Leitsatz (amtlich)
1. Die Neufassung des BVG § 35 Abs 1 S 1 durch das 1. NOG hat an den sachlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage nichts geändert.
2. Zu dem Begriff der Hilflosigkeit, wenn der Beschädigte an einer anerkannten offenen Lungen-Tbc leidet, erwerbsunfähig ist und sich in häuslicher Asylierung befindet (Anschluß BSG 1958-08-28 8 RV 301/55 = BSGE 8, 97).
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Prüfung der Hilflosigkeit iS des BVG § 35 müssen diejenigen Verrichtungen außer Betracht bleiben, die mit der Pflege und Wartung nicht unmittelbar zusammenhängen.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 12. August 1958 und das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 16. September 1957 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts Schleswig vom 19. April 1956 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Bei dem Kläger wurde durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein vom 18. Januar 1951 eine Lungen-Tbc als Gesundheitsschädigung im Sinne des § 4 der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 anerkannt und dafür eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 v.H. vom 1. Oktober 1948 an gewährt. Die Gewährung des von dem Kläger beantragten Pflegegeldes wurde abgelehnt, weil er in regelmäßiger Wiederkehr für die Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe anderer nicht bedürfe und somit Hilflosigkeit nicht vorliege. Durch Benachrichtigung des Versorgungsamts (VersorgA) Schleswig vom 26. Mai 1951 wurden die Versorgungsgebührnisse nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) umgestellt; die endgültige Umanerkennung nach dem BVG erfolgte mit Bescheid des VersorgA Schleswig vom 16. Oktober 1954.
Im Oktober 1951 beantragte der Kläger die Gewährung einer Pflegezulage nach dem BVG, die durch Bescheid des VersorgA vom 7. Februar 1952 abgelehnt wurde. Sein Einspruch gegen diesen Bescheid wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß Hilflosigkeit nicht vorliege. Er könne sich selbst an- und auskleiden, seine Mahlzeiten selbst zu sich nehmen und Spaziergänge machen. Für die Beschaffung einer besseren Verpflegung sei die Pflegezulage nicht bestimmt; auch biete sie keinen Ausgleich dafür, daß im Haushalt mehr Waschmittel verbraucht würden (Entscheidung des Beschwerdeausschusses des VersorgA Schleswig vom 1. August 1952).
Gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses legte der Kläger Berufung (alten Rechts) beim Oberversicherungsamt (OVA) Schleswig ein. Ein versorgungsärztliches Gutachten vom 6. Juni 1953 (Prof. Dr. H) ergab eine rechtsseitige, großkavernöse Oberlappen-Tbc mit Streuung in die linke Lunge und eine Entfernung des rechten Hodens wegen Hoden-Tbc. Die Tbc wurde als aktiv, offen und progredient bezeichnet. Prof. Dr. H sah sich jedoch nicht in der Lage, bei dem augenblicklichen Zustand des Klägers die Gewährung einer Pflegezulage zu befürworten. Das OVA Schleswig wies durch Urteil vom 17. Dezember 1953 die Berufung gegen den die Gewährung einer Pflegezulage ablehnenden Bescheid des VersorgA nach Einholung eines gerichtsärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. G zurück.
Im November 1955 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Pflegezulage. Nach dem versorgungsärztlichen Gutachten vom 7. März 1956 (Dr. G) bestand bei dem Kläger nunmehr eine rechtsseitige großkavernöse Lungen-Tbc, progrediente linksseitige Lungen-Tbc mit frischem kavernösen Zerfallsherd im Obergeschoß und ein Zustand nach Entfernung des rechten Hodens wegen Hoden-Tbc. Dr. G kam zu der Beurteilung, daß seit der Untersuchung im Jahre 1953 eine größere Kavernenbildung auch im linken Lungenoberfeld aufgetreten sei und sich der Lungenbefund somit erheblich verschlechtert habe. Im Hinblick auf den progressiven Lungenbefund werde die Gewährung einer Pflegezulage empfohlen, falls die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür gegeben seien. Das VersorgA Schleswig lehnte daraufhin durch Bescheid vom 19. April 1956 erneut die Gewährung einer Pflegezulage ab, weil der Kläger infolge der Schädigung nicht so hilflos sei, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen könne. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Bescheid des Landesversorgungsamts Schleswig-Holstein vom 17. Dezember 1956).
Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat durch Urteil vom 16. September 1957 den Bescheid vom 19. April 1956 und den Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1956 abgeändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Pflegezulage vom 1. November 1955 an nach Stufe I zu gewähren. Es hat sich der Ansicht des in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen Dr. H angeschlossen, der den Kläger zwar nicht als hilfsbedürftig angesehen, aber zum Ausdruck gebracht hat, die Pflege eines offenen Tbc-Kranken bedürfe doch einer besonderen Leistung, so daß die Gewährung einer Pflegezulage gerechtfertigt sei. Das SG ist der Auffassung, daß eine fast zehn Jahre dauernde Pflege durch Familienangehörige erheblich über das zumutbare Maß hinausgehe. Die Lungen-Tbc des Klägers habe sich seit 1953 weiter verschlimmert. Wenn er sich trotz des außerordentlich schweren Befundes noch verhältnismäßig wohl befinde, sei dies allein auf seine vernünftige Lebensweise zurückzuführen. Die gewissenhafte Ausführung der ärztlichen Anordnungen, wozu auch strenge Liegekuren gehörten, machten ihn hilfsbedürftig im Sinne des § 35 BVG. Das SG hat die Berufung zugelassen.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) eine Auskunft vom Gesundheitsamt des Kreises Eckernförde vom 7. Mai 1958 eingeholt. Es hat dem Gesundheitsamt folgende Fragen gestellt:
a) ob die Gesundheitsstörung bei W. so schwer ist, daß Hilflosigkeit vorliegt,
b) zu welchen Verrichtungen die Hilfe eines Dritten benötigt wird,
c) ob dauerndes Krankenlager vorliegt,
d) ob außergewöhnliche Pflege erforderlich ist,
e) worin diese besteht.
Das Gesundheitsamt hat die Fragen wie folgt beantwortet:
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zu a) |
Hilflosigkeit liegt vor, da er selbst in praktischen Dingen so unbegabt ist, daß er in Zusammenhang mit seiner schweren Erkrankung sich selbst nicht pflegen kann; |
zu b) |
zu allen Verrichtungen der Haushaltsführung - ebenfalls Einkaufen (Ansteckungsgefahr) - wird die Hilfe eines Dritten benötigt; |
zu c) |
W. ist nicht dauernd bettlägerig, muß aber auf Grund des schweren Befundes sich sehr schonen; |
zu d) |
außergewöhnliche Pflege ist erforderlich; |
zu e) |
gute Ernährung, besondere Desinfektionsmaßnahmen, seelischer Zuspruch und Entlastung von allen körperlichen Anstrengungen. |
In der mündlichen Verhandlung hat das LSG den Obermedizinalrat Dr. P als Sachverständigen gehört. Er ist ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, daß sich die Lungen-Tbc des Klägers seit 1953 wesentlich verschlechtert habe, wie aus dem Gutachten des Dr. G vom 7. März 1956 hervorgehe. Der Kläger sei vor allem dadurch behindert, daß er wegen der vorhandenen Ansteckungsgefahr weitgehend in seinem Lebenskreis eingeschränkt sei. Es handle sich um seuchenhygienische Maßnahmen, die er einhalten müsse. Darüber hinaus müsse er körperliche Anstrengungen vermeiden, kurgemäß leben und stundenweise Liegekuren durchführen, um eine Verschlimmerung der Tbc nach Möglichkeit zu verhindern. Ob die Voraussetzungen zur Gewährung der Pflegezulage vorlägen, könne jedoch durch den ärztlichen Sachverständigen allein nicht entschieden werden. Durch Urteil vom 12. August 1958 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, es handle sich bei dem Kläger um eine progressive Tbc, die sich seit der Untersuchung durch Prof. Dr. H am 19. Mai 1953 erheblich verschlimmert habe. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG müsse daher bejaht werden. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage seien ebenfalls gegeben. Hilflosigkeit liege dann vor, wenn der Kläger ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen könne. Allerdings müsse der Beschädigte in regelmäßiger Wiederkehr für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens fremder Hilfe bedürfen; es sei hierbei erforderlich, daß er ohne eine fremde, jederzeit zu seiner Wartung bereite Hilfskraft nicht auskommen könne. Dies sei hier der Fall, weil der Kläger gehalten sei, durch strenge Liegekuren und kurgemäße Lebensweise eine weitere Verschlimmerung zu vermeiden. Er müsse auf Anordnung des Gesundheitsamts Eckernförde in häuslicher Isolierung leben. Der sehr schwere Lungenbefund erlaube es dem Kläger nicht, verschiedene Arbeiten des täglichen Lebens wie Kohlen holen, Feuer machen, Einkaufen, Vorsprechen bei Behörden usw. vorzunehmen. Es komme hinzu, daß es ihm wegen der Ansteckungsgefahr aus seuchenhygienischen Gründen verboten sei, mit der Außenwelt in nähere Beziehung zu treten. Daraus ergebe sich, daß er für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens fremder Hilfe bedürfe. Daran ändere auch nichts, daß er sich z.B. selbst anziehen und ohne Hilfe seine Mahlzeiten einnehmen könne. Die weitgehende Hilfeleistung der Ehefrau, ohne die der Kläger mit der Außenwelt gar nicht in Berührung kommen könne, habe ferner einen erheblichen wirtschaftlichen Wert. Endlich könne ihm die Pflegezulage auch nicht mit der Begründung versagt werden, daß seine Ehefrau nach den §§ 1353, 1360 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zur entsprechenden Pflege gehalten sei; denn dann könnte folgerichtig jedem Verheirateten, der eine Frau habe, die zur Pflege imstande sei, ein Anspruch auf Pflegezulage verweigert werden.
Gegen das am 8. Oktober 1958 zugestellte Urteil des LSG hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 1. November 1958, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 4. November 1958, Revision eingelegt; er beantragt,
das Urteil des LSG Schleswig vom 12. August 1958 und das Urteil des SG Schleswig vom 16. September 1957 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Beklagte rügt in der am 6. Dezember 1958 eingegangenen Revisionsbegründung eine Verkennung des Begriffs der Hilflosigkeit in § 35 BVG. Er trägt hierzu vor, daß der vom LSG festgestellte, sehr schwere Lungenbefund allein für die Gewährung der Pflegezulage nicht entscheidend sei. Hilflos sei, wer für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedürfe. Zu den gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens gehörten aber nicht Besorgungsgänge außerhalb der Wohnung und häusliche Arbeiten zur Aufrechterhaltung des Haushalts. Insoweit kämen nur Verrichtungen in Frage, die der gesunde Mensch regelmäßig selbst auszuführen pflege, nicht aber solche, die er sich ebenso häufig im Rahmen einer normalen Arbeitsverteilung im Haushalt von Familienmitgliedern abnehmen lasse. Nur derjenige könne als hilflos angesehen werden, dem schon bei einfachen körperlichen Lageveränderungen, wie Aufrichten, Aufstehen und Gehen, bei der Nahrungsaufnahme, Körperreinigung und -pflege oder Verrichtung der Notdurft geholfen werden müsse, der also eine Hilfe brauche, die ihm ganz persönlich für seine elementaren Bedürfnisse geleistet werden müsse. Nach der Auskunft des Gesundheitsamts des Kreises Eckernförde vom 7. Mai 1958 bestehe die außergewöhnliche Pflege des Klägers in “guter Ernährung, besonderen Desinfektionsmaßnahmen, seelischem Zuspruch und Entlastung von allen körperlichen Anstrengungen„. Hierbei handle es sich jedoch nicht um die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Ferner sei auch bei einer strengen Liegekur eine Hilfeleistung im Sinne des § 35 BVG nicht erforderlich (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 28. August 1955 - 8 RV 301/55 -). Endlich könne eine aus seuchenpolizeilichen Gründen angeordnete häusliche Isolierung nicht die Annahme von Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG begründen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im vorliegenden Falle sei von besonderer Bedeutung, daß es sich bei dem Kläger um eine schwere, offene, fortschreitende Lungen-Tbc handle, die der Behandlung nicht mehr zugänglich sei. Damit unterscheide sich sein Fall wesentlich von dem vom 8. Senat des BSG bereits entschiedenen Falle (BSG 8, 97), in dem das Berufungsgericht festgestellt hatte, daß das Allgemeinbefinden des dortigen Klägers nicht als schlecht angesehen werden könne. Der Kläger weist ferner darauf hin, daß er nicht nur während der Durchführung seiner ausgedehnten Liegekuren für Handreichungen usw. ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei, sondern daß er auch für eine Reihe von Verrichtungen des täglichen Lebens, die mit körperlichen Anstrengungen verbunden seien, die Hilfe anderer in Anspruch nehmen müsse.
Jedenfalls würde es eine unzulässige Einengung des Begriffs der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG bedeuten, wenn man eine Entscheidung darauf abstellen würde, ob er ständig bettlägerig sei oder gewisse einfache Verrichtungen im täglichen Ablauf seines Lebens noch selbst vornehmen könne.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist statthaft, da das LSG die Revision zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Bei einer zulässigen Revision ist die Zulässigkeit der Berufung auch ohne Revisionsrüge von Amts wegen zu prüfen (BSG 2, 225; 3, 124). Die Berufung war im vorliegenden Falle nach § 148 Nr. 3 SGG an sich ausgeschlossen, weil es sich um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse handelte. Sie war aber trotzdem statthaft, weil das SG die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG ausdrücklich zugelassen hatte. Das LSG hat daher zu Recht in der Sache entschieden.
Die Revision des Beklagten ist auch begründet.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob dem Kläger, der wegen einer als Schädigungsfolge anerkannten offenen Lungen-Tbc erwerbsunfähig ist, eine Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG zusteht. Diese Vorschrift ist durch das am 1. Juni 1960 in Kraft getretene Erste Neuordnungsgesetz (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) neu gefaßt worden. Das Revisionsgericht hat nicht allein das Recht anzuwenden, das im Zeitpunkt des Erlasses des Berufungsurteils galt; vielmehr ist das angefochtene Urteil grundsätzlich auf der Grundlage des bei der Verkündung des Urteils des Revisionsgerichts geltenden Rechts zu prüfen, sofern es das streitige Rechtsverhältnis erfaßt (BGHZ 9, 101; BSG, Urteil vom 16. März 1962 - 11 RV 632/59 -; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 162 Anm. 5 g). Der Senat hat daher im vorliegenden Falle den von dem Kläger geltend gemachten Anspruch auf Pflegezulage sowohl nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG aF als auch nach der neuen Fassung dieser Vorschrift zu prüfen. Nach der vor Inkrafttreten des 1. NOG geltenden Fassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG, die dem angefochtenen Urteil des LSG Schleswig vom 12. August 1958 zugrunde liegt, ist hilflos, wer nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Nach der neuen Fassung dieser Vorschrift muß der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos sein, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Nach der Verwaltungsvorschrift zu § 35 BVG aF liegt Hilflosigkeit vor, “wenn der Beschädigte für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf; es ist nicht notwendig, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt, daß sie jederzeit bereit sein muß. Hilflosigkeit liegt dagegen nicht vor, wenn der Beschädigte nur für einzelne Verrichtungen einer Hilfe bedarf„. Die Neufassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG durch das 1. NOG entspricht also inhaltlich der zu der früheren Fassung ergangenen Verwaltungsvorschrift. Der Zweck des § 35 BVG, einem hilflosen Beschädigten eine Pflegezulage zu gewähren, um die Nachteile dafür auszugleichen, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann, ist derselbe geblieben. Verfolgen hiernach die verschiedenen Fassungen derselben Vorschrift des Gesetzes ein einheitliches Ziel, so ist daraus grundsätzlich zu folgern, daß der Gesetzgeber mit der neuen Fassung nur zum Ausdruck bringen wollte, wie diese Vorschrift schon in der ursprünglichen Fassung auszulegen war. Daß die Neufassung des § 35 BVG durch das 1. NOG nur eine Auslegung der ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift darstellt, geht auch daraus hervor, daß nunmehr lediglich ein Teil der Verwaltungsvorschrift zu § 35 BVG aF neu in den Wortlaut des Gesetzes aufgenommen worden ist und damit die Auslegung, die der Vorschrift ohnehin schon durch die Verwaltung gegeben worden ist, allgemeinverbindliche Gesetzeskraft erlangt hat (vgl. hierzu auch die Auslegung der verschiedenen Fassungen des § 30 BVG in BSG 13, 20, 22). Durch die Neufassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG auf Grund des 1. NOG hat sich hiernach in den sachlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage nichts geändert.
Das LSG ist in dem angefochtenen Urteil unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des ehemaligen Reichsversorgungsgerichts zu § 31 des Reichsversorgungsgesetzes zu der Auffassung gelangt, daß der Kläger hilflos im Sinne des § 35 BVG ist. Es hat die Hilflosigkeit aus folgenden von ihm getroffenen Feststellungen hergeleitet:
Bei dem Kläger handelt es sich nach der Beurteilung der Sachverständigen Dres. G und P um einen sehr schweren Lungenbefund. Er muß strenge Liegekuren und eine kurgemäße Lebensweise einhalten. Sein Leidenszustand erlaubt ihm nicht, verschiedene Arbeiten des täglichen Lebens (Kohlen holen, Feuer machen, Einkäufe tätigen, Vorsprechen bei Behörden usw.) vorzunehmen. Es ist ihm wegen der Ansteckungsgefahr aus seuchenhygienischen Gründen verboten, mit der Außenwelt in nähere Beziehung zu treten. Die Mithilfe der Ehefrau, ohne die der Kläger mit der Außenwelt gar nicht in Berührung kommen kann, hat einen erheblichen wirtschaftlichen Wert. Er kann sich allerdings z.B. selbst anziehen und ohne Hilfe seine Mahlzeiten einnehmen.
An die Feststellungen des LSG ist der Senat nach § 163 SGG gebunden, da sie von dem Beklagten nicht mit Revisionsrügen angegriffen worden sind. Es ist somit zu prüfen, ob nach den Feststellungen des LSG die Voraussetzungen für eine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG, die in der alten und neuen Fassung dieser Vorschrift dieselben geblieben sind, erfüllt sind.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist hilflos im Sinne des § 35 BVG derjenige Beschädigte, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG 8, 97, 99). Bei der Entscheidung über die Frage, ob Hilflosigkeit vorliegt, kommt es aber nicht auf wirtschaftliche Gesichtspunkte, sondern allein auf den Leidenszustand des Beschädigten und die hierdurch bedingte persönliche Wartung und Pflege an, während die Stellung des Beschädigten in seiner Lebensführung im weiteren Sinne unberücksichtigt bleiben muß (RVG 12, 218; BSG 8, 97, 99; 12, 20, 22). Die Pflegezulage ist mithin auf den höchstpersönlichen Lebensbereich des Beschädigten abzustellen, wobei z.B. grundsätzlich unbeachtlich ist, ob er verheiratet ist oder nicht (so auch BSG aaO). Die Pflegezulage nach § 35 wird nicht schon wegen “Hilfsbedürftigkeit„ des Beschädigten, sondern nur wegen “Hilflosigkeit„ gewährt (BSG 3, 217, 222). Ob ein Zustand der Hilflosigkeit in dem vorstehenden Sinne besteht, ist keine rein medizinische, sondern eine Tatfrage; sie muß in jedem Falle unabhängig von der medizinischen Auffassung geprüft werden.
Nach den Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger an einer schweren progredienten Lungen-Tbc leidet. Die Schwere seines Leidens ist aber nicht allein entscheidend für die Gewährung einer Pflegezulage, wie das LSG anscheinend meint; es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob der Beschädigte für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden persönlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Dies ist aber nach den Feststellungen des LSG nicht der Fall; denn er bedarf für das An- und Auskleiden, Essen und Trinken, Waschen, Verrichtung der Notdurft, die notwendige und mögliche Körperbewegung, geistige Erholung usw. (vgl. hierzu auch BSG 12, 20, 23) keiner dauernden Hilfe. Wenn auch der Begriff der notwendigen Verrichtungen nicht eng auszulegen sein wird, so müssen bei der Prüfung, ob ein Beschädigter hilflos ist, jedenfalls diejenigen Verrichtungen außer Betracht bleiben, die mit der Pflege und Wartung seiner Person nicht unmittelbar zusammenhängen. Zu den bei der Beurteilung der Hilflosigkeit des Klägers zu berücksichtigenden Verrichtungen gehört daher entgegen der Ansicht des LSG nicht die Bewirtschaftung des Haushalts oder eines kleinen häuslichen Bereichs, wie z.B. Kohlen holen, Feuer machen und Einkaufen. Das Vorsprechen bei Behörden usw. stellt ebenfalls keine gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtung im Ablauf des täglichen Lebens des Klägers dar, da derartige Verrichtungen nur selten in ganz geringem Umfange wahrzunehmen sein werden (vgl. auch BSG aaO). Die von dem LSG angeführten Verrichtungen, die der Kläger nach Ansicht des LSG nicht selbst ausführen kann, sind daher nicht geeignet, seine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG darzutun.
Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger strenge Liegekuren durchführen und eine kurgemäße Lebensweise einhalten muß. Daß und in welcher Hinsicht er bei diesen Liegekuren einer besonderen Hilfeleistung und Pflege bedarf, hat das LSG nicht dargetan; denn er kann sich ohne fremde Hilfe hinlegen, wieder aufstehen, ausziehen und anziehen. Endlich führt auch die häusliche Asylierung nicht zu einer Hilflosigkeit des Klägers im Sinne des § 35 BVG. Es ist zwar richtig, daß eine an offener Tbc erkrankte Person besondere Vorsicht im Umgang mit anderen Menschen walten lassen und sich ihrer Verantwortung gegenüber den Mitmenschen bewußt sein muß. Diese notwendige Einschränkung des Lebensbereichs kann aber dem gesetzlichen Erfordernis der Hilflosigkeit in § 35 BVG nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden, da sich die Ansteckungsgefahr nicht auf den persönlichen Leidenszustand des Beschädigten selbst auswirkt, sondern nur für seine Mitmenschen von wesentlicher Bedeutung ist. Etwaige Aufwendungen zur Vermeidung der Ansteckungsgefahr im Interesse der Allgemeinheit können aber nicht zu Lasten der Kriegsopferversorgung über § 35 BVG gehen (so auch BSG 8, 97, 101). Der Leidenszustand des Beschädigten wird daher durch die bei der offenen Tbc bestehende Ansteckungsgefahr für andere nicht berührt.
Wenn das Gesundheitsamt des Kreises Eckernförde in seiner Auskunft vom 7. Mai 1958 ausgeführt hat, daß bei dem Kläger Hilflosigkeit deswegen vorliege, weil er selbst in praktischen Dingen unbegabt sei, zu allen Verrichtungen der Haushaltsführung die Hilfe eines Dritten benötige, sich schonen müsse, ferner eine gute Ernährung, besondere Desinfektionsmaßnahmen, seelischer Zuspruch und Entlastung von allen körperlichen Anstrengungen erforderlich seien, so hat das Gesundheitsamt - ebenso wie das LSG - den Begriff der Hilflosigkeit in § 35 BVG verkannt. Die Rüge des Beklagten, das LSG habe § 35 BVG unrichtig angewandt, ist somit sowohl nach der alten als auch nach der neuen Fassung dieser Vorschrift gerechtfertigt. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben werden. Da die vom LSG getroffenen und mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen zur Beurteilung der Frage, ob der Kläger im Sinne des § 35 BVG hilflos ist, ausreichen, konnte der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die eine Pflegezulage zusprechenden Urteile des SG und des LSG mußten aufgehoben werden; die Klage gegen den Bescheid des VersorgA Schleswig vom 19. April 1956 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Dezember 1956 war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen