Leitsatz (amtlich)
Zur Feststellung der Schuld an der Scheidung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, wenn das von einem Gericht der DDR und Ost-Berlin erlassene Scheidungsurteil keinen Schuldausspruch enthält (Anschluß an BSG 1976-01-20 5 RJ 133/75 DAngVers 1976, 176).
Normenkette
RVO § 1265 S. 2 Fassung: 1972-10-16; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Klägerin zu Recht Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes beansprucht (§ 1265 Satz 2 Reichsversicherungsordnung - RVO - i. d. F. des Rentenreformgesetzes - RRG -).
Die 1902 geborene Klägerin und der 1903 geborene Versicherte waren in kinderloser Ehe verheiratet. Ihr letzter gemeinsamer Wohnsitz war Westberlin. Die Klägerin wohnt noch dort. 1953 zog der Versicherte nach Ostberlin. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow schied die Ehe auf die Klage des Versicherten durch Urteil vom 19. Februar 1960 ohne Schuldausspruch nach dem in der DDR geltenden Zerrüttungsprinzip. Die Klägerin nahm daraufhin ihre 1959 beim Landgericht in Westberlin erhobene Scheidungsklage zurück. Der Versicherte ist am 26. Oktober 1972 in Ostberlin gestorben. Er war verwitwet. Er bezog seit 1964 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von zuletzt monatlich 198,80 DM Ost. Die Klägerin bezieht seit 1962 das Altersruhegeld; es betrug 1972 monatlich 394,10 DM. Im November 1972 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Januar 1973 ab: Die Klägerin habe keinen in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzbaren Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten erwerben können, da der in Ostberlin lebende geschiedene Ehegatte von der in der Bundesrepublik Deutschland normierten gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht erfaßt werde. Im Klageverfahren beschränkte die Klägerin ihren Anspruch auf die Zeit vom 1. Januar 1973 an und stützte ihn auf § 1265 Satz 2 RVO i. d. F. des RRG. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrente verpflichtet (Urteil vom 16. Oktober 1973), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 23. Oktober 1974). Es hat den Unterhaltsanspruch der Klägerin nach §§ 58, 59 Ehegesetz (EheG) 1946 beurteilt. Da der letzte gemeinsame eheliche Wohnsitz Westberlin gewesen sei, hätte die Ehe gemäß § 606 Abs. 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) in Westberlin nach dem EheG 1946 geschieden werden müssen. Dann hätte sich der Unterhaltsanspruch der Klägerin nach §§ 58 ff EheG 1946 gerichtet. Diese Rechtsstellung sei ihr nicht dadurch genommen worden, daß das Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow sich für zuständig gehalten und die Ehe geschieden habe (BGHZ 34, 143; 38, 2; 42, 99; SozR Nr. 59 und 60 zu § 1265 RVO). Die Ehe hätte gemäß §§ 42 und 43 EheG 1946 aus Alleinverschulden des Versicherten geschieden werden müssen, weil er die Klägerin verlassen und mit einer anderen Frau ehebrecherisch zusammengelebt habe. Die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr. 1 bis 3 RVO i. d. F. des RRG seien erfüllt, denn das Renteneinkommen der Klägerin sei mit Arbeitseinkommen gleichzusetzen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie meint, der Versicherte habe zur Zeit der Scheidung den Rechtsnormen der DDR unterlegen. Eine gemeinsame Rechtsordnung habe zu dieser Zeit und zur Zeit des Todes des Versicherten nicht bestanden. Ein für die Klägerin durchsetzbarer Unterhaltsanspruch habe nicht wegen der beiderseitigen Vermögensverhältnisse nicht bestanden, sondern wegen der unterschiedlichen Rechtsnormen im Ost-Westverhältnis; § 1265 Satz 2 RVO sei somit nicht erfüllt. Im übrigen gehöre eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht zu den Erträgnissen aus einer Erwerbstätigkeit.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Der Anspruch der Klägerin ist nach § 1265 Satz 2 RVO i. d. F. des RRG begründet. Diese Vorschrift ist auch auf vor dem 1. Januar 1973 (aber nach dem 30. April 1942) eingetretene Versicherungsfälle anzuwenden (Art. 2 § 19 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG - i. d. F. des RRG; vgl. auch SozR Nr. 69 zu § 1265 RVO, letzter Absatz, SozR 2200 § 1265 Nr. 2 und 6, sowie das Urteil vom 25. September 1975 - 12 RJ 316/74 -).
Nach § 1265 Satz 2 RVO i. d. F. des RRG gilt Satz 1 des § 1265 RVO auch, wenn neben den altersmäßigen Voraussetzungen, die die Klägerin erfüllt (Nrn. 2 und 3 des Satzes 2 aaO), eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten wegen seiner Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat. Satz 2 aaO setzt also voraus, daß eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten im Sinne des Satzes 1 aaO bestanden hätte, wenn nicht gerade die "Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten" oder die "Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit" - nicht aber andere Gründe - ursächlich für das Fehlen einer Unterhaltspflicht des Versicherten waren (vgl. SozR 2200 § 1265 Nr. 6).
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten ist durch das Ostberliner Scheidungsurteil rechtswirksam geschieden. Diese Rechtswirkung wird aus Gründen der Rechtssicherheit angenommen, wenn der in der Bundesrepublik Deutschland oder Westberlin wohnende Ehegatte nicht auf Feststellung der Unwirksamkeit des Ostberliner Scheidungsurteils geklagt hat. Die Klägerin hat dies nicht getan, wie die Rücknahme ihrer Scheidungsklage nach Ergehen des Ostberliner Scheidungsurteils zeigt (vgl. Palandt, BGB, 34. Aufl., Vorbemerkung 14 n vor Art. 7 EGBGB; Baumbach, ZPO, 34. Aufl., § 328 ZPO, Vorbemerkung B; BSG 21, 10). Sie bemängelt vielmehr nur das Fehlen eines Schuldausspruchs.
Das Bundessozialgericht (BSG) nimmt als Anknüpfungspunkt für das Recht der Scheidungsfolgen das Statut des letzten gemeinsamen Wohnsitzes der geschiedenen Eheleute an, sofern es für einen der beiden früheren Ehegatten zur Zeit des Todes des Versicherten noch fortgalt (vgl. zuletzt die Urteile vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 133/75 - und vom 18. September 1975 - 4 RJ 23/75 -). Da hier Westberlin der letzte gemeinsame Wohnsitz der Geschiedenen und auch noch der jetzige Wohnsitz der Klägerin ist, ist das EheG 1946 das heranzuziehende Statut, an das für die Scheidungsfolgen anzuknüpfen ist.
Nach dem EheG 1946 hängt die Unterhaltspflicht eines geschiedenen Ehegatten davon ab, ob er in dem Scheidungsurteil für schuldig an der Scheidung erklärt worden ist. Bei einem Schuldausspruch richtet sich die Unterhaltspflicht nach §§ 58, 59 EheG 1946, beim Fehlen eines Schuldausspruchs nach § 61 Abs. 2 EheG 1946. Bei Scheidungsurteilen, die nach dem Recht der DDR ohne Schuldausspruch ergangen sind, hat der Bundesgerichtshof (BGH) für den Ehegatten, der bei Erlaß des Scheidungsurteils seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland oder in Westberlin hatte und zu dessen Nachteil die §§ 52, 53 EheG 1946 nicht angewendet worden sind, die nachträgliche Feststellung der Schuld an der Scheidung - die Schuldfeststellungsklage - zugelassen, wenn es möglich ist, daß ein vom Verschulden abhängender Unterhaltsanspruch gegen den anderen Ehegatten besteht und sich das Verschulden nicht eindeutig und vom anderen Ehegatten unbestritten aus dem Scheidungsurteil ergibt; dabei wird vorausgesetzt, daß ein rechtliches Interesse an alsbaldiger Feststellung der Schuld besteht (BGHZ 34, 134, 151 ff; BGH vom 18. November 1966 in NJW 1967, 772). Das BSG hat die Schuldfrage als Vorfrage selbst entschieden, soweit sich diese Entscheidung aus einer Würdigung der sich unmittelbar aus den Akten ergebenden Tatsachen ergibt, und andernfalls auf § 61 Abs. 2 EheG 1946 verwiesen (Urteil vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 133/75 -).
Im vorliegenden Fall konnte das LSG ohne Gesetzesverletzung die Schuld des Versicherten an der Scheidung aus dem Ostberliner Scheidungsurteil entnehmen; denn darin heißt es, die Zerrüttung sei durch das Verhalten des Versicherten herbeigeführt worden, der nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr das richtige Verhältnis zur Klägerin gefunden und sich schließlich nach Aufnahme ehebrecherischer Beziehungen ganz von ihr abgewandt habe; er wohne seit 1953 mit der Ehebrecherin zusammen und sei nicht bereit, diese Beziehung zu lösen; da das in Großberlin geltende Scheidungsrecht vom Zerrüttungsprinzip ausgehe, habe dem Antrag der Klägerin, eine Entscheidung über das Verschulden zu treffen, nicht entsprochen werden können.
Mit der Feststellung der Schuld des Versicherten an der Scheidung ist seine grundsätzliche Unterhaltspflicht nach § 58 EheG 1946 gegeben. Jedoch ist wegen seiner geringen Erwerbsunfähigkeitsrente seine konkrete Unterhaltsverpflichtung zur Zeit seines Todes zu verneinen (§ 59 EheG 1946). Damit ist die Voraussetzung des § 1265 Satz 2 Nr. 1, erster Halbsatz, RVO i. d. F. des RRG erfüllt.
Im übrigen ist auch die im zweiten Halbsatz des § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO i. d. F. des RRG genannte Voraussetzung erfüllt. Das Altersruhegeld der Klägerin ist ein Erträgnis aus Erwerbstätigkeit (vgl. das Urteil des BSG vom 25. September 1975 - 12 RJ 316/74 -). Da es zur Zeit des Todes des Versicherten wesentlich höher war als dessen Erwerbsunfähigkeitsrente und zum angemessenen Lebensunterhalt der Klägerin ausreichte, hat eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten auch aus dem Grunde des zweiten Halbsatzes des § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO i. d. F. des RRG nicht bestanden.
Die Auffassung der Beklagten, eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten habe nicht "wegen" der im § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO i. d. F. des RRG genannten Gründe, sondern "wegen" des Rechts der DDR gefehlt, ist nicht zutreffend, weil die Frage der Unterhaltspflicht des Versicherten nach dem EheG 1946 und nicht nach dem Recht der DDR zu beurteilen ist.
Die Revision der Beklagten ist nach alledem unbegründet und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen