Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit eines Facharbeiters. tarifliche Einstufung
Orientierungssatz
Ein gelernter Maler (Leitberuf Facharbeiter) kann noch zumutbar iS von RVO § 1246 Abs 2 S 2 auf Tätigkeiten der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten einschließlich derjenigen Tätigkeiten verwiesen werden, die wegen ihres qualitativen Wertes für den Betrieb wie ein sonstiger Ausbildungs- bzw Anlernberuf tariflich eingestuft sind (vgl BSG 1978-03-15 1/5 RJ 128/76; BSG 1977-09-22 5 RJ 96/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 23; BSG 1977-03-30 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243; BSG 1977-06-29 5 RJ 132/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 21; BSG 1978-01-19 4 RJ 81/77).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Mai 1976 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) zusteht.
Der 1922 geborene Kläger ist gelernter Maler und war bis Januar 1972 fast ausschließlich als Malergeselle beschäftigt; er gab diesen Beruf wegen eines Bandscheibenleidens auf. Von Oktober 1973 bis September 1974 war er als Wachmann tätig; seitdem ist er ohne Beschäftigung.
Seinen im April 1974 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. September 1974 ab, weil der Kläger nach den ärztlichen Gutachten nicht berufsunfähig sei. Die dagegen erhobene Klage, mit der die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente begehrt wurde, wies das Sozialgericht (SG) ab (Urteil vom 25. März 1975). Das Landessozialgericht (LSG) änderte das erstinstanzliche Urteil sowie den Bescheid der Beklagten und verurteilte diese, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Mai 1974 zu zahlen, im übrigen wies es die Berufung zurück (Urteil vom 26. Mai 1976). In der Begründung heißt es, der Kläger könne seinen Beruf als Maler sowie damit verwandte Tätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Er komme nur noch für "berufsfremde" Beschäftigungen in Betracht, die gegenüber dem Tariflohn eines Malergesellen einen "erheblichen Lohnabstieg" zeigen und auf welche er schon deshalb nicht verweisbar sei.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, daß das Urteil im Widerspruch zu der als gefestigt anzusehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) stehe. Das Berufungsgericht hätte zu prüfen gehabt, auf welche Vollzeitbeschäftigungen, die in Tarifverträgen erfaßt seien, der Kläger hätte verwiesen werden können. Dabei seien auch ungelernte Beschäftigungen mit hervorgehobenen Qualitätsmerkmalen heranzuziehen. Das LSG habe ferner die Vorschriften der §§ 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt, indem es die Ergebnisse des Verfahrens L 10 J 471/75 in prozessual unzulässiger Form eingeführt habe.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Sofern jedoch die Sache zur weiteren Sachaufklärung zurückverwiesen werde, müsse das LSG noch weitere Feststellungen darüber treffen, ob sich der Kläger für die in Betracht zu ziehenden Verweisungstätigkeiten überhaupt eigne.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger den erlernten Beruf des Malers sowie artverwandte Tätigkeiten nicht mehr ausüben kann. Damit allein ist er jedoch noch nicht berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO. Er muß sich vielmehr auf zumutbare andere Tätigkeiten verweisen lassen, wobei auszugehen ist vom qualitativen Wert seines "bisherigen Berufs" (Hauptberuf). Das geeignete Mittel, die Qualität des Hauptberufs zu bestimmen, ist in aller Regel die tarifliche Einstufung. Sie spiegelt den Wert wieder, den die Tarifpartner und damit mittelbar diejenigen, die am Arbeitsleben teilhaben, der Tätigkeit im Betrieb beimessen. Auf dieser Grundlage ist dann abzugrenzen, auf welche Arbeiten der Versicherte zumutbar verwiesen werden kann (vgl BSG-Urteile vom 30.03.1977 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243; 29.06.1977 - 5 RJ 132/76; 22.09.1977 - 5 RJ 96/76; 19.01.1978 - 4 RJ 81/77 und nunmehr auch Urteil des 1. Senats vom 15.03.1978 - 1/5 RJ 128/76).
Danach kann der Kläger als gelernter Maler (Leitberuf Facharbeiter) noch zumutbar iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO auf Tätigkeiten der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten einschließlich derjenigen Arbeiten verwiesen werden, die wegen ihres qualitativen Wertes für den Betrieb wie ein sonstiger Ausbildungs- bzw Anlernberuf tariflich eingestuft sind. Insoweit hat der erkennende Senat mit Urteil vom 30. März 1977 aaO klargestellt, daß nicht das Vorhandensein irgendwelcher Qualitätsmerkmale im geringen Grade genügt, um eine ungelernte Tätigkeit für einen Facharbeiter als zumutbar erscheinen zu lassen. Vielmehr müssen die Qualitätsmerkmale in einem solchen Maße vorhanden sein, daß die Tätigkeit mindestens wie ein sonstiger Ausbildungsberuf tariflich bewertet wird.
Unter Berücksichtigung dieser ständigen Rechtsprechung des Senats reichen die Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Denn das LSG hat ohne Feststellungen über das konkrete Leistungsvermögen des Klägers und ohne Heranziehung von Tarifverträgen lediglich ausgeführt, daß der Kläger für gewisse "berufsfremde" Beschäftigungen in Betracht komme, die gegenüber dem Tariflohn eines Malergesellen einen "erheblichen Lohnabstieg" aufweisen. Derartige allgemeine Formulierungen, die leicht zu formelhaften Begründungen werden können, entsprechen nicht den an die Prüfung der Verweisbarkeit eines Facharbeiters zu stellenden Anforderungen (vgl Urteil des Senats vom 22.09.1977 aaO). Dem LSG ist zwar einzuräumen, daß eine Lohneinbuße in der Regel mit einer tariflichen Herabstufung verbunden ist. Eine derart allgemeine Aussage besagt indes noch nichts darüber, ob dem Kläger die Ausübung der tariflich geringer bewerteten Tätigkeit nach den dargelegten Verweisungsgrundsätzen des BSG iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zugemutet werden kann oder nicht.
Das LSG wird somit unter Heranziehung von Tarifverträgen in dem in der Entscheidung des Senats vom 22. September 1977 aaO des näheren erläuterten Umfang erneut zu prüfen haben, ob und ggf welche Verweisungstätigkeiten für den Kläger nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen im Erwerbsleben sowie nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten in Betracht kommen und vorhanden sind.
Da schon aus den genannten Gründen das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden mußte, kann es auf die von der Beklagten außerdem gerügte Verletzung der §§ 62, 128 Abs 2 SGG nicht ankommen. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, daß der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 17.12.1976 - 5 RJ 86/76), das Tatsachengericht müsse die Beteiligten darauf hinweisen, welche Erkenntnisquellen es zur Beschaffung der notwendigen Fachkenntnisse und für die zu treffenden Tatsachenfeststellungen benutzen will. Das gilt insbesondere für die Heranziehung von Beweisergebnissen in anderen Verfahren, wobei es unerheblich ist, ob der Versicherungsträger an jenem Rechtsstreit beteiligt gewesen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen