Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.07.1973)

SG Stuttgart (Urteil vom 23.07.1970)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Juli 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Juli 1970 insoweit aufgehoben, als die Beklagte verurteilt worden ist, die Zeit vom 1. November 1945 bis 31. Mai 1946 der Leistungsgruppe B 2 und die Zeit vom 1. September 1950 bis 31. Juli 1952 der Leistungsgruppe B 1 der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes zuzuordnen. Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.

Die Revision der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Unter den Beteiligten ist noch streitig, wie die richterliche Tätigkeit der Klägerin in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR in den Jahren 1946 bis 1952 nach §22 des Fremdrentengesetzes (FRG) zu bewerten ist.

Die 1910 geborene Klägerin hat 1935 die erste und 1940 die zweite juristische Staatsprüfung abgelegt. Vom 1. Januar 1940 bis 30. Juni 1941 war sie als juristische Hilfsarbeiterin bei einer Berufsgenossenschaft beschäftigt. Ab November 1945 war sie beim Amtsgericht Leipzig als Gerichtsassessorin und ab Juni 1946 beim Landgericht Leipzig als Landgerichtsrätin, später „Landrichterin”, tätig. Sie war dort zunächst Vorsitzende einer erstinstanzlichen Kammer für Ehesachen, wobei sie als Einzelrichterin entschied; spätestens ab September 1950 war sie Vorsitzende einer mit Ehesachen befaßten Berufungskammer, bei deren Entscheidungen außer ihr regelmäßig noch zwei Volksrichter mitwirkten. Im Juli 1952 floh die Klägerin in die Bundesrepublik.

Durch Bescheid vom 9. August 1968 (und Neufeststellungsbescheid vom 11. Mai 1971) gewährte die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Dabei stufte sie die Klägerin nach der Anlage 1 zu § 22 FRG für die Zeit am Amtsgericht in die Leistungsgruppe B 3 und für die Zeit am Landgericht in die Leistungsgruppe B 2 ein.

Mit der Klage begehrte die Klägerin u. a. ihre Höherstufung um jeweils eine Gruppe, Damit hatte sie in den Vorinstanzen zum Teil Erfolg (Urteil des Sozialgerichts –SG– Stuttgart vom 23. Juli 1970 und des Landessozialgerichts – LSG– Baden-Württemberg vom 17. Juli 1973). Das LSG verurteilte die Beklagte, „die Zeit vom 1. November 1945 bis 31. August 1950 der Leistungsgruppe B 2 und die Zeit vom 1. September 1950 bis 31. Juli 1952 der Leistungsgruppe B 1 nach Anlage 1 zu § 22 FRG zuzuordnen”. Es hat ausgeführt: Schon für die Zeit der Beschäftigung als Gerichtsassessorin am Amtsgericht gehöre die Klägerin in die Leistungsgruppe B 2. Die richterliche Tätigkeit sei auf Grund ihrer Merkmale und der Stellung des Richters im ganzen der Staatsgewalt mindestens der Leistungsgruppe B 2 zuzuordnen. Das gelte auch für die Probezeit als Gerichtsassessor. Diese Tätigkeit unterscheide sich nicht von der des endgültig angestellten Richters. Die für die Leistungsgruppe B 2 geforderten „besonderen Erfahrungen” besitze der Gerichtsassessor auf Grund seiner akademischen Ausbildung und des danach abgeleisteten Vorbereitungsdienstes. Eine Höherstufung in die Leistungsgruppe B 1 für die Vorsitzendentätigkeit am Landgericht sei für die Zeit ab September 1950, nicht auch für die vorhergehende Zeit gerechtfertigt. Diese Leistungsgruppe setze ein hohes Maß an Erfahrungen voraus, das sich meist aus höherem Lebensalter und langer beruflicher Tätigkeit ergäbe. Aber auch die Übertragung und Ausübung einer hervorgehobenen richterlichen Funktion wie die des Vorsitzenden einer Berufungskammer lasse auf solch hohe Erfahrungen schließen. Im übrigen sei das Erfahrungsmaß nicht allein maßgebend; die hervorgehobene Funktion rechtfertige schon als solche eine Höhergruppierung. Das LSG habe allerdings nicht feststellen können, ob der Vorsitz in einer Berufungskammer der Klägerin bereits vor September 1950 übertragen worden sei. Bei etwa schon vorheriger Ausübung verhindere der dem FRG zugrunde liegende Eingliederungsgrundsatz eine Einstufung in B 1 für die Zeit bis August 1950. Die Klägerin könne nicht verlangen, der Leistungsgruppe B 1 für eine Zeit zugeordnet zu werden, in der sie eine vergleichbare Tätigkeit in der Bundesrepublik keinesfalls hätte ausüben können. Hier wäre sie, wenn überhaupt, keinesfalls vor September 1950, zur Vorsitzenden einer mit Berufsrichtern besetzten Kammer ernannt worden. Erst zu diesem Zeitpunkt habe sie zudem das für die Leistungsgruppe B 1 geforderte hohe Maß beruflicher Erfahrungen erreicht.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Sowohl die Klägerin als auch die Beklagte haben dieses Rechtsmittel eingelegte Beide rügen Verletzung des § 22 FRG.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr eine höhere Rente unter Berücksichtigung der Beitragszeiten vom 1. Juli 1946 bis 31. August 1950 in der Leistungsgruppe B 1 zu gewähren.

Sie hält die Unterscheidung, ob sie am Landgericht Vorsitzende einer erstinstanzlichen oder einer Berufungskammer gewesen sei und ob sie auf Grund des fortgeltenden Kriegsrechts zunächst als Einzelrichterin entschieden habe, nicht für gerechtfertigt. Der Kammervorsitzende am Landgericht sei in der Bundesrepublik immer gegenüber dem Richter am Amtsgericht hervorgehoben. In den westlichen Besatzungszonen wäre es ihr nach 1945 nicht unmöglich gewesen, eine der Leistungsgruppe B 1 entsprechende Tätigkeit auszuüben.

Ferner beantragt die Klägerin, die Revision der Beklagten zu verwerfen.

Die Beklagte beantragt mit ihrer Revision,

die Urteile der Vorinstanzen insoweit aufzuheben, als diese zur Zuordnung der Zeit vom 1. November 1945 bis 31. Mai 1946 zur Leistungsgruppe B 2 und der Zeit von 1. September 1950 bis 31. Juli 1952 zur Leistungsgruppe B 1 verurteilen.

Sie macht geltend: Als Gerichtsassessorin habe die Klägerin noch keine Berufserfahrung als Richterin und daher noch keine besonderen Erfahrungen im Sinne der Leistungsgruppe B 2 besessen. Das für die Zuordnung zur Leistungsgruppe B 1 erforderliche Maß an beruflicher Erfahrung werde von Akademikern regelmäßig erst mit Vollendung des 45. Lebensjahres erreicht. Eine Ausnahme von diesem Regelfall sei für die Tätigkeit der Klägerin am Landgericht Leipzig ab September 1950 nicht gerechtfertigt; das LSG habe diese Tätigkeit nicht der eines Vorsitzenden Richters an einem Berufungsgericht im Gebiet der Bundesrepublik gleichstellen dürfen.

Die Beklagte beantragt ferner, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revisionen sind zulässig. Die Beklagte hat ihre Revision noch innerhalb der bis zum 10. Dezember 1973 verlängerten Revisionsbegründungfrist und damit entgegen der Ansicht der Klägerin fristgerecht begründet.

In der Sache hat nur die Revision der Beklagten Erfolg.

Das LSG hat die Zeit, in der die Klägerin als Gerichtsassessorin tätig war, zu Unrecht der Leistungsgruppe B 2 zugeordnet. Nach Satz 1 der maßgebenden Definition umfaßt diese Leistungsgruppe Angestellte mit besonderen Erfahrungen und selbständigen Leistungen in verantwortungsvoller Tätigkeit mit eingeschränkter Dispositionsbefugnis, die Angestellte anderer Tätigkeitsgruppen einzusetzen und verantwortlich zu unterweisen haben. Die Definitionen der Leistungsgruppen der Anlage 1 zum FRG sind allerdings auf Beschäftigte in der Privatwirtschaft ausgerichtet; Beschäftigte im öffentlichen Dienst lassen sich nur in sinngemäßer Anlehnung an die Definitionsmerkmale einordnen (SozR Nr. 3 zu § 22 FRG). Das darf jedoch nicht zu einem Verzicht auf Merkmale führen, die nicht Beschäftigungen in der Privatwirtschaft eigentümlich sind, sondern in gleicher Weise auch für Beschäftigungen im öffentlichen Dienst Bedeutung haben. Insbesondere gilt das für das Merkmal der „besonderen Erfahrungen” (SozR Nr. 4 zu § 22 FRG). Über solche besonderen Erfahrungen hat die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Gerichtsassessorin noch nicht verfügt. Sie war damals von dem Alter von 45 Jahren, in dem diese Erfahrungen regelmäßig gesammelt zu sein pflegen (vgl. BSG 24, 113 [115]; SozR Nr. 4 zu § 22 FRG), noch weit entfernt. Allerdings kann diese Altersgrenze bei Angestellten, deren Berufstätigkeit eine abgeschlossene Hochschulausbildung erfordert, unterschritten werden, weil sie die geforderten Erfahrungen schon in kürzerer Zeit sammeln können (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. September 1973 – 11 RA 20/73 und vom 24. Oktober 1974 – 11 RA 156/73 –); dementsprechend wird z. B. bei dem im Berufskatalog der Leistungsgruppe B 2 erwähnten Oberarzt auch kein Mindestalter gefordert. Das bedeutet indessen nicht, daß sie die „besonderen Erfahrungen” bereits mit dem Studienabschluß aufzuweisen hätten; auch sie können diese nur durch Ausübung der Berufstätigkeit sammeln und darum bei regelmäßigen Beschäftigungsverlauf diese Erfahrungen nicht vor Vollendung des 30. Lebensjahres erworben haben. Der juristische Vorbereitungsdienst kann dabei nicht schon der Ausübung des angestrebten Berufs gleichgesetzt werden. Er dient nicht dem Sammeln von Erfahrungen im Beruf, sondern der Ausbildung für diesen. Zumindest im Regelfalle kann daher ein Gerichtsassessor, weil er die „besonderen Erfahrungen” erst erwerben muß, der Leistungsgruppe 2 nicht zugeordnet werden. Ob anderes zu gelten hat, wenn dem richterlichen Dienst andere zur Vermittlung einschlägiger Erfahrungen geeignete Tätigkeiten vorangegangen sind (vgl. Nr. 3 zu § 22 FRG), mag auf sich beruhen, da die Klägerin bis Juni 1946 außer als Gerichtsassessorin nur 18 Monate als juristische Hilfsarbeiterin bei einer Berufsgenossenschaft tätig gewesen war.

Hierbei ist nicht verkannt, daß sich die Tätigkeit des Gerichtsassessors nicht von der des endgültig angestellten Richters unterscheidet. Das ist jedoch für das Merkmal der „besonderen Erfahrungen” ohne Bedeutung; der Gesetzgeber geht im Rahmen von § 22 FRG offenbar davon aus, daß sich solche Erfahrungen jedenfalls günstig auf die Entlohnung auszuwirken pflegen.

Auch eine Zuordnung der Klägerin zur Leistungsgruppe B 1 für die Folgezeit, insbesondere die Zeit ihrer Tätigkeit als Vorsitzende einer Berufungskammer, entspricht nicht dem Gesetz. Zu dieser Leistungsgruppe gehören nach ihrer Definition Angestellte in leitender Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis. Diese Merkmale können bei Ausübung richterlicher Tätigkeit nicht erfüllt sein; der Beruf des Richters ist jedoch grundsätzlich einer Tätigkeit mit umfassender Aufsichts- und Dispositionsbefugnis gleichzuachten (vgl. SozR Nr. 3 zu §22 FRG). Daraus folgt indessen nicht, daß die richterliche Tätigkeit für sich allein bereits eine Zuordnung zur Leistungsgruppe B 1 rechtfertigt. Die Definition dieser Leistungsgruppe ist nicht erschöpfend; ihr voller Sinn erschließt sich erst aus dem Stufenverhältnis der Leistungsgruppen und insbesondere aus dem Vergleich mit den Merkmalen der Leistungsgruppe B 2 (vgl. BSG 24, 113 [115]). Das bedeutet, daß für eine Zuordnung zur Leistungsgruppe B 1 nur Baum ist, wenn auch „Erfahrungen” gegeben sind, die das Maß der für die Leistungsgruppe B 2 geforderten überschreiten. Las ist bei Akademikern regelmäßig erst im Alter von 45 Jahren der Fall (vgl. SozR Nr. 2 und Nr. 3 zu § 22 FRG). Die Klägerin hatte jedoch selbst bei Beendigung ihrer Tätigkeit am Landgericht Leipzig das Alter von 45 Jahren noch nicht erreicht; sie war zudem im Verhältnis zu ihrem Lebensalter nur verhältnismäßig kurze Zeit in ihrem Beruf tätig gewesen. Allerdings können Akademiker das für die Einstufung in die Leistungsgruppe 1 geforderte hohe Erfahrungsmaß schon vor Erreichen des 45. Lebensjahres besitzen, wenn sie schon vorher eine berufliche Position erreicht haben, die sich aus den allgemeinen Positionen ihrer Kollegen deutlich heraushebt. Bei Richtern muß sich diese Position dabei deutlich von dem sog. Eingangsamt unterscheiden. Auch das traf bei der Klägerin in ihrer Zeit am Landgericht Leipzig nicht zu. Als Vorsitzende einer erstinstanzlichen Kammer war sie als Einzelrichterin tätig; ihre Position entsprach damit im wesentlichen der eines Richters im Eingangsamt, auch wenn sie daneben noch gewisse Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen hatte. Aber auch als Vorsitzende einer Berufungskammer hat sie noch keine deutlich herausgehobene Stellung eingenommen. Sie ist nicht zur „Oberrichterin” ernannt worden (aus welchen Gründen auch immer); davon abgesehen war die Kammer außer mit ihr nur mit zwei sog. Volksrichtern besetzt, deren Qualifikation nach den Bekundungen der Klägerin und ihres Ehemannes damals jedenfalls noch hinter der von Volljuristen weit zurückblieb. Die berufliche Stellung der Klägerin war danach nicht mit der des planmäßigen Vorsitzenden einer landgerichtlichen Kammer im Bundesgebiet vergleichbar. Dessen hervorgehobene Stellung (vgl. Bayer. VerfGH NJW 1969, 1808 [1809]) war und ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß er – von hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen – als Vorsitzender einer mit drei Volljuristen als Berufsrichtern besetzten Kammer tätig wird.

Aus diesen Gründen war die Revision der Klägerin zurückzuweisen, der Revision der Beklagten stattzugeben und die Klage abzuweisen, soweit die Klägerin für die Zeit am Amtsgericht Leipzig eine höhere Einstufung als B 3 und für die Zeit am Landgericht Leipzig eine höhere Einstufung als B 2 begehrt.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Unterschriften

Dr. Buss, Heyer, Dr. Zimmer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926460

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