Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittelzulassung nur im Tenor?
Leitsatz (redaktionell)
Der Senat teilt die gegen die bisherige Rechtsprechung des BSG erhobenen Bedenken, wonach der Ausspruch der Berufungszulassung auch in den Urteilsgründen wirksam ist (Bestätigung der vom Senat im Urteil vom 1976-11-24 9 RV 104/75 = SozR 1500 § 150 Nr 4 vertretenen Auffassung).
Normenkette
SGG § 150 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. März 1975 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin verlangte 1968 vom Beklagten nach § 19 Bundesversorgungsgesetz (BVG) Ersatz von Pflegekosten in Höhe von 273,- DM; diese hatte sie für 78 Pflegestunden während einer Hauspflege anstelle einer eigentlich gebotenen, aber nicht möglichen Krankenhausbehandlung ihrem Mitglied, der Beschädigten Gerda B, gewährt. Das Sozialgericht (SG) verurteilte aufgrund mündlicher Verhandlung das beklagte Land, den Betrag an die Klägerin zu zahlen (Urteil vom 17. August 1972). In den Urteilsgründen wurde mitgeteilt, die Kammer habe entsprechend dem Hilfsantrag des Beklagten die Berufung zugelassen, weil es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele; diese Entscheidung brauche nicht in den Urteilsausspruch aufgenommen zu werden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 20. März 1975 = ZfS 1975, 191): Die Berufung sei nach § 149 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen und nicht kraft einer Zulassung gemäß § 150 Nr 1 SGG statthaft. Ein solcher Zulassungsausspruch hätte als Teil der Urteilsformel mit verkündet werden müssen, und die Sitzungsniederschrift müßte ergeben, daß das SG eine solche Entscheidung getroffen habe; das sei nicht der Fall. Entgegen der vom Bundessozialgericht (BSG) vertretenen Auffassung könne die Zulassung in den Urteilsgründen nicht wirksam ausgesprochen werden.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 150 Nr 1 SGG. Im einzelnen bezieht er sich auf die Rechtsprechung des BSG, wonach in den Entscheidungsgründen ein Rechtsmittel wirksam zugelassen ebenso wie eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könne. Ein Zweifel daran, daß die Zulassung beschlossen sei, lasse sich auch nicht durch die Bekanntgabe in der Urteilsformel ausschließen. Die Zulassung der Berufung gehöre nicht zum wesentlichen Inhalt der Gründe, der nach § 132 Abs 2 Satz 2 SGG aF hätte mitgeteilt werden müssen. Das LSG hätte demnach über die Berufung sachlich entscheiden und ihr auch stattgeben müssen. Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung der Urteile des LSG und des SG die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.
Der Vertreter der Beigeladenen schließt sich der vom Beklagten vertretenen Rechtsauffassung an.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das LSG. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht das Rechtsmittel des Beklagten als unzulässig verworfen.
Die nach § 149 SGG ausgeschlossene Berufung war nach § 150 Nr 1 SGG kraft Zulassung statthaft.
Der Senat sieht ebenso wie in dem im wesentlichen gleichgelagerten Fall, in dem er durch Urteil vom 24. November 1976 - 9 RV 104/75 - (MDR 1977, 346) entschieden hat, die Zulassung der Berufung in den Urteilsgründen als wirksam ausgesprochen an. Das SG hat auf den Hilfsantrag des Beklagten die Berufung in dem Bewußtsein, daß sie ausgeschlossen ist, durch eine echte Entschließung iS einer Anordnung zugelassen; dies war, wie das LSG zutreffend angenommen hat, im Verhältnis zu der Sachentscheidung über die Klageansprüche (§§ 53 bis 56, 123, 125 SGG) eine prozessuale Nebenentscheidung. Die Entschließung des Gerichts als das Ergebnis der geheimen Abstimmung (§ 61 Abs 2 SGG, §§ 193, 196 f Gerichtsverfassungsgesetz - GVG -, § 43 Deutsches Richtergesetz) hat in der schriftlichen Urteilsbegründung (§ 134 Satz 1, § 136 Abs 1 Nr 6, § 128 Abs 1 Satz 2 SGG) der Vorsitzende als deren Verfasser mit der Formulierung, die Kammer habe die Berufung zugelassen, den Beteiligten und überhaupt der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Wenn - wie hier - der Ausspruch, die Berufung werde zugelassen, nicht in einer üblichen Entscheidungsformel (§ 132 Abs 2 Satz 1, § 136 Abs 1 Nr 4 SGG) kundgetan wird, ist die in den Gründen enthaltene Verlautbarung, die Kammer habe die Zulassung beschlossen, in dieser Perfektform sachgemäß, dh in der Zeitform der Vorgegenwart oder vollendeten Gegenwart. Der Ausspruch der Zulassung wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß er in einem einzigen Satzgefüge mit der Begründung verbunden ist.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG war der Ausspruch der Berufungszulassung auch in den Urteilsgründen wirksam (BSGE 2, 245, 246 f = SozR Nr 11 zu § 150 SGG; BSGE 4, 206, 210; 8, 147, 149; 8, 154, 158; SozR Nrn 10, 41, 51 zu § 150 SGG; KOV 1966, 218; KOV 1975, 190; BVBl 1975, 118). Der Senat teilt die gegen diese Rechtsprechung erhobenen Bedenken, die auch der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen. Im einzelnen hat er sich dazu im Urteil vom 24. November 1976 geäußert; darauf wird verwiesen.
Gleichwohl stützt der Senat seine Entscheidung auch im vorliegenden Fall noch nicht auf diese rechtlichen Erwägungen. Vielmehr geht er davon aus, daß das SG in voller Besetzung die Zulassung der Berufung beschlossen hat, wie in der Urteilsbegründung bekundet wird; er läßt diese Entscheidung auch hier noch als wirksam zustande gekommen gelten. Die Kammer hat sie nicht in die Urteilsformel aufgenommen und nicht vom Vorsitzenden mit verkünden lassen, weil sie darauf vertraut hat, daß die Bekanntgabe in den Urteilsgründen nach der zitierten gefestigten Rechtsprechung des BSG genügt. Darauf hat sich das SG auch verlassen können. Bei einer solchen Rechtslage ist die an sich nicht gesetzmäßige Entscheidungspraxis noch eher hinzunehmen als wenn unklar ist, wie eine Prozeßvorschrift auszulegen ist (zum letztgenannten Fall: BSG SozR 1500 § 161 Nr 7). Außerdem hat der Beklagte im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Zulassung die Berufung eingelegt. Diese besondere Lage veranlaßt den Senat, im vorliegenden Fall, in dem die Berufung noch vor der Bekanntgabe der neuerdings vertretenen Rechtsauffassung zugelassen wurde, von einer überraschenden Änderung der bisherigen Rechtsprechung abzusehen (im Ergebnis ebenso Urteil des 10. Senats des BSG vom 11. November 1976 - 10 RV 181/75 - und Urteil des 1. Senats des BSG vom 24. November 1976 - 1 RA 119/75 -). Eine derartige gefestigte Judikatur, durch die ein allgemeiner Rechtsgrundsatz aufgestellt worden ist, hat eine gewisse Leitfunktion für die unteren Gerichte (BVerfGE 18, 224, 237 f) und soll nicht ohne zwingenden Grund und grundsätzlich nicht mit rückwirkender Kraft aufgegeben werden.
Allerdings wird der Senat nicht umhin können, ggf. unter Beachtung des § 42 SGG, in Zukunft anders zu entscheiden.
Da das LSG zu Unrecht durch ein Prozeßurteil statt durch ein Sachurteil entschieden und die für eine Sachentscheidung erforderlichen Tatsachen nicht festgestellt hat (§ 163 SGG), ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen