Leitsatz (redaktionell)

Ein Former ist ein Industriefacharbeiter; diese Tätigkeit wird heute nur auf Grund einer abgeschlossenen Lehre verrichtet. Ist ein Versicherter langjährig wie ein gelernter Former beschäftigt und entlohnt worden, so steht er bei Anwendung der RKG § 46 Abs 2, RVO § 1246 Abs 2 einem gelernten Former trotz fehlender abgeschlossener Lehrzeit gleich (Anschluß an das Urteil BSG 1962-04-26 5 RKn 17/61 = BSGE 17, 41).

Die Verweisung eines Versicherten, der insoweit wie ein gelernter Facharbeiter zu behandeln ist, auf ungelernte Arbeiten einfacher Art wie zB auf die Tätigkeiten eines Markenausgebers, Maskenreinigers und Kauenwärters ist nicht zulässig, weil ihre Verrichtung für ihn mit einem wesentlichen sozialen Abstieg verbunden wäre.

 

Orientierungssatz

Ein Facharbeiter (hier: Former) der zwar keine Lehre durchlaufen hat, aber für seinen Beruf angelernt ist, muß dem Facharbeiter in einem Lehrberuf der Industrie bei Anwendung der RKG § 46, RVO § 1246 gleichgestellt werden, wenn er die Arbeit eines gelernten Facharbeiters vollwertig verrichtet hat, was anzunehmen ist, wenn er sie langjährig ausgeübt hat und wie ein gelernter Facharbeiter entlohnt worden ist.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. Mai 1962 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

 

Gründe

I

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der am 18. Mai 1902 geborene Kläger von 1920 bis 1923 im Bergbau als Schlepper und Lehrhauer und anschließend bis 1927 auf der Berghalde tätig. Später arbeitete er im wesentlichen als Hüttenarbeiter in einer Formermannschaft. Sein Antrag vom 1. Juli 1958 auf Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit wurde mit der Begründung abgelehnt, er sei weder erwerbs- oder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Auch seine Klage vor dem Sozialgericht wurde abgewiesen. Er könne nach dem Gutachten des Gerichtssachverständigen noch die Tätigkeiten eines Markenausgebers und Maskenreinigers verrichten. Solche Arbeiten seien ihm auch zuzumuten, weil er hauptberuflich als Hilfsarbeiter anzusehen sei. Im Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) beschränkte der Kläger seinen Antrag auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit. Nachdem das Berufungsgericht über die Tätigkeit des Klägers auf der H Hütte Beweis erhoben hatte, verurteilte es antragsgemäß die Beklagte, dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit (Gesamtleistung) ab 1. Juli 1958 zu gewähren. Der Beruf des Formers sei heute ein Lehrberuf. Zwar habe der Kläger keine Formerlehre durchlaufen und sei daher nur angelernter Former. Als solcher müsse er aber im Rahmen der Verweisbarkeit nach den §§ 46 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) und 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wie ein gelernter Facharbeiter behandelt werden, weil er in einer jahrzehntelangen Facharbeiterpraxis die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten wie ein solcher erworben habe. Er brauche sich daher nicht auf die Tätigkeiten eines Markenausgebers, Maskenreinigers und Kauenwärters, die er noch verrichten könne, verweisen zu lassen. Der Kläger sei daher berufsunfähig und habe Anspruch auf die beantragte Rente.

Gegen das ihr am 1. Juni 1962 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27. Juni 1962 die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und am 26. Juli 1962 begründet. Sie rügt Verletzung der §§ 46 Abs. 2 RKG, 1246 Abs. 2 RVO. Der Kläger könne im Rahmen der Verweisbarkeit nach den genannten Bestimmungen nur als angelernter Arbeiter angesehen werden. Er habe weder die Lehre eines Formers durchlaufen noch sich einer betriebsinternen Prüfung unterzogen. Er sei auch in der Hauptsache nur als zweiter Mann ( Aufstampfer ) innerhalb der Arbeitsgruppe eingesetzt worden; er habe lediglich einzelne Arbeiten aus dem Aufgabenbereich des Formers und im wesentlichen nicht dessen eigentliche Arbeiten verrichtet. Der Kläger sei auch nur auf Grund der Tätigkeit der gesamten Arbeitsgruppe nach Lohngruppe 5 (gelernte Facharbeiter) bezahlt worden, außerhalb seiner Arbeitsstelle seien die Aufstampfer nur in Lohngruppe 4 eingestuft. Aus den Lohnkarten von 1941 und 1944 ergebe sich, daß er nur als angelernter Arbeiter entlohnt worden sei. Als angelernter Arbeiter müsse sich der Kläger auf die Tätigkeiten als Markenausgeber, Maskenreiniger, Kauenwärter, Werkstatthelfer, Lampenstubenarbeiter, Maschinenwärter, Wipperbediener und entsprechende Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus verweisen lassen. Hierzu müsse er für tauglich gehalten werden, weil er nach ärztlichem Gutachten noch alle leichteren Arbeiten, die kein dauerndes Gehen und Stehen sowie Heben und Tragen von Lasten erforderten, fortgesetzt und regelmäßig verrichten könne.

Auf Grund erneuter ärztlicher Untersuchung hat die Beklagte im Laufe des Revisionsverfahrens den Anspruch des Klägers für die Zeit ab 1. Januar 1961 anerkannt.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 19. Oktober 1961 zurückzuweisen, soweit es sich um die Zeit bis zum 1. Januar 1961 handelt.

Der Kläger beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Beide Parteien sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist zulässig, sachlich jedoch nicht begründet. Die Beklagte rügt zu Unrecht Verletzung der §§ 46 Abs. 2 RKG, 1246 Abs. 2 RVO.

Das Berufungsgericht konnte nach seinen tatsächlichen Feststellungen davon ausgehen, daß als Hauptberuf des Klägers die Tätigkeit eines gelernten Facharbeiters anzusehen ist. Die Tätigkeit des Formers wird, wie das LSG festgestellt hat, heute auf Grund einer abgeschlossenen Lehre verrichtet. Der Kläger selbst hat allerdings keine eigentliche Lehrzeit mitgemacht, sondern ist in diesen Beruf nach der Feststellung des Berufungsgerichts seit etwa 1934 hineingewachsen. Wie der Senat aber bereits in seinem Urteil vom 26. April 1962 - 5 RKn 17/61 - (BSG 17, 41) ausgeführt hat, muß ein Handwerker, der zwar keine Lehre durchlaufen hat, aber für seinen Beruf angelernt ist, dem gelernten Handwerker bei Anwendung der §§ 46 RKG, 1246 RVO gleichgestellt werden, wenn er die Arbeit eines gelernten Handwerkers vollwertig verrichtet hat, was anzunehmen ist, wenn er sie langjährig ausgeübt hat und wie ein gelernter Handwerker entlohnt worden ist. Das gleiche wie für den Handwerker muß für den Facharbeiter in einem Lehrberuf der Industrie gelten. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe sich auf Grund langjähriger Praxis auf das berufliche Niveau eines gelernten Formers emporgearbeitet und seine Kenntnisse und Fertigkeiten entsprächen denen eines gelernten Facharbeiters, ist nicht zu beanstanden; denn es hat festgestellt, daß die vom Kläger verrichtete Tätigkeit als zweiter Mann eines Formerecks heute im allgemeinen auch von gelernten Formern verrichtet wird, daß der Kläger auch genau so tariflich eingestuft und bezahlt worden ist wie der erste Mann und daß er in der Lage war, ohne weiteres die Funktion des ersten Mannes bei dessen Ausfall zu übernehmen. Nach diesen Feststellungen sind die Voraussetzungen, die in dem o. a. Urteil des Senats für die Behandlung als Facharbeiter bei Anwendung der §§ 46 RKG, 1246 RVO aufgestellt worden sind, erfüllt. Die Beklagte geht in ihrer Revisionsbegründung insoweit nicht in vollem Umfange von den tatsächlichen Feststellungen aus, die das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil getroffen hat. Da sie diese tatsächlichen Feststellungen aber nicht entsprechend § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) angegriffen, sondern lediglich die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, war der Senat gemäß § 163 SGG an diese Feststellungen gebunden. Bei den Tätigkeiten eines Markenausgebers, Maskenreinigers und Kauenwärters, wie sie der Kläger nach der Feststellung des Berufungsgerichts noch verrichten könnte, handelt es sich um ungelernte Tätigkeiten einfacher Art, auf die ein Versicherter, der insoweit wie ein gelernter Facharbeiter zu behandeln ist, nicht verwiesen werden kann, weil ihre Verrichtung für ihn mit einem wesentlichen sozialen Abstieg verbunden wäre. Wenn sich die Revision demgegenüber auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. Oktober 1958 (SozR RVO § 1246 Nr. 4) beruft, so übersieht sie, daß es sich bei der Tätigkeit, auf die dort ein Facharbeiter verwiesen wurde, um eine Vertrauenstätigkeit handelt, die sich "in ihrem sozialen Ansehen aus dem Kreis sonstiger Anlerntätigkeiten und ungelernter Tätigkeiten hervorhebt"; dieses besondere Merkmal fehlt aber den Tätigkeiten, zu denen der Kläger nach der Feststellung des Berufungsgerichts noch tauglich ist. Bei der weiter von der Beklagten angeführten Entscheidung in BSG 9, 189 handelt es sich um die Verweisung von einer Tätigkeit, die keine besondere Berufsvorbildung erfordert, auf andere angelernte Tätigkeiten der gleichen Branche, also einen völlig anders gelagerten Fall.

Das Berufungsgericht hat daher nach seinen tatsächlichen Feststellungen den Kläger zu Recht als berufsunfähig angesehen. Die Revision war dementsprechend zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Das Gericht konnte gemäß den §§ 165, 153 I, 124 II SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325634

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