Entscheidungsstichwort (Thema)

Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Übergangszeit

 

Orientierungssatz

1. Nach § 20 S 2 iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat. Ausreichend ist, daß die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bis zum Beginn der Verfolgung bestanden hat.

2. Ein Verfolgter, der ursprünglich dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat, verliert diese Zugehörigkeit nicht bereits mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwog; vielmehr ist eine Übergangsfrist in Rechnung zu stellen. Verfolgung bzw Vertreibung können deren Dauer beeinflussen (Anschluß an BSG vom 19.4.1990 - 1 RA 105/88 = SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1).

 

Normenkette

WGSVG § 20 Abs 1 S 2, § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2, § 20 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 23.09.1988; Aktenzeichen L 1 An 19/88)

SG Berlin (Entscheidung vom 11.11.1987; Aktenzeichen S 4 An 2247/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Herstellung einer Versicherungsunterlage für Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG).

Der am 20. Mai 1922 in Warschau geborene ledige Kläger jüdischen Volkstums war von Geburt an polnischer Staatsbürger. Im Jahre 1958 (die im Urteil der Vorinstanz angegebene Jahreszahl 1957 trifft nicht zu) wanderte er von Polen nach Israel aus, dessen Staatsangehörigkeit er seitdem besitzt.

Im August 1982 beantragte der Kläger (sinngemäß) bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Anerkennung von Versicherungszeiten nach dem FRG. Er gab an, von 1938 bis September 1939 als Angestellter in einem Großhandelsgeschäft in Warschau gearbeitet zu haben, dann bei Kriegsausbruch in die UdSSR geflohen zu sein und in den Jahren von 1951 bis 1956 am Polytechnischen Institut für Geophysik in Lemberg studiert zu haben. Erst 1957 sei es ihm aufgrund eines polnisch-russischen Repatriierungsabkommens möglich geworden, nach Polen zurückzukehren. Dort habe er 1957/58 bis zu seiner Auswanderung nach Israel als Ingenieur für Geophysik gearbeitet.

Die Beklagte ließ vom israelischen Finanzministerium eine Sprachprüfung durchführen. In dem Bericht darüber heißt es, beide Elternteile - der 1893 in Stettin geborene Vater und die 1889 in Warschau geborene Mutter - seien in der Verfolgung umgekommen. Die Muttersprache des Vaters sei Deutsch gewesen; er habe in Stettin eine deutsche Schulausbildung durchlaufen und ab ca 1920 in Warschau gewohnt; im Beruf als Buchhalter habe er in Stettin Deutsch, in Warschau Polnisch gesprochen. Die Mutter (ein Teil ihrer Familie soll in Pommern wohnhaft gewesen sein) habe eine polnische Schulbildung gehabt; neben Polnisch habe sie Deutsch gesprochen, gelesen und geschrieben. Die Umgangssprache im Elternhaus sei überwiegend Deutsch, auch Polnisch gewesen. Der Kläger, ältestes von fünf Kindern, habe nach dem Besuch der polnischen Volksschule in Warschau von 1932 bis 1938 ein Gymnasium mit polnischer Unterrichtssprache und Deutsch als Fach besucht und nach der Verfolgung bis zur Auswanderung, den Gegebenheiten der Umwelt zufolge, im persönlichen Lebensbereich meist Polnisch gesprochen. Er spreche Deutsch fließend und einwandfrei, schreibe es mit Fehlern und ausgelassenen Wörtern und lese befangen, jedoch mit Verständnis vor. In der abschließenden Beurteilung ist ausgeführt, es sei begreiflich, daß der Kläger, mit 17 Jahren in die Verfolgung geraten, keine besonders klaren Angaben über seine Vorfahren machen könne, und daß er später, ohne Familienangehörige aufgewachsen, in russischer Studien- und Arbeitsumgebung wenig deutsche Freunde gefunden habe. Um so mehr sei zu betonen, daß er "Deutsch wie eine Muttersprache" spreche und sich im Deutschen auch schriftlich auszudrücken vermöge; er habe anscheinend bis jetzt seine Bindung an die deutsche Sprache nicht verloren. Nach Ansicht des Prüfers war der Kläger von Jugend an mit der deutschen Sprache vertraut und gehörte er beim Verlassen des Vertreibungsgebietes überwiegend dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) an.

Ein Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) wurde nicht durchgeführt; die Beklagte rechnete den Kläger dem Personenkreis der kollektiv Verfolgten iS des § 1 BEG zu.

Mit Bescheid vom 19. Juli 1984 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei kein Vertriebener und auch nicht nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) einem Vertriebenen gleichzustellen, weil er im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes nicht dem dSK angehört habe. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 1985).

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat nach Vernehmung zweier in Israel lebenden Zeugen die Klage durch Urteil vom 11. November 1987 abgewiesen. Das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. In der angefochtenen Entscheidung vom 23. September 1988 ist im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe weder zum Zeitpunkt des Verfolgungsbeginns (September 1939) noch des Verlassens Polens dem dSK zugehört; es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, daß er zu beiden Zeiten in seinem persönlichen Bereich die deutsche Sprache überwiegend gebraucht habe. Der Zeuge B. habe zwar über die Zeit vor der Verfolgung behauptet, im Elternhaus des Klägers sei hauptsächlich Deutsch gesprochen worden. Das Gericht bezweifle aber, ob die Angaben des Zeugen insoweit zuverlässig seien, weil er die Frage, welche Schulen der Kläger besuchte, nicht habe beantworten können. Die Angaben des Klägers allein reichten für die Glaubhaftmachung des überwiegenden Gebrauchs der deutschen Sprache nicht aus. Da seine Mutter im Gegensatz zum Vater keine deutsche, sondern eine polnische Schulausbildung habe, stehe schon nach den Angaben des Klägers nicht eindeutig fest, daß beide Elternteile deutscher Muttersprache gewesen seien. Von daher sei seine Behauptung, die Umgangssprache im Elternhaus sei überwiegend Deutsch gewesen, nicht sehr wahrscheinlich. Hinzu komme, daß der Kläger in Warschau aufgewachsen sei, wo die jüdische Bevölkerung nicht zum Deutschtum tendiert, sondern Deutsch lediglich als Bildungssprache beherrscht habe. Bei diesem Sachverhalt und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Kläger offenbar mehrsprachig aufgewachsen sei, könne nicht von einem überwiegenden Gebrauch der deutschen Sprache im Elternhaus ausgegangen werden. Daran ändere das Ergebnis der Sprachprüfung nichts. Die gute Beherrschung der deutschen Sprache könne auf deren Verwendung im Beruf zurückzuführen sein. Darauf deute hin, daß dem Kläger als Deutsch-Lektüre nur Fachliteratur für Vermessungswesen erinnerlich gewesen sei.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger, das LSG habe ungerechtfertigt hohe Anforderung an die Zugehörigkeit zum dSK gestellt. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung schließe selbst echte Mehrsprachigkeit diese Zugehörigkeit nicht aus. Da sein Vater auch vom LSG dem dSK zugerechnet worden sei, müsse dies auch für ihn gelten. Dabei sei auf den Zeitpunkt des Beginns der Verfolgungsmaßnahmen abzustellen. In diesem Zusammenhang müßten die Aussage des Zeugen B.       und das Ergebnis der Sprachprüfung beachtet werden. Das hiergegen vom Berufungsgericht ins Feld geführte Argument, seine Mutter habe eine polnische Schulbildung genossen, besage nichts über den Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich (Hinweis auf das Urteil des Senats vom 15. November 1988 - 4 RA 14/88). Was die Zeit während und nach der Verfolgung anlange, dürfe nicht außer acht gelassen werden, daß seine gesamte Familie in der Verfolgung umgekommen und er selbst irregulären Lebensverhältnissen ausgesetzt gewesen sei. Hiernach müßte noch die Frage der Glaubhaftmachung der begehrten FRG-Zeiten geprüft werden.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. September 1988 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, die Bindungen des Klägers zum dSK seien bereits bei Verfolgungsbeginn nur lose gewesen; nach den Feststellungen des LSG habe es an einer Zugehörigkeit sogar gefehlt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der beantragten Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus.

Nach § 11 Abs 2 Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVo) sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des FRG Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Da der Kläger nicht zum Personenkreis des § 1 FRG gehört und der zum 1. Juli 1990 in Kraft getretene § 17a FRG (Art 15 Abschn A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 des Rentenreformgesetzes 1992 -RRG 1992- vom 18. Dezember 1989 - BGBl I S 2261) im Verhältnis zu § 20 WGSVG nachrangig ist, könnten Versicherungszeiten, die der Kläger in Polen zurückgelegt haben will, nach den §§ 15, 16 FRG nur dann nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RRG 1992) stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) "vertriebene Verfolgte" gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Die Anwendung des FRG auf den Kläger hängt demnach unter der Voraussetzung, daß seine Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG (noch) festgestellt wird, davon ab, ob er "vertrieben" worden ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebener anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer "als deutscher Volkszugehöriger" nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Polen verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger im Sinne des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu bestimmt § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG, daß § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat.

Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 15. November 1988 - 4 RA 14/88 (SozR 5070 § 20 Nr 13) ausgeführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum dSK eine "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; SozR aaO Nrn 2, 4, 5 jeweils mwN). Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprach-, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich (so BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8), der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat (BSG SozR aaO Nr 4 S 14; BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8; Nr 13 S 50; BSG Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88 = SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1). Eine freiwillige, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Abkehr von der überwiegenden Verwendung der deutschen Sprache im persönlichen Bereich zieht danach den Verlust der Zugehörigkeit zum dSK nach sich (vgl zu allem Urteil des Senats vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88; ebenso: Urteile vom 16. August 1990 - 4 RA 18/89 - und vom 27. September 1990 - 4 RA 32/89).

Eine generelle Ausnahme von dem Erfordernis der Zugehörigkeit zum dSK und damit auch von der Notwendigkeit, die deutsche Sprache im persönlichen Bereich überwiegend zu verwenden, hat die Rechtsprechung jedoch für den Fall angenommen, daß ein vertriebener Verfolgter sich vom deutschen Volkstum wegen der Verfolgungsmaßnahmen abgekehrt hatte, da insoweit ein Festhalten am bzw ein Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum nicht verlangt werden könne. Ausreichend sei vielmehr insoweit, daß die Zugehörigkeit zum dSK bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgung bestanden habe (Urteil des Senats vom 28. Juni 1990 S 6 unter Hinweis auf BSG SozR 5070 § 20 Nr 2 S 5; Nr 9, S 32; vgl auch Giessler, Das Bundesentschädigungsgesetz, Erster Teil, 1981, S 83 f mwN).

Ausgehend von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung des BSG reichen die Feststellungen des Berufungsgerichts weder für die Zuerkennung des geltend gemachten Anspruchs (dem Grunde nach) noch für dessen Ablehnung aus. Das LSG hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - unerörtert und damit offen gelassen, ob der Kläger (wie von der Beklagten angenommen) Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Eine Entscheidung hierüber muß aber getroffen werden, weil die Feststellungen des LSG nicht für die rechtliche Folgerung ausreichen, der Kläger habe weder im Zeitpunkt des Beginns der Verfolgung noch zur Zeit des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört. Diesen Begriff der Zugehörigkeit zum dSK hat das LSG in seinen rechtlichen Voraussetzungen nicht richtig erkannt. Was den ersten Zeitpunkt anlangt, hat es das Berufungsgericht im wesentlichen aus zwei Gründen als nicht überwiegend wahrscheinlich angesehen, daß der Gebrauch der deutschen Sprache im Elternhaus des Klägers und in seinem übrigen persönlichen Bereich überwog. Zum einen ist ausgeführt, daß der Kläger in Warschau aufgewachsen sei, wo die jüdische Bevölkerung nicht zum Deutschtum tendiert, sondern sich überwiegend zum jüdischen Volkstum bekannt habe und die deutsche Sprache lediglich als Bildungssprache beherrscht worden sei. Ein solcher Gesichtspunkt rechtfertigt jedoch nicht die gezogene Schlußfolgerung, weil es hinsichtlich des überwiegenden Gebrauchs der deutschen Sprache im persönlichen Bereich auf die Verhältnisse des Einzelfalles ankommt und allgemeine Gepflogenheiten und Tendenzen Feststellungen hierüber nicht ersetzen können. Aber auch der Umstand, "daß der Kläger offenbar mehrsprachig aufgewachsen ist", läßt - wie aus obigen Darlegungen bereits hervorgeht - ebenfalls keine negative Deutung zu. Daran vermag auch das Argument des LSG nichts zu ändern, daß die Mutter des Klägers im Gegensatz zum Vater keine deutsche, sondern eine polnische Schulausbildung genossen habe. Denn eine im anderen Staat übliche Ausbildung besagt noch nichts über den späteren Sprachgebrauch im persönlichen Bereich. Vor allem aber kommt es auf die (überwiegende) Umgangssprache im Elternhaus an. Dabei können die auch vom LSG nicht bezweifelten Umstände, nämlich daß der Vater deutscher Herkunft gewesen sein und in Stettin etwa 27 Jahre gelebt haben soll und daß für die Mutter zwar nicht Deutsch als Muttersprache angegeben, jedoch ausgesagt worden ist, sie habe neben Polnisch auch Deutsch gesprochen, gelesen und geschrieben, ebenso wenig unberücksichtigt bleiben wie die weitere Aussage, die Umgangssprache im Elternhaus sei überwiegend Deutsch gewesen. Wenn das LSG diese Gegebenheiten neben der Aussage des Zeugen B.       über die Umgangssprache im Elternhaus des Klägers nicht für ausreichend erachtet, so muß es weitere Ermittlungen anstellen. Das gilt auch insoweit, als es die Auffassung vertritt, die gute Beherrschung der deutschen Sprache durch den Kläger könne auch darauf zurückzuführen sein, daß dieser sie bei seiner beruflichen Tätigkeit verwendet habe. Insoweit könnte durch weitere Ermittlungen die bloße Möglichkeit bestätigt oder ausgeschlossen werden. Das wird das LSG nachzuholen haben.

Ergibt sich, daß der Kläger Verfolgter ist und ursprünglich dem dSK angehört hat, so hätte er gleichwohl die Zugehörigkeit zum dSK nicht bereits mit dem Zeitpunkt verloren, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwog (BSGE 50, 282 = SozR aaO Nr 3 S 9; Nr 13 S 48; Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88 = SozR 3 aaO).

Der 1. Senat hat in dem erwähnten Urteil vom 19. April 1990 (aaO) entschieden, daß für die Dauer einer Übergangsfrist neben den subjektiven, persönlichen Gründen auch die objektiven Lebensverhältnisse erheblich sein können, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind. Es kann danach für den Fortbestand der Zugehörigkeit eines Verfolgten zum dSK nicht ohne Bedeutung sein, wenn er aufgrund der verfolgungsbedingten Lebensverhältnisse objektiv außerstande gewesen ist, auch im persönlichen Bereich seine deutsche Muttersprache weiter zu gebrauchen. Eine indizielle Bedeutung für eine "freiwillige" Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten - auch im persönlichen Bereich - um so weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben. Da dem Verlust der eigenen, mit der Muttersprache erworbenen Identität unter derartigen Bedingungen erhebliche innere Hemmnisse entgegenstehen, würde in solchen Fällen die Ablösung vom dSK eine längere Zeit in Anspruch nehmen, als wenn die Abwendung bereits unter "regulären" Lebensverhältnissen vor der Verfolgung eingesetzt hätte.

Der Senat schließt sich - wie schon in den Urteilen vom 28. Juni, 16. August und 27. September 1990 - der Entscheidung des 1. Senats an. Auch nach seiner Auffassung kann offenbleiben, ob - wie von der Revision vertreten - in bestimmten Fällen nach geltendem Recht generell eine Ausnahme von dem Erfordernis, dem dSK auch noch im Zeitraum der Aussiedlung angehören zu müssen, geboten ist. Gegen eine derartige Auslegung des § 20 Abs 2 WGSVG iVm § 19 Abs 2a WGSVG könnte auch die - neue - Regelung des § 17a FRG sprechen, die gerade diejenigen Verfolgten erfassen soll, die in der Zeit bis zur Ausreise aus ihren Heimatgebieten die Zugehörigkeit zum dSK verloren haben (vgl Bericht des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 11/5530, S 65 zu Nr 3a).

Verfolgungs- bzw vertreibungsbedingte Umstände, die sich auf Beginn und Dauer der Übergangszeit zur Distanzierung vom dSK auswirken würden, können nach den bisher getroffenen Feststellungen des LSG zumindest nicht ausgeschlossen werden. Hier bedarf es insbesondere der Erörterung und Bewertung, daß der Kläger (wohl) verfolgungsbedingt eine Reihe von Jahren in der UdSSR gelebt hat und deshalb - nachdem seinen Angaben zufolge seine Eltern und alle Geschwister in der Verfolgung umgekommen waren - im persönlichen Bereich nicht oder nur begrenzt die Möglichkeit gehabt haben dürfte, Deutsch zu sprechen.

Ob der Kläger dann, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG nicht erfüllt sind, ab 1. Juli 1990 einen Anspruch gemäß § 17a FRG auf Anerkennung der geltend gemachten Beitrags- und Beschäftigungszeiten hat, brauchte der Senat wegen der Nachrangigkeit des Anspruchs nach § 17a FRG im Verhältnis zu dem des § 20 WGSVG nicht zu entscheiden.

Ergibt sich nach weiteren Ermittlungen und Bewertung der getroffenen Feststellung, daß die Voraussetzungen des § 1 BEG und des § 20 WGSVG vorliegen, so wird zu untersuchen sein, ob und welche Versicherungszeiten nach dem FRG der Kläger zurückgelegt hat.

Die Revision des Klägers mußte daher zur Zurückverweisung der Streitsache an das LSG führen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1667107

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