Leitsatz (amtlich)
Der Träger der Unfallversicherung darf den Ersatzanspruch einer KK nicht allein wegen der nicht rechtzeitigen Erstattung der Unfallanzeige versagen, wenn ihm dadurch nachweislich ein Schaden nicht entstanden ist.
Normenkette
RVO § 1504 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Juli 1969 wird zurückgewiesen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Ersatz von Leistungen, die sie wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles des bei ihr versicherten Tankstellenbesitzers K R (R.) erbringen mußte. Beim Einlegen eines Schlauches in einen Reifen erlitt R. am 5. Januar 1968 einen Strecksehnenabriß im Bereich des Endgliedes des linken Ringfingers. Der Durchgangsarzt-Bericht ging am 12. Januar 1968, die Unfallanzeige des Versicherten als Betriebsinhabers am 16. Januar 1968 bei der Beklagten ein. Die Klägerin erhielt den Durchgangsarzt-Bericht am 9. Januar 1968. Sie erstattete ihre Unfallanzeige am 12. März 1968.
Die Beklagte versagte den Ersatzanspruch der Klägerin, da diese die Unfallanzeige verspätet erstattet habe.
Die Klägerin hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 30. Januar 1969 die Klage abgewiesen: Da die Krankenkasse jede mit Arbeitsunfall verbundene Krankheit eines gegen Unfall Versicherten dem Träger der Unfallversicherung unverzüglich anzuzeigen habe, sei es für die Frage der rechtmäßigen Versagung des Ersatzanspruches ohne Bedeutung, ob der Beklagten durch die verspätete Unfallanzeige der Klägerin ein Schaden entstanden sei.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 10. Juli 1969 die Beklagte verurteilt, der Klägerin 1 008,90 DM zu zahlen. Es hat zur Begründung u.a. ausgeführt: Daß R. am 5. Januar 1968 einen Arbeitsunfall erlitten und die Klägerin nach § 1504 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu ersetzende Aufwendungen in Höhe von 1 008,90 DM gehabt habe, sei zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Klägerin habe den Unfall des R. zwar nicht unverzüglich angezeigt. Dies rechtfertige allein jedoch noch nicht die Versagung ihres Ersatzanspruches. Während der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 1509 Abs. 4 RVO aF im Falle der nicht unverzüglich erstatteten Anzeige überhaupt keinen Ermessensspielraum gehabt habe, sei ihm ein solcher durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz eingeräumt worden mit der Folge, daß dieses Ermessen sachgerecht ausgeübt werden müsse. Bei der Ermessensausübung seien andere Umstände als die schuldhaft verspätete Anzeige zu berücksichtigen. Welche Umstände dies seien, könne nur aus dem Zweck der Verpflichtung der Klägerin zur unverzüglichen Anzeige hergeleitet werden, die Beklagte möglichst schnell in die Lage zu versetzen, den Sachverhalt in tatsächlicher und medizinischer Hinsicht aufzuklären, den Verletzten möglichst schnell einer bestmöglichen Behandlung zuzuführen. Dadurch werde in der Regel der finanzielle Aufwand des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Arbeitsunfalles geringer gehalten werden können. Für die Frage, ob der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung den Ersatzanspruch ganz oder teilweise versagen könne, sei deshalb darauf abzustellen, ob und in welcher Höhe ihm durch die nicht unverzüglich erstattete Anzeige Nachteile erwachsen seien. Die Beklagte habe aber ausdrücklich erklärt, daß ihr durch die nicht unverzügliche Erstattung der Anzeige der Klägerin keine Nachteile entstanden seien.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie führt aus: Die positive Ausübung des in § 1504 Abs. 2 RVO beim Vorliegen der Voraussetzungen gegebenen Versagungsrechts könne niemals einen der Nachprüfung durch die Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit unterliegenden Ermessensmißbrauch darstellen. Hätte sie dieses Versagungsrecht nicht in allen Fällen, in denen es ihr beliebe, ausüben sollen, so hätte der Gesetzgeber die Kann-Vorschrift über ihr Versagungsrecht in § 1504 Abs. 2 RVO anders oder zumindest deutlich dahin fassen und mit der deutlichen Beschränkung des Inhaltes dahin versehen müssen, daß sie das Versagungsrecht nur nach irgendeinem besonderen pflichtgemäßen Ermessen oder nur unter irgendwelchen besonderen, in ihre pflichtgemäße Beurteilung gestellten Umstände ausüben dürfe. Diese Auffassung lege dem § 1504 Abs. 2 RVO zwar eine Art von Sanktionscharakter bei; dies sei jedoch vom Gesetzgeber durchaus beabsichtigt worden. Der Sanktionscharakter sei entgegen der Auffassung des LSG nicht durch die Ordnungsstrafenbefugnis der Versicherungsämter entbehrlich, da diese nur in den Fällen eingreife, in denen eine Anzeige überhaupt unterlassen werde. Würde man der Auffassung des LSG folgen, so würde § 1503 RVO zu einer rein papierenen Vorschrift; nur in den Fällen des § 1503 Abs. 1 Satz 3 RVO sei aber überhaupt ein Ersatzanspruch der Krankenkasse nach § 1504 RVO denkbar. Zudem sei die Versagung nicht ermessensmißbräuchlich; denn bei sofortiger Erstattung der Anzeige hätte sie dem Versicherten unmittelbar nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, also vom Unfalltage an, Barleistungen zukommen lassen können. Durch die nicht alsbaldige Anzeigenerstattung sei ihr diese Möglichkeit genommen worden.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den Anträgen in der Vorinstanz, insbesondere im Ergebnis auf Klagabweisung, hilfsweise aber auf Zurückverweisung an die Vorinstanz zu erkennen.
Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren zur Sache nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind gegeben.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat die Klägerin ihrem Mitglied R. wegen dessen unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf des 18. Tages nach dem Arbeitsunfall Krankengeld in Höhe von 1 008,90 DM gewährt. Diese Kosten hat die Beklagte nach § 1504 Abs. 1 RVO der Klägerin zu ersetzen. Den Ersatzanspruch darf die Beklagte nicht gemäß § 1504 Abs. 2 RVO ganz oder teilweise versagen.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Klägerin die ihr nach § 1503 Abs. 1 RVO obliegende Anzeige des Arbeitsunfalles ihres Mitgliedes R. nicht rechtzeitig erstattet hat.
Nach dem bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) geltenden Recht (s. § 1509 Abs. 4 RVO aF) hatte die Krankenkasse in diesem Fall keinen Anspruch auf Ersatz für Aufwendungen für das Heilverfahren. Demgegenüber schließt § 1504 Abs. 2 RVO idF des UVNG den Ersatzanspruch nach Abs. 1 dieser Vorschrift nicht mehr kraft Gesetzes aus. Vielmehr kann der Unfallversicherungsträger den Ersatzanspruch ganz oder teilweise versagen. Es steht somit, wie das LSG in Übereinstimmung mit der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassung zutreffend entschieden hat, nunmehr im Ermessen des Trägers der Unfallversicherung, den Ersatzanspruch ganz oder teilweise zu versagen (vgl. u.a. Hess. LSG Breith. 1968, 747; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 966 e; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 1504 Anm. 15; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kenn-Nr. 900 S. 10; Lohmar/Hustadt, Die gesetzliche Unfallversicherung, 2. Aufl., 1963, S. 166; Podzun/Adolph, Zusammenarbeit, Ersatzansprüche und Streitverfahren zwischen Krankenkassen und Berufsgenossenschaften, 2. Aufl., 1963, S. 20). Die Revision meint zu Unrecht, hätte der Unfallversicherungsträger das Versagungsrecht nicht in allen Fällen, in denen es ihm beliebe, ausüben sollen, so hätte der Gesetzgeber die Kann-Vorschrift über das Versagungsrecht anders oder zumindest deutlich dahin fassen müssen, daß der Unfallversicherungsträger das Versagungsrecht nur nach pflichtgemäßem Ermessen oder nur unter irgendwelchen besonderen, in seine pflichtgemäße Beurteilung gestellten Umstände ausüben dürfen. Wird der Ausdruck "kann" im Gesetz verwendet, so liegen regelmäßig Ermessensfragen vor (Brackmann aaO S. 238 x); einer ausdrücklichen Beschränkung, daß die Entscheidung nicht in das Belieben, sondern in das sachgemäße Ermessen gestellt werde, bedarf es nicht. Sinn und Zweck des § 1504 Abs. 2 RVO rechtfertigten keine andere Auslegung. Die Revision berücksichtigt vor allem nicht ausreichend die Bedeutung des § 1504 RVO als Ausgleich für die Vorleistungspflicht der Krankenkasse in Versicherungsfällen, die zwar auch ihre Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten begründen, aber dem Risikobereich des Trägers der Unfallversicherung zuzurechnen sind (vgl. Brackmann aaO S. 964 q ff. mit weiteren zahlreichen Nachweisen). Mit dem Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen als Ausgleich für die Vorleistungspflicht in den dem Risikobereich der Unfallversicherung zuzurechnenden Versicherungsfällen wäre es nicht mehr vereinbar, die Versagung eines an sich begründeten Ersatzanspruches der Krankenkasse in das Belieben und nicht in das sachgemäße Ermessen des Trägers der Unfallversicherung zu stellen. Der Gesetzgeber ist ebenfalls davon ausgegangen, daß die Versagung des Ersatzes im Ermessen des Trägers der Unfallversicherung steht (s. BT-Drucks. IV/120, S. 78, zu Art. 2 Nr. 7). Die nur beschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit der Ermessensentscheidung (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) sichert andererseits die berechtigten Interessen des Unfallversicherungsträgers.
Die Beklagte hat ihr Ermessen jedoch überschritten und somit nicht fehlerfrei ausgeübt. Der Ersatzanspruch der Krankenkasse bildet, wie der Senat bereits dargelegt hat, den Ausgleich für die Vorleistungspflicht der Krankenkasse in den dem Risikobereich der Unfallversicherung zuzurechnenden Versicherungsfällen. Ihn nach § 1504 Abs. 2 RVO ganz oder teilweise zu versagen ist gerechtfertigt, wenn wegen der nicht unverzüglichen Unfallanzeige der Träger der Unfallversicherung - wie durch sie bezweckt (s. Brackmann aaO S. 962 d) - an einer frühzeitigen Entscheidung über eigene Maßnahmen gehindert war und er dadurch erhöhte Entschädigungsleistungen zu erbringen hat. Der Träger der Unfallversicherung kann dagegen den Ersatzanspruch der Krankenkasse nicht allein wegen der nicht rechtzeitigen Erstattung der Unfallanzeige versagen, wenn ihm dadurch nachweislich ein Schaden nicht entstanden ist (Brackmann aaO S. 966 f; Lohmar-Hustadt aaO S. 166; a.A. Hess. LSG Breith. 1968, 747). Den berechtigten Interessen der Träger der Unfallversicherung wird durch die nur auf Ermessensfehler beschränkte gerichtliche Nachprüfung ihrer Entscheidung auch in den Fällen Rechnung getragen, in denen erhebliche Gründe für einen durch die nicht rechtzeitige Unfallanzeige bedingten Schaden vorliegen, der Schaden selbst oder seine Höhe aber nicht oder nur unter unverhältnismäßig hohem Verwaltungsaufwand im einzelnen nachweisbar ist. In diesen Fällen wird die entsprechende Versagung regelmäßig nicht ermessensfehlerhaft sein.
Die gegenteilige Auffassung, die eine Versagung auch in den Fällen nicht für ermessensfehlerhaft ansieht, in denen dem Träger der Unfallversicherung durch die nicht rechtzeitige Unfallanzeige nachweislich kein Schaden entstanden ist, gibt der Versagung nach § 1504 Abs. 2 RVO nicht nur, wie die Revision meint, eine "Art von Sanktionscharakter", sondern dient, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, ausschließlich dem Zweck, die Krankenkasse für ihre Säumnis zu bestrafen und für die Zukunft zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Unfallanzeige anzuhalten. Dies ist jedoch entgegen der Auffassung der Revision nicht Aufgabe und Sinn des § 1504 Abs. 2 RVO (ebenso Brackmann aaO S. 966 f).
Der Beklagten ist durch die nicht rechtzeitige Unfallanzeige der Klägerin kein Schaden entstanden. Sie hat durch die Durchschrift des Durchgangsarzt-Berichtes von dem Unfall nur drei Tage später als die Klägerin und somit höchstens einen Tag später als bei einer unverzüglichen Unfallanzeige der Krankenkasse erfahren. Die Ausführungen der Beklagten, sie hätte bei einer unverzüglichen Unfallanzeige bereits unmittelbar nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Barleistungen an R. erbringen können, sind deshalb nicht verständlich. Sie hat schon drei Tage nach dem Unfall Ermittlungen anstellen können und auch noch vor dem Eingang der Unfallanzeige der Klägerin, die keine weitergehenden Angaben als der Durchgangsarzt-Bericht zu enthalten brauchte, Ermittlungen durchgeführt. Sie hat demnach die Gewährung von Barleistungen nicht wegen der noch ausstehenden Unfallanzeige der Klägerin unterlassen. Sie hat außerdem im Berufungsverfahren ausdrücklich erklärt, daß ihr durch die verspätete Unfallanzeige der Klägerin kein Schaden entstanden ist.
Es ist nicht ersichtlich, weshalb - wie die Revision vorträgt - durch die auch vom Senat vertretene Auffassung des Berufungsgerichts "§ 1503 RVO zu einer rein papierenen Vorschrift" wird. Unabhängig von einer möglichen Ordnungsstrafe wird die Bedeutung des § 1503 RVO auch durch § 1504 Abs. 2 RVO deutlich. Die Krankenkasse kann nicht damit rechnen, daß der Träger der Unfallversicherung stets und rechtzeitig durch einen Dritten Kenntnis von dem Arbeitsunfall erhält. Für sie besteht deshalb die Gefahr, daß das Unterlassen der Anzeige Folgen hat, die den Träger der Unfallversicherung zur Versagung des Ersatzanspruches berechtigen können. Die Ausführungen der Revision, es solle dann ein Ersatzanspruch der Krankenkasse nach § 1504 RVO nur in den Fällen des § 1503 Abs. 1 Satz 3 RVO denkbar sein, sind nicht verständlich, da gerade die Kosten der Krankenpflege nach § 1504 Abs. 1 Satz 2 RVO von dem Ersatzanspruch ausgenommen sind.
Ist somit nach den eigenen Angaben der Beklagten ihr durch die nicht rechtzeitige Unfallanzeige der Klägerin kein Schaden entstanden und sind auch sonst keine Gründe vorgebracht (vgl. BSG 3, 209, 214; 9, 232, 239; Brackmann aaO S. 240 c) oder auch ersichtlich, die eine Versagung des Ersatzanspruches rechtfertigen könnten, bleibt für die Ausübung eines Handlungsermessens kein Raum mehr. Das LSG hat deshalb der Leistungsklage mit Recht stattgegeben. Die für eine Verpflichtungsklage geltenden verfahrensrechtlichen Regeln (s. Brackmann aaO S. 240 h) sind im Rahmen der geltend gemachten Versagung eines mit der Leistungsklage erhobenen Ersatzanspruches nicht anwendbar.
Die Aufwendungen der Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts sind nicht erstattungsfähig (§ 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen