Leitsatz (amtlich)

Die in der Türkei lebende türkische Witwe eines türkischen Versicherten hat im Falle der Wiederheirat Anspruch auf die Witwenrentenabfindung, wenn der deutsche Versicherungsträger ihr aufgrund eines bindenden Bescheides Witwenrente in die Türkei gezahlt hat; Abk Türkei SozSich Art 53 S 2 vom 1964-04-30 ermöglicht nicht eine neue Prüfung der Voraussetzungen der Witwenrente dahingehend, ob der Witwe ohne das Abkommen eine Witwenrente mangels Erfüllung der Wartezeit aus den deutschen Versicherungsbeiträgen etwa nicht zugestanden hätte.

 

Normenkette

RVO § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; SozSichAbk TUR Art. 53 S. 2 Fassung: 1964-04-30

 

Tenor

Die Revision der beklagten Landesversicherungsanstalt gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Es ist umstritten, ob die Klägerin zu Recht die Gewährung der Witwenrentenabfindung aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes beansprucht (Art. 53 Satz 2 des deutsch-türkischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964; § 1302 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Für den Versicherten - Türke - sind in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1968 bis 1971 für 26 Monate Pflichtbeiträge entrichtet. Vorher war er 68 Monate in der Türkei beschäftigt. Er ist im Januar 1972 gestorben. Die Beklagte bewilligte unter Zusammenrechnung der deutschen und türkischen Versicherungszeiten Witwenrente (Bescheid vom 22. August 1973) und zahlte die pro-rata errechneten Teil der Rente bis Juni 1972 an die Klägerin in die Türkei. Die Klägerin, ebenfalls Türkin, ging im Juni 1972 in der Türkei eine neue Ehe ein.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Gewährung der Witwenrentenabfindung mit Bescheid vom 2. April 1974 ab: Diese einmalige Leistung könne an Berechtigte mit gewöhnlichem Wohnsitz in der Türkei nicht erbracht werden; denn nach Art. 4 und 53 Satz 2 des deutsch-türkischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl 1965 II 1169, 1170, 1588) gelte die Gleichstellung der Staatsangehörigen beider Staaten nicht für einmalige Leistungen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung der Witwenrentenabfindung verpflichtet und die Berufung zugelassen (Urteil vom 29. Oktober 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 29. April 1975). Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, Art. 53 Satz 2 des deutsch-türkischen Abkommens bedeute nur die Nichterfassung und nicht etwa das Verbot von Witwenrentenabfindungen an Angehörige des anderen Vertragsstaates; die Befriedigung von Ansprüchen auf einmalige Leistungen sei in dem Abkommen nicht verhindert worden. Witwenrentenabfindungen seien so zu behandeln, wie wenn kein Sozialversicherungsabkommen geschlossen wäre. In Fällen solcher Art sei einer Berechtigten, bei der die Voraussetzungen des § 1302 RVO erfüllt seien, die Abfindung auch dann ins Ausland zu zahlen, wenn die Zahlung weder im übernationalen Recht noch in zwischenstaatlichen Abkommen ausdrücklich vorgesehen sei (Hinweis auf die Entscheidung des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts vom 21. Dezember 1971 in BSG 33, 280 = SozR Nr. 13 zu § 1302 RVO). Die Witwenrente habe zur Zeit der Wiederverheiratung der Klägerin nicht geruht. Sie sei auch nicht zu Unrecht festgestellt und gewährt worden. Die "innerstaatlichen Voraussetzungen" des § 1302 Abs. 1 RVO könnten daher unter Berücksichtigung der Entscheidung des Großen Senats nicht verneint werden.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 2. April 1974 abzuweisen.

Sie meint, die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) sei mit dem vorliegenden Fall nicht zu vergleichen, weil hier schon die Witwenrente ohne das Abkommen nicht in die Türkei hätte ausgezahlt werden können. Es entspreche den im zwischenstaatlichen Recht vorherrschenden Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit von Pflichten und Leistungen der vertragschließenden Staaten, daß Witwenrentenabfindungen nicht in die Türkei zu zahlen seien, denn das türkische Recht kenne keine Witwenrentenabfindungen bei einer Wiederverheiratung.

Die Klägerin ist nicht vertreten.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die Witwenrentenabfindung und deren Zahlung in die Türkei.

Art. 53 Satz 2 des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens vom 30. April 1964 bestimmt, daß das Abkommen nicht für einmalige Leistungen gilt. Damit werden die Gewährung und die Zahlung von einmaligen Leistungen an türkische Staatsangehörige, die in der Türkei wohnen, nicht ausgeschlossen. Vielmehr bedeutet die Wortfassung des Art. 53 Satz 2 des Abkommens nur, daß ein Anspruch auf eine einmalige Leistung nicht durch das Abkommen begründet wird und nur nach dem Recht der RVO zu beurteilen ist.

Nach § 1302 RVO wird einer Witwe, die wiederheiratet, als Abfindung das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente gewährt. Eine fremde Staatsangehörigkeit und der Wohnort der Witwe im Ausland stehen der Begründung eines Abfindungsanspruchs generell nicht entgegen (vgl. GS vom 21. Dezember 1971 aaO). Das Merkmal "bisher bezogene Rente" drückt zunächst die Tatsache aus, daß Witwenrente für den Monat der Wiederheirat gezahlt wird. In rechtlicher Hinsicht ist der Begriff "bisher bezogene Rente" in der Rechtsprechung des BSG dahin ausgelegt worden, daß nicht der im Heiratsmonat gerade zufällig gezahlte Betrag, sondern der rechtmäßig gezahlte oder zu zahlende Rentenbetrag für die Abfindung maßgebend ist, wenn der Witwenrentenbescheid anläßlich der Abfindung nachträglich zu Recht berichtigt wird (vgl. BSG 18, 270 = SozR Nr. 3 zu § 1302 RVO). Sonst, d. h. wenn der bindende Bescheid in seinem Inhalt materiell-rechtlich zwar falsch ist aber nicht mehr berichtigt werden kann, ist der Rentenbetrag maßgebend, den der Berechtigte aufgrund des bindend gewordenen Bescheides zu beanspruchen hat. Obwohl der Anspruch auf Witwenabfindung ein selbständiger Anspruch ist, der durch die Wiederheirat begründet wird, ist im Gesetz nicht bestimmt, daß er seiner Höhe nach unabhängig von der bisher gezahlten Witwenrente zu prüfen und festzustellen wäre. Die Bindung des Witwenrentenbescheides wirkt insofern auch für den Abfindungsanspruch fort; § 1302 RVO bestimmt in dieser Hinsicht "nichts anderes" im Sinne des § 77 SGG. Im Hinblick auf das Merkmal "bisher bezogene Rente" ist somit ein Zurückgehen auf die einzelnen Voraussetzungen der Witwenrente und deren neue rechtliche Prüfung bei einem bindend gewordenen Witwenrentenbescheid anläßlich der Geltendmachung eines Abfindungsanspruchs nicht möglich.

Auch Art. 53 Satz 2 des deutsch-türkischen Abkommens bestimmt insoweit "nichts anderes", da er nur die Geltung des Abkommens ausschließt, aber darüber hinaus nicht in die dann allein anzuwendenden Vorschriften der RVO eingreift. Hätten aus Gründen der Gleichwertigkeit gegenseitiger Leistungen einmalige Leistungen an Angehörige des anderen Vertragsstaates, die in ihrem Heimatstaat wohnen, ausgeschlossen werden sollen, so wäre zu erwarten gewesen, daß der Ausschluß solcher Ansprüche im Abkommen positiv bestimmt worden wäre.

Somit kann für die Entstehung und die Höhe des Abfindungsanspruchs der Klägerin nicht auf die einzelnen Voraussetzungen, die zur Gewährung der Witwenrente geführt haben, zurückgegangen werden. Es kann daher nicht berücksichtigt werden, daß ohne das Abkommen die Wartezeit mit den in der Bundesrepublik entrichteten Beiträgen des Versicherten nicht erfüllt gewesen wäre, so daß ein Anspruch auf Witwenrente allein nach dem Recht der RVO nicht entstanden wäre und damit auch ein Anspruch auf Heiratsabfindung nicht hätte entstehen können.

Das Urteil des Senats vom 16. August 1973 (BSG 36, 125 = SozR Nr. 16 zu § 1303 RVO) steht nicht entgegen. Damals hatte der Senat einem Türken, der im Bundesgebiet nur 17 Monate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen war, aber zusammen mit türkischen Versicherungszeiten eine Gesamtversicherungszeit von mehr als 60 Monaten zurückgelegt hatte, die Beitragserstattung nach § 1303 RVO zugebilligt. Zur Begründung hatte er ausgeführt: Der Versicherte habe nur 17 Beitragsmonate aufzuweisen; ob er die Voraussetzungen für die freiwillige Weiterversicherung erfüllt hätte, wenn die im Bundesgebiet und in der Türkei zurückgelegten Versicherungszeiten zusammenzurechnen wären, könne offenbleiben; das deutsch-türkische Abkommen sei nämlich nach seinem Art. 53 Satz 2 nicht heranzuziehen, um einmalige Leistungen zu begründen. Damals hatte es der Senat nur mit einem Versicherungsfall, dem der Beitragserstattung, zu tun, dessen Voraussetzungen, zu denen auch das Fehlen des Rechts zur freiwilligen Weiterversicherung wegen ungenügender Vorversicherungszeit gehörte, er lediglich nach dem Recht der RVO und ohne Anwendung des Abkommens beurteilte. Auch jetzt ist der Versicherungsfall der Witwenrentenabfindung (Wiederheirat) lediglich nach der RVO zu prüfen; aber die Voraussetzungen für die Abfindung hängen hier von einem früheren, bindend abgewickelten Versicherungsfall, dem der Witwenrentengewährung (Tod des Versicherten), ab. Im Hinblick auf diesen Unterschied zwingt die frühere Entscheidung des Senats nicht dazu, die Voraussetzungen dieses (alten) Versicherungsfalles erneut, und zwar ohne Anwendung des Abkommens, zu prüfen und dann unter Umständen die bindend gewährte Witwenrente - hypothetisch und nur für den Versicherungsfall der Witwenrentenabfindung - als rechtswidrig anzusehen.

Die Klägerin kann auch die Auszahlung der Witwenrentenabfindung in die Türkei verlangen. Der Entscheidung des Großen Senats vom 21. Dezember 1971 ist zu entnehmen, daß auch die Abfindung der Witwenrente ins Ausland zu zahlen ist, wenn vorher die Witwenrente selbst ins Ausland gezahlt wurde. Schließlich ist auch zu beachten, daß die Abfindung in engem Zusammenhang mit der vorher bezogenen Witwenrente steht. Sie ist eine Fortwirkung der gezahlten Witwenrente und bildet - in der Regel - den Abschluß der aus der Versicherung des verstorbenen Ehemannes erwachsenen Hinterbliebenenleistungen für die Witwe. Eine Wiederverheiratung, zu der die Abfindung einen Anreiz bietet, erspart dem deutschen Versicherungsträger weitere Leistungen auch in den Fällen, in denen die Witwe eine Ausländerin ist und im Ausland wohnt; denn er müßte auch einer solchen Witwe eine bisher gezahlte Witwenrente weiterleisten, wenn diese von einer Wiederheirat absieht, um die Witwenrente nicht zu verlieren. Ebensowenig wie Art. 53 Satz 2 des deutsch-türkischen Abkommens der Entstehung eines Abfindungsanspruchs nach der RVO entgegensteht, hindert diese Bestimmung des Abkommens die Auszahlung der Witwenrentenabfindung in die Türkei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 294

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