Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechnung von Rente gegen Rentenversicherungsbeiträge
Leitsatz (amtlich)
Es gibt keinen Satz des Gewohnheitsrechts, daß der Rentenversicherungsträger gegen Ansprüche auf laufende Rente nur bis zu einem Drittel des monatlichen Zahlbetrags aufrechnen darf.
Ebensowenig besteht allgemein eine ständige Verwaltungsübung dieses Inhalts, an welche die Verwaltung sich infolge Selbstbindung ihres Ermessens zu halten hätte.
Leitsatz (redaktionell)
Die Aufrechnung von Renten gegen rückständige Beiträge nach RVO § 1299 (AVG § 78) setzt ebensowenig wie die Aufrechnung nach bürgerlichem Recht einen einheitlichen Schuldgrund für Forderung und Gegenforderung voraus; der Rentenversicherungsträger ist mithin berechtigt, den Anspruch auf Rente auch gegen solche Beiträge aufzurechnen, die der Rentner als früherer Arbeitgeber schuldet.
Normenkette
RVO § 1299 Fassung: 1959-07-23; AVG § 78 Fassung: 1959-07-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Juli 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Zu Beginn des Jahres 1965 hatten die monatlichen Bezüge eine Höhe von 163,80 DM. Hiervon wollte die Beklagte 75,- DM einbehalten. Sie erklärte (Bescheid vom 2. Dezember 1964, Widerspruchsbescheid vom 31. März 1965), daß sie mit einer Beitragsforderung aufrechne, für die der Kläger als Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft (oHG) hafte. Diese oHG, über deren Vermögen ein - inzwischen mangels Masse wieder eingestelltes - Konkursverfahren eröffnet worden war, schuldete der Arbeiterrentenversicherung am 1. Januar 1965 Beiträge in einer Summe von 33.959,92 DM.
Die gegen die Aufrechnung gerichtete Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berechtigung der Aufrechnung aus § 1299 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hergeleitet und die Gegenseitigkeit der Forderungen bejaht. Die Leistungsminderung von 75,- DM monatlich hat es für unbedenklich gehalten; § 1299 RVO lasse dem Ermessen des Versicherungsträgers einen weiten Spielraum.
Der Kläger hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Er beantragt, die vorinstanzlichen Urteile und die Bescheide der Beklagten insoweit aufzuheben, als danach mehr als ein Drittel der laufenden Rente einbehalten werden soll. Der Kläger sieht einen Satz des Gewohnheitsrechts verletzt, der von dem Reichsversicherungsamt (RVA) entwickelt worden sei (AN 1903, 263, 601; 10, 505); demzufolge sei die Aufrechnung nur mit dem dritten Teil der jeweiligen Rente zulässig.
Die Beklagte und die beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist unbegründet. Die Beklagte darf in dem von ihr gewollten Umfang aufrechnen; ein Gewohnheitsrechtssatz steht dem nicht entgegen.
Der Kläger und die Beklagte schulden sich gegenseitig fällige Geldschulden. Die Beitragsforderung, deren Gläubigerin die Beklagte ist, kann gegen den Rentenanspruch zur Aufrechnung gestellt werden (vgl. § 387 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Aus § 1299 RVO folgt, daß der Zugriff auf die Rente wegen "geschuldeter Sozialversicherungsbeiträge" durch Aufrechnung gestattet ist. Damit wird u.a. auf das Gegenseitigkeitsmerkmal hingewiesen: der Berechtigte des Rentenanspruchs muß Beitragsschuldner sein. Im übrigen werden die Beiträge allgemein als zur Aufrechnung geeignet erklärt. Das Gesetz enthält keinen Hinweis dafür, daß es sich um Beiträge handeln muß, die der Versicherte zur eigenen Versicherung schuldig geblieben ist. Beitrags- und Rentenanspruch brauchen mithin nicht aus demselben rechtlichen Verhältnis zu entspringen. Dieses Erfordernis kann nicht etwa daraus hergeleitet werden, daß die Forderungen, die zur wechselseitigen Tilgung verwendet werden, gleichartig sein müssen (§ 387 BGB). Die Gleichartigkeit bezieht sich auf den Inhalt der Leistungen; eine Verschiedenheit des Schuldgrundes steht der Aufrechnung nicht entgegen.
Die Aufrechnungsbefugnis der Beklagten war nicht eingeengt. Die Beklagte hat sich vielmehr innerhalb der Schranken gehalten, die § 1299 RVO mit den Worten "dürfen nur aufgerechnet werden" einleitet. Durch den Gesetzesausspruch, daß der Versicherungsträger sich an dem Leistungsanspruch schadlos halten "darf", wird die rechtliche Zulässigkeit des Handelns bestimmt. Damit ist jedoch weder angeordnet, daß die angeführten Ansprüche stets auf die Versicherungsleistungen angerechnet werden müssen, noch ist näher umrissen, wann die Verwaltung von einem Eingriff in die Rentenberechtigung abzusehen hat. Mit dieser Auffassung harmonieren freilich - wie die Revision zutreffend bemerkt hat - einige ältere Entscheidungen und Bescheide des RVA nicht. Dieses hatte den "Grundsatz aufgestellt", daß von einer laufenden Rente nur ein mäßiger Betrag, etwa ein Drittel des monatlichen Zahlbetrags einbehalten werden dürfe, während der Rest dem Berechtigten zu seinem Unterhalt verbleiben "müsse" (AN 1903, 263 und 601; 1910, 505, 508). Zurückhaltender hatte es jedoch in AN 1901, 179 geheißen, bei Abzügen von der Rente seien die Verhältnisse der Betroffenen möglichst schonend zu berücksichtigen; demgemäß würden wiederkehrende Rentenbeträge "in der Regel" nicht in größerem Umfange als zu einem Drittel zu Gunsten der Versicherungsanstalt zu kürzen sein. Soweit ersichtlich, hat das RVA den "Grundsatz", wenn er überhaupt als strikt verbindlich gedacht gewesen sein sollte, nicht aus dem Gesetz begründet. Er hätte auch, wenn er jegliches, dem Einzelfall angepaßtes Ermessen unterbunden hätte, mit dem Gesetzesrecht nicht in Einklang gebracht werden können. Für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Aufrechenbarkeit nicht, zumindest nicht allgemein, auf einen Bruchteil der Versicherungsleistung vorgesehen. Das verdient um so mehr Beachtung, als im Bereich der Krankenversicherung und der Arbeitslosenversicherung kraft ausdrücklicher Gesetzesvorschriften nur die halbe Leistung einer Aufrechnung zur Verfügung steht (§ 223 Abs. 3 RVO, § 95 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -). In der Verwaltungspraxis der Rentenversicherungsträger ist die von dem RVA angegebene Drittelgrenze auch nicht als ein Rechtsgebot, sondern allenfalls als eine Weisung oder als ein Anhalt, als ein "Soll" (vgl. Hanow/Lehmann, RVO, 4. Buch, 4. Aufl., 1925, Anm. 5 zu § 1324; Allendorff/Haueisen, Angestelltenversicherungsgesetz, 1938, Anm. 2 zu § 50 (§ 1309 RVO); Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl., Anm. 4 zu § 50); Dersch, Das neue Angestelltenversicherungsgesetz, 3. Aufl. 1926, 5 zu § 92; Komm. d. Verb. Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., Anm. 4 zu § 1299 RVO) verstanden und keineswegs einheitlich durchgehalten worden.
Mithin fehlt es bereits an einer längeren tatsächlichen Übung. Nur ein ständiger Verwaltungsbrauch und das Bewußtsein der Rechtsanwendenden und Rechtsunterworfenen, daß dieser Brauch rechtlich zwangsläufig ist, ließen aber an die Existenz eines Gewohnheitsrechtssatzes denken, so wie dieser von der Revision behauptet wird. Hinzu kommt, daß der Weg, den das RVA aufwies, nicht ohne weiteres und gleichermaßen auf alle Aufrechnungsfälle zu erstrecken ist. Selbst dort, wo generell die Aufrechnung ausgeschlossen ist, weil Sozialleistungen ihrem Unterhaltszweck entsprechend unbedingt und sonst ausnahmslos in barem Geld zu erbringen sind, ist der Ausgleich mit Beiträgen, die zur betreffenden Sozialeinrichtung geschuldet werden, erlaubt (vgl. § 394 Satz 2 BGB). Die Verrechnung mit Beitragsrückständen wird strenger beurteilt als beispielsweise die mit früher schuldlos zuviel gezahlten Leistungen (dazu § 1301 RVO). Häufig sind Beiträge auf andere Weise nicht einzuziehen. Ihr Eingang wird aber für die Wirksamkeit der sozialen Institution und für deren ordnungsgemäße Haushaltsführung als besonders wichtig angesehen.
Es bleibt noch zu erörtern, ob das Ermessen der Versicherungsträger bei einer Aufrechnung durch die vom RVA gefaßte Regel gebunden ist. Dies trifft - zumindest in einem verallgemeinernden Sinne - nicht zu. Daß die Aufrechnung, soweit sie in § 1299 RVO an sich eröffnet ist, dem Ermessen der Verwaltung anheimgegeben ist, ergibt sich aus der Entwicklungsgeschichte des Gesetzes. Der Gesetzgeber präzisierte lediglich eine vorangegangene Übung (vgl. Hanow/Lehmann, aaO, Anm. 2 zu § 1324 RVO aF). Wäre nun die Formel des RVA, nur jeweils ein Drittel des Monatsbetrags der Rente einzubehalten, als Weisung einer übergeordneten Behörde an nachgeordnete Stellen zu verstehen gewesen, so folgte daraus noch keine Bindung der Versicherungsanstalten im Verhältnis zu dem betroffenen Staatsbürger. Die Weisung des RVA hätte im Außenverhältnis keine Bindung des Verwaltungsermessens erzeugt, sondern nur Anlaß und Grund für eine Selbstbindung der Verwaltung durch feste, kontinuierlich fortgesetzte Befolgung sein können. Diese Selbstbindung setzte aber voraus, daß gleichliegende Fälle ständig gleichbehandelt worden wären. Daran fehlt es jedoch. Die Ansicht des RVA wurde wohl als Richtschnur empfunden, dies aber nicht einmal überall und nicht bis in die gegenwärtige Nachkriegszeit hinein. Von der Richtschnur wurde und wird weitgehend nach "oben" oder "unten" abgewichen, wenn dies die konkreten Umstände des Einzelfalles angezeigt erscheinen lassen. Daran ist nichts auszusetzen. Der - dem speziellen Sachverhalt angepaßten - Einzelentscheidung wird der Vorzug vor der Befolgung starrer, schematischer Richtlinien gegeben. Demgegenüber bedeutete es einen Rückschritt, wollte man die grobe, abstrakte Richtschnur des RVA absolut setzen und verallgemeinern.
Das Ermessen der Verwaltung ist allerdings an sachlichen Gesichtspunkten zu orientieren. Daran hat sich die Beklagte gehalten. Sie läßt sich, wie die Richtlinien ihrer Geschäftsführung zeigen, von dem Gedanken der Zweckerreichung leiten, indem sie im allgemeinen dem Berechtigten denjenigen Betrag der laufenden Rente beläßt, welcher der in Betracht kommenden Pfändungsfreigrenze oder dem Regelsatz der Sozialhilfe gleichkommt. Das erscheint sinnvoll. Ein fehlsamer Ermessensgebrauch ist es aber auch nicht, wenn die Verwaltung einem Rentenbezieher gegenüber, der ohnehin aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden muß, ihre Kassenbelange stärker beachtet. Dafür, daß die Beklagte bei ihrer Entschließung im gegenwärtigen Falle die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung widersprechenden Weise Gebrauch gemacht hätte, besteht kein Anhalt.
Die Revision ist deshalb mit der auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen