Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. nicht betriebsübliche Bedingungen des Arbeitsplatzes. Risikobereich der Arbeitslosenversicherung bei innerbetrieblicher Vergabe von Arbeitsplätzen
Orientierungssatz
Ein Versicherter kann nicht auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die er nur dann zu verrichten vermag, wenn die entsprechenden Arbeitsplätze in einer nicht betriebsüblichen Art besonders ausgestaltet werden (vgl BSG vom 1977-09-21 4 RJ 131/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 22).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.06.1979; Aktenzeichen L 2 J 196/78) |
SG Speyer (Entscheidung vom 07.09.1978; Aktenzeichen S 7 J 541/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der Kläger, der den Beruf eines Schlossers erlernt hat, war in der Zeit von 1945 bis 1951 zunächst als Schlosser und dann als Heizer bei der Reichsbahn bzw Bundesbahn versicherungspflichtig beschäftigt. Danach war er Bundesbahnbeamter (zuletzt Lokomotivbetriebsinspektor). Im Mai 1977 ist er wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden.
Die Beklagte lehnte den am 9. Dezember 1976 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 30. August 1977 ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig sei. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 7. September 1978 abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 26. Juni 1979 das erstinstanzliche Urteil und den Bescheid der Beklagten aufgehoben sowie die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. Januar 1977 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen, denn mit der Aufnahme der Tätigkeit eines Lokomotivheizers sei er nicht zu einer unqualifizierten Tätigkeit übergegangen. Es handele sich um eine im Verhältnis zu seiner früheren Tätigkeit als Schlosser berufsverwandte Tätigkeit, bei der er auch die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Schlossers benötigt habe. Er sei auch - seiner Tätigkeit entsprechend - als Facharbeiter entlohnt worden. Der Kläger könne zwar verschiedene ungelernte Tätigkeiten verrichten, die tariflich wie Arbeiten eines Facharbeiters und angelernten Arbeiters eingestuft seien, nämlich Kontroll- und Überwachungsarbeiten, Steuerungsarbeiten, Anlagekontrollen oder Tätigkeiten als Meß- oder Schalttafelwart. Der Zugang zu diesen Tätigkeiten sei ihm jedoch praktisch verschlossen. Er könne den Anforderungen dieser Tätigkeiten nur bei günstiger Arbeitsplatzgestaltung genügen, also nur bei in der Regel nicht üblichen Bedingungen. Bei Tätigkeiten als Werkstattschreiber oder im öffentlichen Dienst könne nichts anderes gelten. Das ergebe sich schon daraus, daß das Landesarbeitsamt diese Arbeiten nicht genannt habe. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger fähig ist, nach einer bis zu dreimonatigen Einweisung die genannten Verweisungstätigkeiten ordnungsgemäß zu leisten. Für die Möglichkeit der Verwertbarkeit seiner eingeschränkten Arbeitsfähigkeit seien auch die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes maßgebend. Dazu gehöre das Fehlen von Zweifeln an der Fähigkeit des Bewerbers, die zumutbare Arbeit zu verrichten. Seien solche Zweifel vorhanden, so sei der Schluß gerechtfertigt, daß der Arbeitgeber Arbeitskräfte nicht einstelle. Solche Zweifel beständen aber regelmäßig bei betriebsfremden Bewerbern. Insoweit sei der Kläger nicht wettbewerbsfähig.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, der Kläger sei nicht berufsunfähig. Nach den Feststellungen des LSG könne er noch einige zumutbare Arbeiten verrichten. Die notwendige Ausgestaltung des Arbeitsplatzes sei nicht unüblich, denn Arbeitshilfen dieser Art würden von der Arbeitsverwaltung oder dem Rentenversicherungsträger im Rahmen berufsfördernder Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Daran ändere der Umstand nichts, daß der Kläger Beamter gewesen sei und daher berufsfördernde Maßnahmen vom Rentenversicherungsträger nicht erhalten könne. Ob solche Arbeitsplätze frei oder besetzt seien, spiele für die Frage der Berufsunfähigkeit keine Rolle.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz
vom 26. Juni 1979 aufzuheben.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat die Beklagte im Ergebnis mit Recht zur Gewährung der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger zur Gruppe der Arbeiter mit dem Leitberuf des Facharbeiters gehört. Der Kläger hat sich zwar durch die freiwillige Aufnahme der Tätigkeit eines Lokomotivheizers von seiner früheren Tätigkeit eines Schlossers gelöst. Dadurch hat er jedoch den Status eines Facharbeiters nicht verloren, denn auch der Lokomotivheizer gehört - worüber die Beteiligten nicht streiten - zur Gruppe der Arbeiter mit dem Leitberuf des Facharbeiters. Das ergibt sich sowohl aus der Art dieser Tätigkeit als auch aus ihrer tariflichen Eingruppierung. Nach den nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des LSG benötigt der Lokomotivheizer die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Schlossers. Die Tätigkeit wird darüber hinaus als Facharbeit entlohnt. Es handelt sich also um eine Tätigkeit, die zwar von der Schlossertätigkeit verschieden ist, die sich jedoch qualitativ auf derselben Ebene befindet.
Allerdings kann dem LSG nicht darin gefolgt werden, daß der Kläger trotz bestehender gesundheitlicher Fähigkeit zur Verrichtung zumutbarer Arbeiten wegen fehlender Wettbewerbsfähigkeit auf diese Tätigkeiten nicht verwiesen werden könne. Ist ein Versicherter gesundheitlich und nach seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage, eine zumutbare Arbeit vollschichtig zu verrichten, so kann er nicht deshalb berufsunfähig sein, weil die Arbeitgeber bei betriebsfremden Bewerbern im allgemeinen Zweifel an der bestehenden Fähigkeit zur Verrichtung der Tätigkeit haben und daher bei der Vergabe solcher Stellen betriebseigene Bewerber bevorzugen. Bei den in Tarifverträgen aufgeführten Tätigkeiten ist im allgemeinen davon auszugehen, daß sie in nicht unerheblicher Zahl - frei oder besetzt - auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 19, 22, 30). Ist ein Versicherter in der Lage, solche zumutbaren Tätigkeiten zu verrichten, so ist er in der Regel nicht berufsunfähig. Die Zweifel des Arbeitgebers an seinen Fähigkeiten können die Berufsunfähigkeit nicht begründen. Der Umstand, daß die Tätigkeiten im allgemeinen innerbetrieblich vergeben und nicht über das Arbeitsamt vermittelt werden, ändert nichts daran, daß die Frage nach der Erreichbarkeit eines solchen Arbeitsplatzes nicht mit dem Versicherungswagnis der Rentenversicherung, sondern mit dem der Arbeitslosenversicherung zu tun hat.
Gleichwohl hat das Berufungsgericht den Kläger im Ergebnis mit Recht als berufsunfähig angesehen. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG kann der Kläger den Anforderungen der im Berufungsurteil genannten Tätigkeiten nur bei günstiger Arbeitsplatzgestaltung genügen, also nur bei in der Regel nicht üblichen Arbeitsbedingungen. An diese Feststellungen ist der erkennende Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden, denn die Beklagte hat sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen. Die Beklagte macht zwar geltend, die notwendigen Arbeitshilfen - insbesondere die Gestellung eines sogenannten Athrodesenstuhles - würden von der Arbeitsverwaltung oder dem Rentenversicherungsträger im Rahmen berufsfördernder Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Das ändert aber nichts an der Feststellung des LSG, die für den Kläger erforderliche besondere Ausgestaltung des Arbeitsplatzes sei nicht betriebsüblich. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann ein Versicherter nur auf solche Tätigkeiten regelmäßig verwiesen werden, die er unter den in Betrieben üblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 22). Bedarf der Arbeitsplatz einer besonders günstigen, nicht üblichen Ausgestaltung, so fehlt es an der Fähigkeit, die Tätigkeit unter den betriebsüblichen Bedingungen zu verrichten. Ein Versicherter kann auf solche Tätigkeiten daher nur dann verwiesen werden, wenn er einen Arbeitsplatz mit den nichtüblichen Bedingungen innehat oder wenn ihm ein solcher Arbeitsplatz angeboten wird. Das gilt auch dann, wenn die besondere Ausgestaltung des Arbeitsplatzes über berufsfördernde Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit oder des Rentenversicherungsträgers möglich ist. Solange solche berufsfördernden Maßnahmen nicht durchgeführt worden sind, fehlt es an der Fähigkeit des Versicherten, die entsprechende Tätigkeit auszuüben.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen