Leitsatz (amtlich)
Die Wartezeit gilt nicht nach RVO § 1252 Nr 2 in Verbindung mit BVG § 2 als erfüllt, wenn ein Versicherter während des Grundwehrdienstes in der Bundeswehr berufsunfähig geworden ist.
Normenkette
RVO § 1252 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Fassung: 1953-08-07; SVG § 80 Fassung: 1957-07-26
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. März 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war vom 1. April 1955 bis Ende März 1958 als Lehrling und danach bis zum 15. April 1958 als Geselle im Straßenbau versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 16. April 1958 an leistete er Grundwehrdienst in der Bundeswehr. Nach kurzer Zeit wurde bei ihm eine offene Lungentuberkulose festgestellt. Am 19. Juni 1958 wurde er vorzeitig aus dem Wehrdienst entlassen und bis zu diesem Tage nachversichert. Die Versorgungsverwaltung erkannte die Lungentuberkulose als Schädigungsfolge an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v. H.
Im Oktober 1958 beantragte der Kläger daneben eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Durch Bescheid vom 14. März 1960 lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt den Antrag mit der Begründung ab, die Wartezeit von 60 Monaten sei nicht erfüllt, es seien nur 38 Monatsbeiträge nachgewiesen; die Wartezeit gelte auch nicht nach § 1252 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als erfüllt, weil der Grundwehrdienst in der Bundeswehr kein militärischer oder militärähnlicher Dienst im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg hatte der Kläger zunächst beantragt, den Bescheid vom 14. März 1960 aufzuheben und die Beklagte zur Rentengewährung vom 1. Oktober 1958 an zu verpflichten. Alsdann hatten im Wege eines "Vergleichs" die Beteiligten sich darauf beschränkt, im anhängigen Prozeß nur die Frage der Erfüllung der Wartezeit prüfen zu lassen; die Beklagte hatte sich verpflichtet, für den Fall, daß die Erfüllung der Wartezeit festgestellt werde, nachzuprüfen, ob und wie lange der Kläger erwerbs- oder berufsunfähig gewesen sei. Durch Urteil vom 6. Dezember 1960 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 14. März 1960 aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger die Wartezeit für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit erfüllt habe. Es hat den Grundwehrdienst in der Bundeswehr als einen auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleisteten militärischen Dienst im Sinne des § 2 BVG angesehen und deshalb angenommen, daß die Voraussetzungen, unter denen nach § 1252 Nr. 2 RVO die Erfüllung der Wartezeit fingiert wird, gegeben seien.
Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, von dem vor dem SG geschlossenen (Teil-)Vergleich zurückzutreten. Alsdann ist der Kläger wieder zu seiner ursprünglichen Aufhebungs- und Leistungsklage übergegangen.
Das LSG hat durch Urteil vom 29. März 1961 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: § 1252 Nr. 2 RVO sei auf den Grundwehrdienst in der Bundeswehr nicht anwendbar. Die Bezugnahme auf die §§ 2 und 3 BVG in § 1252 Nr. 2 RVO erfasse nur Tatbestände der Vergangenheit; sie dürfe nicht ausdehnend ausgelegt werden. Dafür sprächen die Verwaltungsvorschriften zu § 2 BVG und § 80 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) vom 26. Juli 1957, ferner die Tatsache, daß das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) den Dienst in der Bundeswehr nach dem bereits am 25. Juli 1956 in Kraft getretenen Wehrpflichtgesetz an mehreren Stellen, nicht aber in § 1252 RVO erwähne. Diese Auffassung werde durch die Entstehungsgeschichte des ArVNG gestützt. Dem stehe nicht entgegen, daß § 1252 Nr. 2 RVO nur für nach dem 31. Dezember 1956 eingetretene Versicherungsfälle gelte; denn daraus folge noch nicht, daß die Vorschrift der Erfassung der sich aus künftigem Wehrdienst ergebenden Versicherungsfälle diene. Sie habe zwar für die Zukunft keine besondere Bedeutung, ziehe aber Möglichkeiten in Betracht, die noch nach dem 31. Dezember 1956 eintreten könnten, zB die Verschlimmerung eines Kriegsleidens mit nachfolgendem Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er rügt die Verletzung des Gesetzes durch Nichtanwendung des § 1252 Nr. 2 RVO.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für richtig.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Der Senat hat von Amts wegen zu prüfen, ob die im ersten Rechtszuge zwischen den Beteiligten getroffene Vereinbarung, das Gericht zunächst nur über die Frage der Erfüllung der Wartezeit entscheiden zu lassen, einer Sachentscheidung des LSG über die Aufhebungs- und Leistungsklage im Wege gestanden hat. Dies ist nicht der Fall. Durch die Beschränkung des Klageantrags nach Abschluß des "Vergleichs" vom 6. Dezember 1960 war der angefochtene Bescheid vom 14. März 1960 weder ganz noch teilweise bindend geworden. Deshalb war der Kläger nicht gehindert, im Berufungsverfahren durch Erweiterung seines vorübergehend eingeschränkten Klageantrags wieder zu seinen ursprünglichen Klageanträgen zurückzukehren. Ob darin eine Klageänderung im Sinne des § 99 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu sehen ist, kann auf sich beruhen; jedenfalls hat die Beklagte in die Änderung eingewilligt, außerdem hat das LSG die Rückkehr zu den früheren, weitgefaßten Anträgen als sachdienlich bezeichnet (§ 99 Abs. 1 SGG).
Das LSG hat im Ergebnis mit Recht die Wartezeit für eine Versichertenrente des Klägers nicht nach § 1252 Nr. 2 RVO als erfüllt angesehen. Nach dieser Vorschrift gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn ein Versicherter während oder infolge eines militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht ... geleistet worden ist, berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht gegeben, obschon der Kläger den Grundwehrdienst in der Bundeswehr auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht, nämlich auf Grund des Wehrpflichtgesetzes vom 21. Juli 1956 geleistet hat, weil dieser Dienst kein "militärischer oder militärähnlicher Dienst im Sinne der §§ 2 und 3 BVG" ist. Der Revision ist allerdings zuzugeben, daß der Wortlaut des § 2 BVG seine Anwendung auf den Grundwehrdienst in der Bundeswehr nicht ausschließt, denn dieser Dienst ist "nach deutschem Wehrrecht geleisteter Dienst als Soldat" (§ 2 Abs. 1 Buchst. a BVG). Gleichwohl erfaßt das BVG nicht den Dienst in der Bundeswehr. Das BVG gehört dem sog. Kriegsfolgenrecht an. Dies bedeutet nicht, daß es sich nur auf unmittelbar durch Kriegshandlungen oder Begleitumstände des Krieges verursachte Schäden bezieht, es erfaßt aber - darin ist dem LSG beizupflichten - nur Tatbestände, die beim Erlaß des Gesetzes abgeschlossen waren oder deren Ursprung - wie zB bei der Kriegsgefangenschaft - in der Vergangenheit lag. Dies ergibt sich aus den zahlreichen, ins einzelne gehenden Aufzählungen der Tatbestände, die nach den §§ 1 bis 5 BVG den Begriff einer Schädigung durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen ihr gleichzuerachtenden Sachverhalt erfüllen. Dienstverrichtungen in der - späteren - Bundeswehr lagen außerhalb der Vorstellungswelt des Gesetzgebers, der im Jahre 1950 das BVG erlassen hat. Auch die Änderungen des BVG, die nach der Schaffung der Bundeswehr ergangen sind, lassen nicht erkennen, daß das BVG den Ausgleich von Schäden regeln soll, die auf den Dienst in der Bundeswehr zurückgehen. Das Gegenteil läßt sich vielmehr der Soldatengesetzgebung der Nachkriegszeit entnehmen. Die erste Versorgungsregelung für die Soldaten der neuen Bundeswehr enthielt § 63 des Soldatengesetzes vom 19. März 1956 (BGBl I 114). Darin ist "bis zu einer gesetzlichen Regelung der Versorgung der - künftigen - Berufssoldaten und der Soldaten auf Zeit" das BVG für entsprechend anwendbar erklärt worden. Durch diese Vorschrift ist zum Ausdruck gekommen, daß der Dienst in der Bundeswehr nicht vom BVG erfaßt ist, daß infolgedessen eine ausdrückliche Versorgungsregelung für die künftigen Soldaten getroffen werden mußte und daß dies in einem besonderen Gesetz geschehen sollte. Das ist später durch das SVG erfolgt; dessen § 80 billigt einem Soldaten, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, Versorgung zu "in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit in diesem Gesetz - dem SVG - nichts Abweichendes bestimmt ist".
Die Auffassung des Klägers, der Dienst in der Bundeswehr werde von § 1252 Nr. 2 RVO erfaßt, wird nicht dadurch gestützt, daß Nr. 2 - im Unterschied zu den Nummern 1, 4 und 6 - nur für nach dem 31. Dezember 1956 eingetretene Versicherungsfälle gilt (Art. 2 § 10 ArVNG). Aus dem Fehlen einer Rückwirkungsnorm hat das SG den - unrichtigen - Schluß gezogen, die Vorschrift könne sich nicht auf früher geleisteten militärischen oder militärähnlichen Dienst beziehen, müsse also den Dienst in der Bundeswehr gemeint haben. Dabei wird, wie bereits das LSG richtiggestellt hat, außer acht gelassen, daß Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 durchaus die Folge von Dienstbeschädigungen aus der früheren Zeit sein können.
Wird somit der Wehrdienst in der Bundeswehr nicht vom BVG erfaßt, dann fällt er auch nicht unter § 1252 Nr. 2 RVO; denn diese Vorschrift verweist nur auf das BVG, nicht aber auf die Versorgungsregelung für die Bundeswehr. Es fehlt aber auch an einer Beziehung zwischen dem SVG und dem ArVNG. Das SVG erklärt zwar das BVG für entsprechend anwendbar; außerdem ergibt sich aus den Materialien zum SVG, daß für die Soldaten der ehemaligen und der alten Wehrmacht einerseits und für die Soldaten der Bundeswehr andererseits möglichst weitgehend gleiches Versorgungsrecht gelten soll (Bundestag, 2. Wahlperiode, zu Drucks. 3366 S. 1). Das SVG erklärt aber nicht die durch § 1252 Nr. 2 RVO eingeführte, teilweise aus § 1263 a RVO aF übernommene rentenversicherungsrechtliche Begünstigung der alten Soldaten auf die Soldaten der Bundeswehr für anwendbar.
Für die Annahme der Revision, es beruhe auf einem Versehen des Gesetzgebers des ArVNG, daß die während oder infolge einer Wehrdienstleistung in der Bundeswehr eingetretene Berufsunfähigkeit nicht in die Fiktion der Wartezeiterfüllung nach § 1252 Nr. 2 RVO einbezogen worden sei und es liege deshalb eine Gesetzeslücke vor, die vom Richter auszufüllen sei, fehlt es an hinreichenden Gründen. Dem Gesetzgeber des ArVNG war das Wehrpflichtgesetz vom 21. Juli 1956 bekannt. Da somit feststand, daß es außer dem "militärischen Dienst im Sinne des § 2 BVG" künftig auch militärischen Dienst in der Bundeswehr geben werde, hätte man erwarten können, daß, wenn auch dieser Dienst von § 1252 Nr. 2 RVO erfaßt werden sollte, dies ausdrücklich gesagt worden wäre. Dazu hätte um so mehr Veranlassung bestanden, als auch in anderen durch das ArVNG neu gefaßten Vorschriften der RVO, zB in den - bereits vom LSG angeführten - §§ 1227 Abs. 1 Nr. 6, 1229 Abs. 1 Nr. 5, 1232 Abs. 3 und 1385 Abs. 3 Buchst. d, der in der Bundeswehr geleistete Wehrdienst ausdrücklich erwähnt ist. Bei der Prüfung, ob § 1252 Nr. 2 RVO im Wege der Lückenausfüllung auf den Grundwehrdienst in der Bundeswehr anzuwenden ist, hat der Senat nicht verkannt, daß die erwähnte Vorschrift die - der Rentenversicherung risikofremden - Tatbestände der fiktiven Erfüllung der Wartezeit gegenüber dem Rechtszustand vor 1957 erweitert. Gleichwohl läßt sich die Annahme nicht begründen, daß das Gesetz nur aus Versehen, nicht aber bewußt, davon abgesehen habe, den Dienst in der Bundeswehr in die Vergünstigung des § 1252 Nr. 2 RVO einzubeziehen. Es ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß es dem Gesetzgeber als sozialpolitisch unerwünscht erschienen sein mag, den jungen Soldaten der Bundeswehr neben einer Versorgungsrente noch eine - ihrer Höhe nach ohnehin kaum ins Gewicht fallende - Versichertenrente zu gewähren; bei den Berechtigten der ehemaligen und der alten Wehrmacht liegen die Verhältnisse anders. Eine analoge Anwendung des § 1252 Nr. 2 RVO auf eine während des Grundwehrdienstes in der Bundeswehr eingetretene Berufsunfähigkeit des Versicherten läßt sich nicht rechtfertigen.
Ebensowenig ist eine - von der Revision notfalls gewünschte - Fortbildung des Rechts durch abändernde Rechtsfindung zulässig. Ob sie im vorliegenden Streitfalle aus Billigkeitsgründen zu begrüßen wäre, kann dahinstehen; sie kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil das ArVNG ein noch sehr junges Gesetz ist, eine das Gesetz ändernde Rechtsfindung aber nur bei Vorschriften angängig ist, deren bisherige Auslegung auf überholten Rechtsanschauungen beruht, mit neueren Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar ist und zu nicht mehr zu rechtfertigenden Ergebnissen führt (vgl. BSG 14, 238, 245). An solchen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall.
Nach alledem hat das LSG die Klage mit Recht abgewiesen. Die Revision ist daher unbegründet und muß zurückgewiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen