Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Kausalzusammenhang zwischen Berufskrankheit und Todesursache
Orientierungssatz
Nach RVO § 589 Abs 2 S 1 wird das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen entschädigungspflichtiger Berufskrankheit und Todesursache vermutet, wenn die Erwerbsfähigkeit des verstorbenen Versicherten durch bestimmte Berufskrankheiten (ua Silikose) um mindestens 50 vH gemindert war. Allerdings ist diese Vermutung nach RVO § 589 Abs 2 S 2 als widerlegt anzusehen, wenn offenkundig die Silikose nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes ist. Die Voraussetzungen für die Offenkundigkeit im Sinne dieser Vorschrift liegen dann vor, wenn die Berufskrankheit mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten weder im medizinischen Sinne erheblich mitverursacht noch ihn um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 1, 2 Sätze 1-2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.11.1966) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 13.01.1966) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. November 1966 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Klägerin, als Witwe des am 11. November 1902 geborenen und am 13. Oktober 1963 verstorbenen ehemaligen Bergmanns F F (Versicherter), eine Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) zusteht.
Der Versicherte hatte von der Beklagten eine Dauerrente wegen einer Staublungenerkrankung bezogen, und zwar zuletzt seit dem 24. April 1959 eine solche von 50 v.H. der Vollrente.
Die silikotischen Einlagerungen fanden sich überwiegend in den beiden Mittel- und Oberfeldern. Im Jahre 1962 wurde im Gebiet des rechten medialen Unterfeldes eine Trübung festgestellt, die auch während einer deshalb vorgenommenen stationären Beobachtung in der Zeit vom 25. bis 29. Oktober 1962 nicht sicher geklärt werden konnte. Eine zur Klärung vorgeschlagene Bronchographie hatte der Versicherte abgelehnt. Im Januar 1963 war es zu einer weiteren Zunahme der im rechten Unterfeld gelegenen ausgedehnten Verschattung gekommen. Es wurde eine stationäre Behandlung empfohlen. Bei einer in der Zeit vom 29. Mai bis 12. Juni 1963 durchgeführten stationären Behandlung war nicht mehr daran zu zweifeln, daß sich im Gebiet des rechten medialen Unterfeldes ein Bronchialkarzinom entwickelt hatte. Es lag bereits eine Atelektase des rechten Unterlappens und wahrscheinlich auch des Mittellappens vor. Die Prognose war ungünstig.
Nach dem Tode des Versicherten lehnte die Klägerin eine Leichenöffnung ab. Sie erklärte, ihr sei durch den Hausarzt bekannt, daß ihr Ehemann nicht an der Silikose gestorben sei und sie daher keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen UV habe.
Mit Schreiben vom 4. November 1963 beantragte sie aber dennoch die Gewährung einer Hinterbliebenenrente. Nachdem der Facharzt für innere Krankheiten Dr. R in einer gutachtlichen Stellungnahme vom 8. Januar 1964 erklärt hatte, der Tod des Versicherten habe offenkundig mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden, und auch der staatliche Gewerbearzt Dr. B die Ansicht vertreten hatte, der Versicherte wäre bei der Progredienz des Karzinoms auch ohne die Silikoseerkrankung zum gleichen Zeitpunkt verstorben, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Februar 1964 einen Anspruch der Klägerin auf Entschädigung aus Anlaß der Berufskrankheit ihres Ehemannes ab, weil es offenkundig sei, daß dessen Tod mit der Berufskrankheit in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom 15. Oktober 1965 von dem Facharzt für innere Medizin Prof. Dr. W und dem Lungenfacharzt Dr. St eingeholt. Die Gutachter sind der Meinung, daß eine Silikose bzw. die Einwirkung kieselsäurehaltigen Staubes an und für sich nicht zur Entstehung von Bronchial- und Lungenkrebsen führe, so daß man einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Silikose und einem tumorösen Geschehen in den Lungen ablehnen müsse. Man könne im vorliegenden Falle auch nicht davon ausgehen, daß durch das gleichzeitige Vorliegen einer Silikose die rechtzeitige Erkennung des Bronchialkrebses verhindert worden und dadurch eine noch aussichtsreiche operative Behandlung nicht erfolgt sei. Die Lebenserwartungen könnten bei einem Bronchialkarzinom auch durch eine Operation in sehr vielen Fällen nicht entscheidend gebessert werden, auch könne bei kritischer Auswertung aller Unterlagen keine Rede davon sein, daß etwa durch die Silikose die Diagnose des Bronchialkarzinoms verzögert worden sei. Es lasse sich daher bei retrospektiver Betrachtung nicht wahrscheinlich machen, daß der tumoröse Prozeß mit der Berufskrankheit in einem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe oder dadurch wesentlich ungünstig beeinfluß worden sei.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13. Januar 1966 abgewiesen. Auf die hiergegen von der Klägerin eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 15. November 1966 das Urteil des SG vom 13. Januar 1966 und den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 1964 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Witwenrente aus der gesetzlichen UV zu zahlen. Die Voraussetzungen des § 589 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) seien erfüllt, denn der Versicherte sei durch die Folgen einer Berufskrankheit um 50 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert gewesen. Es sei auch nicht offenkundig, daß der Tod mit der Berufskrankheit in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe. Das SG habe dem Sachverständigen Prof. Dr. W die Frage gestellt, ob das Nichtbestehen eines Kausalzusammenhanges zwischen Tod und Silikose offenkundig sei. Diese Fragestellung begegne Bedenken, weil der Begriff "offenkundig" ein Rechtsbegriff sei. Prof. W und Dr. St hätten zwar ebenso wie der vom LSG gehörte Sachverständige Prof. P festgestellt, daß der Versicherte offenkundig an den Folgen seines Bronchialkrebses gestorben sei. Von Prof. W und Dr. St sei aber die Frage, ob die Berufskrankheit etwa die auslösende Ursache für das zunächst seit August 1962 nachweisbare tumoröse Geschehen gewesen sein könne, unter Berufung auf statistische Erfahrungen abschließend nur dahin beantwortet worden, daß sich eine solche Kausalbeziehung ebenso wie die einer ungünstigen Beeinflussung des Krebsleidens durch die Silikose nicht wahrscheinlich machen lasse. Diese Feststellung reiche aber zur Ablehnung eines Witwenrentenanspruches nicht aus. Prof. P habe die Möglichkeit bejaht, daß der Bronchialkrebs auf dem Boden einer silikotischen Schwiele oder auf dem Boden einer zumindest zum Teil silikosebedingten chronischen Bronchitis entstanden sei. Hierbei handele es sich nicht nur um eine ganz entfernte Möglichkeit eines Ursachenzusammenhanges, denn die Wissenschaft sei sich noch nicht völlig darüber einig, ob zwischen Silikose und Bronchialkrebs nicht doch im Einzelfall die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs bestehe. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Zur Begründung der von der Beklagten eingelegten Revision hat diese vorgetragen, die Feststellung des LSG, daß gegen die dem Prof. W gestellten Fragen Bedenken bestehen, weil Prof. W eine Rechtsfrage habe beantworten sollen, sei richtig. Gerade deshalb hätte aber auch das LSG aus der Beantwortung der gestellten Fragen nicht ohne weitere Sachaufklärung herauslesen dürfen, Prof. W habe es nur für nicht wahrscheinlich angesehen, daß der tumoröse Prozeß mit der Silikose in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden habe oder dadurch wesentlich ungünstig beeinflußt worden sei. Hierzu hätte es mindestens einer erneuten Beweiserhebung durch eine entsprechende Rückfrage bei Prof. W bedurft. Auf das Gutachten von Prof. P habe das LSG sein Urteil nicht stützen dürfen, denn dieser habe zur Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Krebs und Silikose selbst zugegeben, daß ihm insoweit - zumal er kein Pathologe sei - die Erfahrung fehle, zu dieser Frage, die nur durch subtilste Forschungsarbeit entschieden werden könne, Stellung zu nehmen. Daher habe dieser Gutachter die Beweisfragen nicht aus eigener Kenntnis beantwortet, sondern sich nur auf die Wiedergabe von Äußerungen anderer Gutachter beschränken können. Das LSG sei auch dem nach Ansicht von Prof. P wesentlichen Gesichtspunkt, daß die gelegentliche Bejahung von Zusammenhängen zwischen Silikose und Krebs von der ärztlichen Wissenschaft nur dann erfolge, wenn ein örtlicher Zusammenhang der Krankheitsherde bestehe, nicht nachgegangen. Hinsichtlich des von Prof. P bejahten möglichen Zusammenhangs zwischen Bronchitis und Silikose hätte zunächst einmal festgestellt werden müssen, ob eine Bronchitis vor der Entstehung der Krebserkrankung vorhanden gewesen sei. Zwar habe Prof. P gemeint, man müsse unterstellen, daß eine Bronchitis vorgelegen habe, nach den vorhandenen ärztlichen Aktenunterlagen sei jedoch eine solche Unterstellung nicht gerechtfertigt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. November 1966 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 13. Januar 1966 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. November 1966 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Nach ihrer Ansicht ist es nicht offenkundig, daß der Tod mit der Silikose in keinem ursächlichen Zusammenhang gestanden hat.
II
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist, weil die Beklagte in bezug auf die tatsächlichen Feststellungen des LSG zulässige und begründete Revisionsrügen vorgebracht hat. Da die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch die Silikose um 50 v.H. gemindert war, steht sein Tod nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO dem Tod durch Arbeitsunfall gleich. Wie der Senat bereits entschieden hat (BSG 28, 38, 40), ist diese am 1. Juli 1963 in Kraft getretene Vorschrift auch auf Fälle anzuwenden, in denen - wie hier - der Versicherte bereits vor dem 1. Juli 1963 an einer entschädigungspflichtigen Silikose mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 v.H. gelitten hat, wenn der Tod des Versicherten nach dem 30. Juni 1963 eingetreten ist (vgl. hierzu auch BSG 24, 88). Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Die in § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO getroffene Regelung wird allerdings durch Satz 2 dieser Vorschrift eingeschränkt. Diese Regelung gilt nämlich dann nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht, d.h. wenn die Silikose den Tod des Versicherten "offenkundig" nicht rechtlich wesentlich verursacht hat.
Da die Silikose im vorliegenden Fall keinesfalls alleinige Ursache des Todes des Versicherten sein kann, fragt sich nur, ob sie neben dem Karzinom wesentliche Teilursache des Todes ist.
Wenn die Silikose den Tod eines Versicherten medizinisch nicht alleine verursacht hat, sondern auch noch ein anderes Leiden medizinisch Ursache des Todes des Versicherten ist, ist die Silikose dann rechtlich wesentliche Ursache des Todes, wenn sie diesen entweder in medizinisch zumindest erheblichem Maße mitverursacht hat oder wenn sie den Tod des Versicherten wenigstens um ein Jahr beschleunigt hat.
Offenkundig liegt eine wesentliche Verursachung in diesem Sinne dann nicht vor, wenn die Silikose mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten im medizinischen Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit auch nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Falls im Einzelfall lediglich eine ganz entfernte, d.h. eine bloß theoretische Möglichkeit besteht, daß die Silikose den Tod des Versicherten in dem o.a. Sinne verursacht hat, kann angenommen werden, daß der Tod des Versicherten ohne jeden ernsthaften Zweifel nicht durch die Silikose verursacht worden ist (BSG in SozR Nr. 4 zu § 589 RVO).
Im vorliegenden Fall ist das LSG davon ausgegangen, daß die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit der Silikose deshalb nicht auszuschließen sei, weil Zweifel daran nicht hätten beseitigt werden können, daß der Bronchialkrebs des Versicherten entweder auf dem Boden einer silikotischen Schwiele oder auf dem Boden einer zumindest zum Teil silikosebedingten chronischen Bronchitis entstanden sein könne. Die Beklagte rügt hierzu mit Recht einen Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorschriften. Die vom LSG vorgenommene Aufklärung reicht nicht aus, um zu der Feststellung zu kommen, die genannten Zweifel hätten nicht beseitigt werden können. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, noch weiter zu klären, ob der im Gebiet des rechten medialen Unterfeldes entstandene Krebs auf dem Boden einer silikotischen Schwiele entstanden ist oder entstanden sein kann. Hierzu bestand besonders deshalb Anlaß, weil die silikotischen Einlagerungen überwiegend in den beiden Mittel- und Oberfeldern festgestellt worden waren und sich die Krebserkrankung im Gebiet des rechten medialen Unterfeldes entwickelt hatte. Hinsichtlich der zweiten vom LSG genannten Möglichkeit - der Entstehung des Karzinoms auf dem Boden einer zumindest zum Teil silikosebedingten chronischen Bronchitis - hätten Ermittlungen darüber angestellt werden müssen, ob vor dem Beginn der Krebserkrankung überhaupt eine chronische Bronchitis vorhanden war, wenn ja, ob diese Bronchitis silikosebedingt und ob sie nach ihrer Art und Dauer geeignet war, einen Bronchialkrebs entstehen zu lassen.
Falls das LSG zu dem Ergebnis kommen sollte, daß die Silikose in dem o.a. Sinne offenkundig die Entstehung und Entwicklung des Krebsleidens nicht wesentlich verursacht hat, wird das LSG allerdings noch zu prüfen haben, in welchem Umfang die Silikose neben dem Bronchialkarzinom die Kreislauf- und Herztätigkeit beeinträchtigt hat und ob sie gegebenenfalls dadurch den Tod des Versicherten medizinisch mitverursacht hat. Eine rechtlich wesentliche Verursachung wäre dann auszuschließen, wenn die Silikose neben dem Bronchialkrebs den Tod des Versicherten offenkundig nicht in einem medizinisch zumindest erheblichen Maße mitverursacht hat oder wenn die Silikose das Leben des Versicherten offenkundig nicht wenigstens um ein Jahr verkürzt hat (vgl. hierzu BSG in SozR § 542 aF RVO Nr. 73).
Das LSG wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen