Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung
Orientierungssatz
1. Das Gericht überschreitet die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung, wenn es von einer Beweisaufnahme deswegen absieht, weil die Zeugenaussage seine Überzeugung nach Lage der Dinge nicht ändern könne (vgl BSG 1955-10-13 5 RKn 25/54 = SozR Nr 27 zu § 162 SGG).
2. Der Weg zur Arbeitsstätte im Sinne des § 550 RVO muß nicht von der Wohnung aus angetreten werden. Es darf sich allerdings bei dem Weg von der den häuslichen Bereich darstellenden Wohnung zu einem anderen Ort und bei dem Weg von diesem Ort zum Ort der Tätigkeit nicht um einen einheitlichen Gesamtweg handeln.
Normenkette
SGG § 128; RVO § 550
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.03.1972) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. März 1972 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin erlitt am 24. Februar 1965 gegen 3.20 Uhr einen Verkehrsunfall. Sie gab an, sie habe sich auf der Fahrt zu einer Gaststätte befunden, wo sie als Serviererin um 3.30 Uhr ihre Tätigkeit mit Vorbereitungsarbeiten hätte beginnen müssen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 5. Dezember 1967 Entschädigungsansprüche ab, da die Klägerin nicht auf dem Weg nach dem Ort der versicherten Tätigkeit, sondern auf der Fahrt zu einem anderen Restaurant verunglückt sei, wo sie noch habe essen wollen.
Die Klägerin hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 16. Juni 1970 die Beklagte verurteilt, die Klägerin wegen der Folgen des Unfalles zu entschädigen.
Die Beklagte hat Berufung eingelegt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat den Zeugen W durch das SG Berlin vernehmen lassen. Der Zeuge hat u. a. ausgesagt, die Klägerin sei nicht auf der Fahrt zu ihrer damaligen Arbeitsstätte verunglückt. Sie hätten vielmehr in der von ihm geführten G-Klause vereinbart, noch in einem anderen Restaurant etwas zu essen. Dies sei u. a. auch mit einem anderen Stammgast abgesprochen gewesen. Der Vorname dieses Gastes sei wohl H. Er hätte jedenfalls ein Elektro-Einzelhandelsgeschäft in Berlin-C, Z-straße, unmittelbar neben der Allgemeinen Ortskrankenkasse.
Die Klägerin hat in ihrem Schriftsatz vom 6. Oktober 1971 und in der mündlichen Verhandlung am 27. März 1972 u. a. beantragt, die Anschrift des Zeugen H zu ermitteln und ihn über das Ziel der Fahrt, bei der sie verunglückt sei, zu vernehmen.
Das LSG hat mit Urteil vom 27. März 1972 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat in den Urteilsgründen u. a. ausgeführt: Auf die Vernehmung des als Zeuge benannten "H" hat der Senat verzichtet, weil hierdurch selbst bei einer für die Klägerin günstigen Aussage die Angaben der Zeugen Z und W nicht wertlos geworden wären.
Die Klägerin hat Revision eingelegt.
Zur Begründung der Statthaftigkeit des vom LSG nicht zugelassenen Rechtsmittels rügt sie wesentliche Mängel des Verfahrens. Als Verstoß gegen die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, und als Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung macht sie u. a. geltend: Das LSG habe die Vernehmung des Zeugen "H" nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, seine Aussage könne an dem Ergebnis des Rechtsstreits nichts ändern.
Die Klägerin beantragt,
unter Änderung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 27. März 1972 und unter Aufhebung des Bescheids vom 5. Dezember 1967 die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, ihr für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 24. Februar 1965 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die erhobenen Revisionsrügen nicht für begründet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind erfüllt.
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da ein von ihr gerügter wesentlicher Mangel des Verfahrens vorliegt.
Aufgrund der Aussage des Zeugen W hat die Klägerin beantragt, den vor Antritt der Fahrt, auf der sie verunglückt ist, mit anwesenden Gast "H" als Zeugen zu vernehmen. Nach den Bekundungen von W ist das Ziel dieser Fahrt auch mit diesem Gast abgesprochen gewesen. Dieser Gast soll demnach über beweiserhebliche Tatsachen aussagen können. Zwar ist sein Name nicht bekannt. Aufgrund der relativ genau angegebenen Lage des von ihm angeblich damals betriebenen Geschäftes erscheint es aber nicht von vornherein ausgeschlossen, ggf. mit Hilfe der zuständigen Polizeidienststelle und der Handwerkskammer oder Industrie- und Handelskammer seinen Namen und die ladungsfähige Anschrift zu ermitteln. Das LSG hat jedenfalls nichts Gegenteiliges dargelegt. Es hat vielmehr die Ermittlungen über die Anschrift des Zeugen und seine Vernehmung deshalb unterlassen, weil "hierdurch selbst bei einer für die Klägerin günstigen Aussage die Angaben der Zeugen Z und W nicht wertlos geworden wären". Das LSG hat damit die Würdigung eines nicht erhobenen Beweises vorweggenommen. Die Vorwegnahme einer Beweiswürdigung ist jedoch grundsätzlich unstatthaft (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 244 n). Eine Ablehnung wegen Unwerts eines Beweismittels ist nur zulässig, wenn es nach Lage der Sache ausgeschlossen ist, daß die Beweisaufnahme Sachdienliches ergeben kann (Brackmann aaO). Nach den Bekundungen des Zeugen W soll der Zeuge "H" jedoch, wie bereits aufgezeigt, zu den vom Berufungsgericht für beweiserheblich gehaltenen Umständen aussagen können. Das LSG hat demnach die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten und damit gegen § 128 SGG verstoßen, als es von der Beweisaufnahme abgesehen hat, weil die Zeugenaussage seine Überzeugung nach Lage der Umstände nicht hätte ändern können (s. BSG SozR Nr. 27 zu § 162 SGG; BVerwG DÖV 1956, 371; Brackmann, aaO; vgl. auch BSG SozR aaO Nr. 35; BVerwG ZLA 1959, 172). Diesen Verfahrensfehler hat die Revision auch gerügt.
Die somit statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das demnach zulässige Rechtsmittel ist auch begründet, da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß das LSG bei Vermeidung des Verfahrensmangels zu einer der Klägerin günstigen Entscheidung gekommen wäre. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob auch andere Verfahrensrügen der Revision begründet sind.
Der Senat hat jedoch in der Sache selbst nicht entscheiden können.
Ein Versicherungsschutz der Klägerin ist nicht deshalb zu verneinen, weil sie die Fahrt, auf der sie verunglückt ist, von der Gaststätte des Zeugen W aus angetreten hatte.
Das LSG hat in seiner Entscheidung allerdings u. a. ausgeführt, der Senat habe vor allem aus rechtlichen Gründen das Vorliegen eines Wegeunfalls i. S. des § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht bejahen können. Grundsätzlich müsse Ausgangspunkt (und Endpunkt) eines unter Versicherungsschutz stehenden Weges der häusliche Bereich, d. h. die Wohnung, des Versicherten sein. Nur in Ausnahmefällen schließe der Umstand, daß der Versicherte für den Weg nach und vom Ort seiner Tätigkeit einen Ausgangs- oder Endpunkt wähle, der sich nicht mit seinem Wohnbereich decke, den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht aus. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist diese Rechtsansicht dem von ihm zitierten Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1964 nicht zu entnehmen (BSG 22, 60, 61 - 2. Absatz; s. auch Brackmann aaO S. 486 e ff.). Der Weg zur Arbeitsstätte im Sinne des § 550 RVO muß nicht von der Wohnung aus angetreten werden (s. Brackmann aaO S. 486 f mit weiteren Nachweisen). Es darf sich allerdings bei dem Weg von der den häuslichen Bereich darstellenden Wohnung zu einem anderen Ort und bei dem Weg von diesem Ort zum Ort der Tätigkeit nicht um einen einheitlichen Gesamtweg handeln (s. Brackmann aaO S. 486 g).
Ob der Weg der Klägerin mit ihrer Arbeit im Unternehmen in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang gestanden hat, kann der Senat nicht entscheiden, weil insoweit tatsächliche Feststellungen des LSG fehlen. Das LSG hat insbesondere nicht festgestellt, ob die Klägerin - wie sie behauptet - zu jener Zeit, als sich der Unfall ereignete, bei dem Zeugen W gewohnt oder wie lange sie ggf. vor der Fahrt, auf der sie verunglückt ist, sich wenigstens bei diesem Zeugen aufgehalten oder sie ihn nur gelegentlich ihres Weges zum Ort der Tätigkeit kurz aufgesucht hat. Ebenso fehlen, wie bereits aufgezeigt, die abschließenden tatsächlichen Feststellungen des LSG darüber, ob die Klägerin sich auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit befunden hat.
Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Ihm bleibt auch die abschließende Entscheidung über die Kosten einschließlich der des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen