelassen, weil sie diese Beiträge im konkreten Falle auch bei der Wertberechnung nach § 32 a Nr. 1 Satz 1 AVG nicht berücksichtigt hat (übereinstimmend mit Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung III, 702 e und Verbandskomm. Anm. 5 zu §§ 1255 a RVO 32 a AVG). Ob das dem Gesetz entspricht, kann offen bleiben, weil die Klage auch bei zulässigem Rückgriff auf die Anlage 1 zu § 32 a AVG keinen Erfolg haben kann.
Diese Anlage bildet drei Leistungsgruppen: Gruppe 1 für "Versicherte mit einer in § 36 Abs. 1 Nr. 4 bezeichneten Hochschulausbildung", Gruppe 2 für "Versicherte mit einer in § 36 Abs. 1 Nr. 4 bezeichneten Schul- und Fachschulausbildung" und Gruppe 3 für die übrigen Versicherten. Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger keine solchen Ausbildungen, insbesondere keine Fachschulausbildung aufzuweisen hat (vgl. SozR Nr. 23 und Nr. 49 zu § 1259 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); es hat ihn jedoch zu Unrecht in entsprechender Anwendung einem Versicherten mit abgeschlossener Fachschulausbildung gleichgestellt.
Das wäre nur dann möglich, wenn das Gesetz für Sachverhalte der hier vorliegenden Art eine durch Gesetzesergänzung zu schließende Lücke enthielte. Das ist nicht der Fall. Der Gesetzeswortlaut erscheint eindeutig er läßt für die Annahme einer Lücke keinen Raum. Um so schwerwiegender müßten dann die Gründe sein, die nach anderen Auslegungskriterien für das Vorhandensein einer Gesetzeslücke sprächen (BSG 14, 238, 241; 17, 105, 107). Solche Gründe sind nicht erkennbar.
§ 32 a AVG ist durch das erste Rentenversicherungsänderungsgesetz vom 9. Juni 1965 in das AVG eingefügt worden, weil die frühere Bewertung der sogenannten beitragslosen Zeiten (einschließlich der Beitragszeiten, die bei der Bewertung als beitragslose Zeiten behandelt werden) sich nicht bewährt und in vielen Fällen zu erheblichen Härten geführt hatte (vgl. hierzu und zum Folgenden von Gellhorn, BABl 1965, 588 ff). Das sollte jedenfalls für künftige "beitragslose Zeiten" geändert werden. Für Zeiten nach dem 31. Dezember 1964 wird nun zwischen Ausbildungszeiten und anderen "beitragslosen Zeiten" unterschieden; für die Ausbildungszeiten werden feste Werte ohne Rücksicht auf die konkrete Beitragsleistung vorgesehen; die Bewertung der übrigen Zeiten bestimmt sich dagegen grundsätzlich nach den vorangegangenen Beiträgen (vgl. § 32 a Nr. 2 AVG). Dabei ist noch von Bedeutung, daß die Bewertung der künftigen Ausbildungszeiten ihrerseits nach der Art der Ausbildung differiert; das Gesetz unterscheidet hier zwischen Versicherten mit einer anzurechnenden Hochschulausbildung und solchen mit anzurechnender weiterer Schulausbildung oder abgeschlossener Fachschulausbildung. Dementsprechend werden Entgelte zugeordnet, wie sie im Hinblick auf die jeweilige Ausbildung (und auch das Lebensalter) mit Wahrscheinlichkeit künftig zu erwarten sind. Dabei war man sich darüber im Klaren, daß diese Bewertung nur auf Regelfälle abstellen und darüber hinaus individuelle Besonderheiten nicht berücksichtigen kann. Die neue Bewertung der künftigen beitragslosen Zeiten hatte auch Rückwirkungen auf die "beitragslosen Zeiten" vor dem 1. Januar 1965. Zunächst war vorgesehen, für diese grundsätzlich an dem bisherigen Bewertungssystem festzuhalten, d. h. sie mit dem Durchschnittswert aus allen Beiträgen des Versicherten, allerdings begrenzt auf die Beiträge bis zum 31. Dezember 1964, zu bewerten. Der damit ausgelöste Widerspruch zur Bewertung der "beitragslosen Zeiten" nach dem 31. Dezember 1964 wurde jedoch vor allem dann nicht für akzeptabel erachtet, wenn sich bei einer Beitragszeit von weniger als 60 Kalendermonaten (trotz der Regelungen in §§ 1255 Abs. 4 RVO, 32 Abs. 4 AVG) insbesondere für die Ausbildungszeiten im Gegensatz zu ihrer Bewertung nach dem 31. Dezember 1964 niedrige, nicht der Ausbildung entsprechende Werte ergaben. Um die Versicherten mit "beitragslosen Zeiten" vor dem 1. Januar 1965 gegenüber denen mit solchen Zeiten nach diesem Zeitpunkt nicht zu benachteiligen, sollte deshalb bei ihnen in Fällen geringerer Beitragsleistung ebenfalls auf die allgemeine Berufserwartung abgestellt werden, soweit sich diese auf die Ausbildung stützen konnte dieser Gedanke wurde dann allerdings nicht auf Ausbildungszeiten beschränkt, sondern auf alle "beitragslosen Zeiten" vor dem 1. Januar 1965 übertragen. Die Gesamtregelung zeigt jedoch, daß der Gesetzgeber, soweit er Bewertungen auf Berufserwartungen und diese ihrerseits auf Ausbildungen stützt, in typisierender Weise immer nur ganz bestimmte Ausbildungen vor Augen hat, nämlich die in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG genannten Ausbildungen (weitere Schulausbildung, Fachschulausbildung, Hochschulausbildung). In die Systematik dieser klaren Regelung paßt es nicht hinein, den bezeichneten Ausbildungsarten andere Ausbildungen gleichzustellen, auch wenn diese allgemein oder im Einzelfall zu vergleichbaren Positionen im späteren Berufsleben führen. Das LSG übersieht, daß der Gesetzgeber hier bewußt typisieren wollte. Es ergeben sich daher auch weder aus der Entstehungsgeschichte noch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift Anhaltspunkte für eine Gesetzeslücke. Angestellte ohne eine weitere Schulausbildung und eine abgeschlossene Fachschulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG dürfen deshalb auch dann nicht der Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu § 32 a AVG zugeordnet werden, wenn sie nach Abschluß anderer Ausbildungen vergleichbare Berufserwartungen hatten. Das gebietet auch nicht Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes, weil sich für die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung sachgerechte Gründe anführen lassen.
Auf die Revision der Beklagten müssen deshalb das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen