Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfall als Vorsitzender eines Gewerbeverbandes
Leitsatz (redaktionell)
Der Kreis der dem Versicherungsschutz unterliegenden in Betracht kommenden Berufsorganisationen, ist allerdings nicht auf Handwerksinnungen zu beschränken, sondern kann auch breiter gestreute Verbände wie hier der Gewerbeverein oder den Gewerbeverband berücksichtigen. Trotzdem hat der Verunglückte dem Versicherungsschutz nicht unterstanden, da seine beabsichtigte Tätigkeit als Redner in der Versammlung des Gewerbevereins keine innere Beziehung zu dem ausgeübten Beruf eines selbständigen Schneidermeisters aufgewiesen hat. Unverkennbar bestehen allerdings zwischen dem versicherten Handwerksunternehmen des Verunglückten und dessen ehrenamtlicher Betätigung im Aufgabenbereich des Oberrheinischen Gewerbeverbandes gewisse Berührungspunkte. Diese sind aber nicht so erheblich, daß deswegen in der Mitwirkung des Verunglückten an der Veranstaltung des Gewerbevereins noch ein Ausfluß seiner Berufstätigkeit als Schneidermeister erblickt werden könnte.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. November 1960 und des Sozialgerichts Freiburg vom 14. April 1959 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen
Gründe
I
Der als Schneidermeister in H tätige Kläger war auf Grund des § 538 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit der Satzung bei der Beklagten unfallversichert. Am 16. November 1957 erlitt er auf einer Kraftwagenfahrt von H nach W einen Unfall, der eine Hüftgelenksverletzung zur Folge hatte. In W wollte der Kläger, der ehrenamtlich Vorsitzender des Gewerbevereins H sowie Kreisvorsitzender und Vorstandsmitglied im O Gewerbeverband (Sitz R) war, auf einer Versammlung des Gewerbevereins W einen Vortrag über "Die Lage des gewerblichen Mittelstands nach den Bundestagswahlen" halten. Nach der vom Kläger vorgelegten Inhaltsangabe sollte sich der Vortrag im ersten Teil mit allgemeinen handwerkspolitischen Tagesfragen, im zweiten Teil mit der besonderen Lage im Schneiderhandwerk und in anderen notleidenden Handwerkszweigen, im dritten Teil mit den erforderlichen Hilfsmaßnahmen befassen. An Stelle des Klägers sprach an dem betreffenden Abend ein Stadtrat und Schlossermeister über allgemeine, die Gewerbetreibenden interessierende Fragen, insbesondere die Partnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Der Oberrheinische Gewerbeverband als Spitzenorganisation der örtlichen Gewerbevereine im Raum Südbaden bezweckt die freiwillige Zusammenfassung sämtlicher Berufe aus Handwerk, Handel und Gewerbe; er veranstaltet Fachvorträge zur Fortbildung der Mitglieder über steuerrechtliche, soziale, Buchführungs- und ähnliche Fragen; für solche Vorträge war auch der Kläger wiederholt eingesetzt worden; die Vorstandsmitglieder des Verbands sind privat gegen Unfall versichert. -
Der Gewerbeverein H bezweckt nach § 2 seiner Satzung unter Ausschluß eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs die Wahrnehmung und Förderung der beruflichen und wirtschaftlichen Interessen des Gewerbes in der Stadt Herbolzheim und im Kreis Emmendingen sowie die Unterstützung aller gemeinnützigen und sozialen Einrichtungen. Nach § 5 der Vereinssatzung sind als ordentliche Mitglieder sämtliche selbständigen Gewerbetreibenden zugelassen; außerordentliche Mitglieder mit Stimm- und Wahlrecht können Freunde und Gönner des Gewerbes werden.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch des Klägers ab mit der Begründung, die Fahrt nach Waldkirch habe weder in unmittelbarem noch in mittelbarem Zusammenhang mit dem Schneidereibetrieb gestanden. Der Kläger sei nicht wegen seiner Eigenschaft als Schneidermeister zum Kreisvorsitzenden im Oberrheinischen Gewerbeverband gewählt worden, sondern wegen seiner Mitgliedschaft im Gewerbeverein Herbolzheim, bei dem es sich nicht um eine reine Handwerkervereinigung handele. Der Verein und der Verband stellten also keine beruflichen Fachorganisationen dar.
Das Sozialgericht Freiburg hat die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger wegen seines Arbeitsunfalls vom 16. November 1957 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren: Da es in kleineren Ortschaften nicht möglich sei, für jeden Handwerkszweig eine eigene Organisation zu gründen, seien Mitglieder von Gewerbevereinen und -verbänden hinsichtlich des Unfallversicherungsschutzes bei ehrenamtlichen Tätigkeiten ebenso zu behandeln wie die in reinen Fachorganisationen Tätigen. Die Ausführungen in dem vom Kläger zu haltenden Vortrag wären nicht nur den zuhörenden Handwerksmeistern, sondern auch dem Unternehmen des Vortragenden selbst zugute gekommen; denn der Kläger habe sich mit den in seinem Vortrag zu behandelnden Fragen besonders befassen müssen und sei daher imstande, daraus Schlußfolgerungen für sein eigenes Schneiderhandwerk zu ziehen und anzuwenden.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat durch Urteil vom 23. November 1960 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die Tätigkeit des Klägers habe insofern wesentlich seinem eigenen Handwerksunternehmen gedient, als Sinn und Zweck seiner Verbandstätigkeit und seines Vortrags gewesen seien, das Handwerk nicht nur über Möglichkeiten zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu unterrichten, sondern auch zur aktiven Mitarbeit hierbei zu ermutigen. Der Gewerbeverein könne sein Ziel der beruflichen und wirtschaftlichen Förderung des Gewerbes, an dem jeder einzelne Gewerbetreibende und somit auch der Kläger selbst als Unternehmer interessiert seien, nur dadurch erreichen, daß er in laufendem Kontakt mit den Gewerbetreibenden bleibe, ihnen Anregungen gebe, von ihnen Anregungen erhalte und so die Gewähr schaffe, daß seine Vorschläge und Ziele mit dem Meinen und Denken der Masse der Gewerbetreibenden in dem erwünschten und notwendigen Einklang stünden. Deshalb stehe auch der Teil des Vortrags, in dem der Kläger die Situation des gewerblichen Mittelstands nach den Wahlen in allgemein politischer Hinsicht erörtern wollte, in einem Zusammenhang mit den Interessenten seines eigenen Unternehmens.
Die Teilnahme an Versammlungen von Berufsverbänden werde in der Rechtsprechung als unfallversichert angesehen (Lauterbach Anm. 9 i zu § 537; OVA Stade, BG 1953, 78; Bayer. LVAmt, Breith. 1953, 1174; Rundschreiben VB 101/52 vom 27.6.1952). In dieser Beziehung seien nicht nur die eigentlichen Fachorganisationen, sondern auch solche Verbände, die über einen Innungszusammenschluß hinausgingen, für die wirtschaftlichen Interessen des einzelnen Unternehmens von wesentlicher Bedeutung. Zwar sei nicht zu unterstellen, daß ein Unternehmer für seine Berufsorganisation in Ausfluß seines Berufs tätig werde, vielmehr komme es auf die Umstände des einzelnen Falles, insbesondere darauf an, ob die Tätigkeit in der Berufsorganisation in einer inneren Beziehung zum ausgeübten Beruf stehe (BSG 8, 170, 173). Dies sei hier der Fall. Dagegen komme ein Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 10 RVO (BSG 8, 175) nicht in Betracht, da keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß der Kläger als Vorstandsmitglied und Kreisvorsitzender wie ein auf Grund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses Beschäftigter tätig geworden sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 19. Dezember 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. Januar 1961 Revision eingelegt und sie am 2. Februar 1961 wie folgt begründet: Das LSG habe zu Unrecht einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen der Vortragstätigkeit des Klägers und dessen versicherter Arbeitstätigkeit als Schneidermeister angenommen. Das angefochtene Urteil stehe mit den vom angerufenen Senat (BSG 8, 170) aufgestellten Grundsätzen nicht in Einklang. Die Auffassung des LSG führe zu einer uferlosen Ausdehnung des Versicherungsschutzes. Hiernach müßten zB auch Stammtisch-Zusammenkünfte von Kleingewerbetreibenden, bei denen über Sorgen und Nöte des betreffenden Gewerbezweiges gesprochen werde, als unfallversichert gelten. Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision. Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und führt ergänzend aus, Betätigung und Dispositionen eines Gewerbetreibenden seien heute nicht mehr allein aus dem jeweiligen besonderen Fachgebiet heraus zu beurteilen. Die moderne Wirtschaft und Gesellschaft hätten eine Verzahnung der verschiedenen beruflichen und wirtschaftlichen Tätigkeiten mit sich gebracht, so daß ein Gewerbetreibender seine berufliche Tätigkeit - hierzu gehörten übrigens nicht allein die Herstellung oder der Vertrieb der jeweiligen Ware, sondern darüber hinaus auch noch weitere Kenntnisse, wie etwa über Werbung, Kundendienst, Fragen des Arbeitsrechts und dgl. - nicht mehr allein aus der Situation seiner unter Umständen eng angelegten Branche beurteilen könne. Vielmehr müsse er darüber hinaus engen Kontakt mit anderen Gewerbezweigen ähnlichen strukturellen Aufbaus und ähnlicher Zielsetzung suchen, um wiederum für seine spezielle Branche die richtigen Maßnahmen zu treffen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Befugnis, in dieser Weise zu verfahren (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), Gebrauch gemacht.
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Der vom LSG vertretenen Auffassung, auf der Fahrt nach Waldkirch habe der Kläger dem Versicherungsschutz bei der Beklagten unterstanden, da seine beabsichtigte Tätigkeit als Redner in der Versammlung des Gewerbevereins Waldkirch eine innere Beziehung zu dem ausgeübten Beruf eines selbständigen Schneidermeisters aufgewiesen habe, konnte der Senat nicht beipflichten. Unverkennbar bestehen allerdings zwischen dem bei der Beklagten versicherten Handwerksunternehmen des Klägers und dessen ehrenamtlicher Betätigung im Aufgabenbereich des Oberrheinischen Gewerbeverbandes gewisse Berührungspunkte; diese sind aber nicht so erheblich, daß deswegen in der Mitwirkung des Klägers an der Veranstaltung des Gewerbevereins Waldkirch noch ein Ausfluß seiner Berufstätigkeit als Schneidermeister in Herbolzheim erblickt werden könnte.
In Fällen der hier gegebenen Art bedarf es, wie der erkennende Senat in dem vom LSG angeführten Urteil vom 21. Oktober 1958 (BSG 8, 170, 172) dargelegt hat, bei jedem einzelnen Fall der Prüfung, ob zwischen der Tätigkeit des einer Berufsorganisation angehörenden Unternehmers für diese Organisation und der Tätigkeit im eigenen Unternehmen ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang besteht. Die im Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 27. Juni 1952 (VB 101/52) angenommene "Unterstellung" dieses Zusammenhanges ist vom Senat als zu weitgehend abgelehnt worden. Zwar vermeidet auch das angefochtene Urteil eine solche pauschale Unterstellung, sondern stellt es auf die Umstände des einzelnen Falles ab. Dabei sind aber die Erwägungen, mit denen das LSG den Versicherungsschutz des Klägers bei der Beklagten rechtfertigen zu können gemeint hat, nicht überzeugend.
Allerdings bestehen insoweit noch keine Bedenken gegen die Ausführungen des LSG, als es den Kreis der in Betracht kommenden Berufsorganisationen nicht auf Handwerksinnungen - einen solchen Sachverhalt betraf die Entscheidung in BSG 8, 170 - beschränken, sondern auch "breiter gestreute" Verbände, wie hier der Gewerbeverein bzw. Gewerbeverband berücksichtigen will. Unter den Zielen, die etwa der Gewerbeverein Herbolzheim nach § 3 seiner Satzung anstrebt, befinden sich mehrere, die in ihrer unmittelbaren praktischen Bedeutung für das ortsansässige Handwerk durchaus der Wirksamkeit einer Innung vergleichbar erscheinen. Wie der Kläger auch mit Recht geltend gemacht hat, können Zusammenschlüsse nach Art der Gewerbevereine für die in kleineren Gemeinden niedergelassenen Handwerker eine ähnliche betriebsfördernde Bedeutung gewinnen wie die an den größeren Orten errichteten Innungen. Trotz der beruflich sehr verschiedenartigen Zusammensetzung des Mitgliederkreises wäre es daher nicht von vornherein auszuschließen, daß der Kläger in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Gewerbevereins Herbolzheim bei Veranstaltungen dieses Vereins Tätigkeiten verrichtet haben könnte, die noch seinem in Herbolzheim betriebenen Schneidereiunternehmen zuzurechnen wären.
Den Unfall hat der Kläger jedoch nicht bei einer Tätigkeit innerhalb dieses Bereichs erlitten. Ob er Versicherungsschutz durch die Beklagte beanspruchen könnte, falls er etwa an einer Zusammenkunft der Kreisvorsitzenden im Oberrheinischen Gewerbeverband teilgenommen hätte, erscheint bereits zweifelhaft (vgl. Bayerisches LV-Amt, Breith. 1952, 1229), da bei einem Tätigwerden auf Verbandsebene die örtlichen und inneren Beziehungen zum eigenen Betrieb naturgemäß bedeutend abgeschwächt in Erscheinung treten. Diese Frage bedarf indessen keiner abschließenden Prüfung. Denn zur Zeit des Unfalls hat der Kläger weder sich für den von ihm geleiteten Gewerbeverein Herbolzheim betätigt noch an einer Veranstaltung des Oberrheinischen Gewerbeverbandes teilgenommen, sondern war auf dem Wege nach Waldkirch, um auf einer Versammlung des dortigen Gewerbevereins einen Vortrag zu halten. Bei dieser Sachlage kann nach Ansicht des Senats ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang mit dem Schneidereibetrieb des Klägers nicht mehr anerkannt werden. Ob der Zusammenhang doch noch bestünde, wenn es sich bei dem Vortrag um ein allein die besonderen Belange des Schneiderhandwerks betreffendes Fachreferat gehandelt hätte, kann dahingestellt bleiben. Der Inhalt des Vortrages, den der Kläger zu halten gedachte, läßt nach dem von ihm selbst vorgetragenen Exposé eine solche fachliche Ausrichtung in keiner Weise erkennen.
Vielmehr sollte der Vortrag allgemeine Gedankengänge enthalten, wie sie von maßgebenden Vertretern des gewerblichen Mittelstandes bei zahlreichen Gelegenheiten des öffentlichen Lebens - etwa bei Aussprachen im Gemeinde- oder Landesparlament - vorgetragen zu werden pflegen; die Hinweise auf die besondere Lage des Schneiderhandwerks bildeten offensichtlich nicht den Schwerpunkt des Vortrags, sondern sollten dem Kläger nur Gelegenheit geben, seine allgemeinen mittelstandspolitischen Auslassungen an einem Beispiel zu demonstrieren. Die Betätigung eines Handwerksmeisters auf dieser mittelstandspolitischen Ebene dem Versicherungsschutz bei der beklagten Textil- und Bekleidungs-Berufsgenossenschaft zu unterstellen, nur weil es sich bei dem von ihm ausgeübten Beruf um den eines Schneidermeisters handelt, hält der Senat nicht für angängig; denn die Beziehung zu diesem Beruf ist hier zu äußerlich und zu lose, um noch einen wesentlichen inneren Zusammenhang erkennen zu lassen. Entgegen der von den Vorinstanzen vertretenen Auffassung lagen daher für die Mitwirkung und die Teilnahme des Klägers an der Veranstaltung in Waldkirch die Voraussetzungen des durch die Beklagte zu gewährenden Versicherungsschutzes nicht vor.
Die Revision ist hiernach begründet. Unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen mußte die Klage abgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen