Leitsatz (amtlich)

1. Die Sprungrevision darf nicht zugelassen werden, wenn die Berufung nicht an sich oder kraft Zulassung statthaft ist; eine gleichwohl erfolgte Zulassung ist jedoch für das BSG bindend.

2. Der Empfänger einer Rente aus der RV mußte wissen, daß ihm die Rente nicht zustand, wenn er dies ernsthaft annehmen (damit rechnen) mußte. Hatte die Rente (teilweise) geruht, weil sie mit einem Anspruch auf höhere Verletztenrente zusammentraf, so bedurfte es nicht des Wissens um einen Erhöhungsbescheid des Unfallversicherungsträgers.

 

Normenkette

SGG § 150 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs. 2 Fassung: 1974-07-30, Abs. 3 Fassung: 1974-07-30, § 161 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30, Abs. 2 S. 2 Fassung: 1974-07-30; RVO § 1278 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1301 Fassung: 1965-06-09; AVG § 55 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 80 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

SG Speyer (Entscheidung vom 06.05.1976; Aktenzeichen S 12 A 153/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 6. Mai 1976 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger bezieht seit 1953 Rente aus der Angestelltenversicherung, ursprünglich wegen Berufsunfähigkeit (BU), seit 1957 wegen Erwerbsunfähigkeit (EU - vgl. Art. 2 § 37 Abs 2 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz - AnVNG), und daneben wegen eines 1940 erlittenen Unfalls eine Dauerrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Auf seinen Antrag vom Mai 1973 stellte der UV-Träger die Rente durch Bescheid vom 21. August 1973 mit Wirkung vom 14. Mai 1973 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. statt bisher 70 v.H. neu fest; dabei erhöhte sie sich von 628,- DM auf 718,70 DM.

Daraufhin berechnete die Beklagte durch Bescheid vom 20. November 1973 auf Grund des § 55 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) die EU-Rente neu; sie stellte fest, daß dem Kläger vom 14. Mai bis 30. Juni 1973 statt 653,70 DM monatlich nur 563,80 DM und vom 1. Juli 1973 statt 799,10 DM monatlich nur 709,20 DM zu zahlen seien; im Unterschiedsbetrag ruhe die EU-Rente. Zugleich forderte die Beklagte die Überzahlung in Höhe von 771,40 DM vom Kläger im Wege einer Aufrechnung in Monatsraten zu je 100,- DM zurück. Der vom Kläger erhobene Widerspruch wurde zurückgewiesen.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) den Bescheid der Beklagten insoweit aufgehoben, als darin für die Zeit vom 14. Mai bis 31. August 1973 eine Überzahlung festgestellt und diese vom Kläger zurückgefordert wird. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei nach § 80 AVG nicht zur Rückzahlung von Beträgen verpflichtet, die er von der Beklagten vor Zugang des Erhöhungsbescheides des UV-Trägers erhalten habe; erst von da an sei er "bösgläubig" geworden. Ein Wissen oder Wissenmüssen, daß die Leistung (EU-Rente) nicht in der gewährten Höhe zustehe, setze nämlich ein Wissenkönnen voraus; daran habe es vor dem Zugang des Erhöhungsbescheides des UV-Trägers gefehlt. Entgegen der vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 24. Juni 1971 (BSG 33, 36) vertretenen Ansicht sei eine erweiternde Auslegung nicht zulässig; die Überzeugung, daß eine erstrebte Leistung zustehe, komme einem Wissen oder Wissenmüssen i.S. des § 80 AVG nicht gleich; zudem könne eine solche Überzeugung nicht bereits aus dem Erhöhungsantrag entnommen werden.

Das SG hat die Sprungrevision zugelassen. Die Beklagte hat mit Zustimmung des Klägers dieses Rechtsmittel eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung von § 80 AVG. Der Kläger sei wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, daß er jede Veränderung seiner Unfallrente mitteilen müsse. Daraus habe er folgern müssen, daß ihm bei Erhöhung der Unfallrente die EU-Rente nicht mehr in der bisherigen Höhe zustehe.

Der Kläger beantragt

die Zurückweisung der Sprungrevision.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig.

Es fragt sich zwar, ob eine zulässige Sprungrevision voraussetzt, daß auch die Berufung zulässig (statthaft) gewesen ist. Darauf muß hier deshalb eingegangen werden, weil die Berufung im vorliegenden Falle nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an sich ausgeschlossen war. Das SG hat nur über die Rückforderung der Beklagten entschieden; es hat - trotz seines irreführenden Tenors (Aufhebung der Feststellung einer Überzahlung) - offensichtlich nicht entscheiden wollen, daß schon die Feststellung des Rentenruhens (ganz oder teilweise) unberechtigt war. Nach § 149 SGG ist die Berufung bei Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen ausgeschlossen, wenn der Beschwerdewert 1000,- DM nicht übersteigt; hier war er geringer.

Eine nach den §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossene Berufung ist allerdings gleichwohl statthaft, wenn einer der in § 150 SGG genannten Ausnahmetatbestände vorliegt. Nach Nr. 1 der Vorschrift ist das der Fall, wenn das SG die Berufung im Urteil zugelassen hat. Hierzu ist es (u.a.) verpflichtet, "wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn das Urteil von einer Entscheidung ... des Bundessozialgerichts oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht und auf dieser Abweichung beruht". Wenn und nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist aber auch für die Zulassung der Sprungrevision Raum und das SG hierzu verpflichtet (§ 161 Abs 2 Satz 1 iVm § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG). Demnach dürfte es in der Sozialgerichtsbarkeit keinen Fall geben, in dem eine Sprungrevision statthaft sein könnte, eine Berufung aber nicht. Die Frage, ob eine zulässige Sprungrevision eine zulässige Berufung voraussetzt, kann somit nur bedeutsam werden, wenn ein SG eine an sich ausgeschlossene Berufung zu Unrecht nicht zugelassen hat. Gerade das ist hier geschehen; das SG hat die Berufung nicht zugelassen, obwohl es sie zulassen mußte, wenn es die Voraussetzungen für die Zulassung der Sprungrevision bejahte.

Dennoch konnte im vorliegenden Fall die Berufung noch nach § 150 Nr 2 SGG statthaft werden, wenn die Beklagte einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens hätte rügen können. Ob sie dazu imstande gewesen wäre, kann jedoch ungeprüft bleiben, weil es für die Zulässigkeit der vorliegenden Sprungrevision darauf letztlich nicht ankommt.

Hierbei kann der erkennende Senat zwar nicht der vom 5. Senat des BSG in seinem Urteil vom 23. November 1976 - 5 RKn 34/75 - (SozR 1500 § 161 Nr 11) vertretenen Ansicht folgen, daß der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Sprungrevision nach § 161 SGG überhaupt nicht von einer Zulässigkeit der Berufung habe abhängig machen wollen. Dagegen spricht nicht nur die Formulierung in § 161 Abs 1 SGG "unter Übergehung der Berufungsinstanz" und die Regelung in § 161 Abs 3 SGG über den "neuen Lauf der Berufungsfrist", sondern auch der Sinn und Zweck der Sprungrevision; sie soll den Weg zum Revisionsgericht abkürzen, nicht aber ein Mittel zur Anfechtung eines sonst einer sachlichen Nachprüfung durch eine höhere Instanz entzogenen Urteils bieten.

Der erkennende Senat ist vielmehr der Meinung, daß die Sprungrevision nur zugelassen werden darf, wenn die Berufung entweder schon nach den §§ 144 bis 149 SGG nicht ausgeschlossen ist oder zwar ausgeschlossen, aber ausnahmsweise nach § 150 Nr 1 SGG kraft Zulassung statthaft ist. Das SG hätte daher die Sprungrevision hier nur zulassen dürfen, wenn es auch die Berufung zuließ. Wenn es gleichwohl allein die Sprungrevision zugelassen hat, kann diese Zulassung aber deswegen nicht als unwirksam angesehen werden. Der Gesetzgeber hat in § 161 Abs 2 Satz 2 SGG bestimmt, daß das BSG "an die Zulassung gebunden" ist. Die Rechtsprechung des BSG (vgl. dazu jedoch Goedelt, Die Sozialversicherung 1977, S. 57) hat freilich eine solche Bindung bei formellen Mängeln (zB falsche Besetzung; vgl auch SozR 1500 § 161 Nr 12) nicht gelten lassen. Um einen solchen Mangel handelt es sich hier nicht; hier ist eine sachliche Voraussetzung der Zulassung nicht beachtet worden. Auch vom Ergebnis her rechtfertigt sich die Bindung des Revisionsgerichts an die Zulassung der Sprungrevision im vorliegenden Fall. Wenn ein SG nur ein Rechtsmittel zuläßt, obwohl es zwei zulassen mußte, dann läßt sich nicht einsehen, warum allein deswegen auch das einzig zugelassene Rechtsmittel als unstatthaft gelten sollte.

Soweit der Senat mit dieser Auffassung von der des 5. Senats im Urteil vom 23. November 1976 abweicht, ist er nicht zur Anrufung des Großen Senats nach § 42 SGG verpflichtet, weil beide Auffassungen hier zum gleichen Ergebnis kommen. Keinen Einfluß auf die Zulässigkeit der Sprungrevision der Beklagten hat schließlich, daß der Sprungrevision nur eine Fotokopie der Durchschrift einer Zustimmungserklärung beigefügt war. Dem Erfordernis der Beifügung der Zustimmungserklärung genügt die Beifügung einer Fotokopie (SozR Nr 17 zu § 161 SGG). Die Fotokopie ist hier freilich von einem als Durchschrift gekennzeichneten Schriftstück genommen worden; dieses (die Durchschrift) ist jedoch ebenfalls mit der Unterschrift des damaligen Prozeßbevollmächtigten des Klägers versehen gewesen; es genügt auch inhaltlich den Erfordernissen, die an eine Zustimmungserklärung zu stellen sind.

In der Sache hat die Revision insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen war.

Wie schon (unter II) hervorgehoben, ist nur die Rückforderung im Streit; die Feststellung des teilweisen Ruhens der EU-Rente ist vom SG nicht aufgehoben worden. Das bedeutet, daß die EU-Rente für die noch streitige Zeit vom 14. Mai bis 31. August 1973 in dem von der Beklagten festgestellten Umfang zu Unrecht gezahlt und damit "überzahlt" worden ist. Das SG durfte daher nicht den Bescheid der Beklagten hinsichtlich der Feststellung der Überzahlung aufheben.

Die Rückforderung überzahlter Leistungen ist in § 80 AVG geregelt. Nach dessen Satz 2 darf die Beklagte eine zu Unrecht gezahlte Leistung nur zurückfordern, wenn sie für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist.

Das SG hat verneint, daß der Kläger bei Empfang der EU-Rente wußte oder wissen mußte, daß sie ihm nicht in der gewährten Höhe zustand. Die von ihm getroffenen Feststellungen rechtfertigen die Verneinung dieses Tatbestandes jedoch nicht.

Dem SG ist darin zuzustimmen, daß es nach dem Gesetzeswortlaut auf das Wissen oder Wissenmüssen im Zeitpunkt des Empfangs der EU-Rente ankommt, hier also auf das Wissen oder Wissenmüssen des Klägers, als er in der Zeit vom 14. Mai bis 31. August 1973 jeweils die EU-Rente ausgezahlt erhielt. Zu Unrecht meint das SG jedoch, daß der Kläger noch zu keinem dieser Zeitpunkte habe wissen können, daß ihm die EU-Rente nicht mehr in der gewährten Höhe zustand.

Nach § 55 Abs 1 AVG ruht eine EU-Rente aus der Angestelltenversicherung in dem dort bezeichneten Umfang, wenn sie mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammentrifft. Wie der 5. Senat des BSG bereits dargelegt hat (BSGE 33, 234, 236; vgl. auch BSG 33, 36 sowie SozR Nrn 11 und 15 zu § 1301 RVO) treffen die Renten nicht erst dann zusammen, wenn sie durch Bescheid festgestellt sind, sondern schon dann, wenn die entsprechenden materiellen Ansprüche bestehen. In der Zeit vom 14. Mai bis 31. August 1973 hatte der Kläger aber bereits einen Anspruch auf eine höhere, nach einer MdE von 80 v.H. berechnete Unfallrente. Dementsprechend ruhte die EU-Rente (teilweise) schon damals, weil schon damals die EU-Rente mit einer höheren Verletztenrente, d.h. mit einem Anspruch auf höhere Verletztenrente zusammentraf. Dieses Ruhen trat nach ständiger Rechtsprechung unmittelbar kraft Gesetzes ein (BSGE 20, 161, 164; SozR Nr 12 zu § 1301 RVO); es bedurfte nicht erst einer entsprechenden Feststellung durch die Beklagte.

Hiernach bestand aber schon vor dem Erhöhungsbescheid des UV-Trägers für den Kläger durchaus die Möglichkeit zu wissen, daß ihm die EU-Rente nicht in der gewährten Höhe mehr zustand. Dazu gehörte das Wissen, daß er einen Anspruch auf eine höhere Unfallrente besaß und daß deswegen seine EU-Rente ruhte. Ein Wissen um einen Erhöhungsbescheid war nicht erforderlich.

Von seinem sonach unzutreffenden Ausgangspunkt her hat das SG keine zu einer abschließenden Beurteilung dieser Rückforderungsvoraussetzung ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Das angefochtene Urteil muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden, wobei dem Senat eine Zurückverweisung an das Landessozialgericht (LSG) angebracht erschien (§ 170 Abs 4 SGG).

Soweit sich das LSG dabei erneut mit der erörterten Rückforderungsvoraussetzung befaßt, dürfte kaum zu erwarten sein, daß es beim Kläger ein Wissen um das teilweise Nichtzustehen der EU-Rente feststellen wird. Es wird daher darauf ankommen, ob der Kläger darum "wissen mußte". Hier würde es jedoch eine Überspannung der an dieses Tatbestandsmerkmal zu stellenden Anforderungen bedeuten, Überlegungen zu verlangen, die zu einem sicheren Wissen führen müßten. Das ist bei der Mehrzahl der Versicherten illusorisch. Es muß genügen - und das ist auch in der bisherigen Rechtsprechung, z.T. mit anderen Worten, zum Ausdruck gekommen -, daß der Empfänger ernsthaft annehmen (damit rechnen) mußte, die Rente aus der Rentenversicherung stehe ihm ganz oder teilweise nicht mehr zu.

Dabei wäre bei einem Versicherten, der eine höhere Unfallrente beantragt, in aller Regel davon auszugehen, daß er auch angenommen (damit gerechnet) hat, einen Anspruch darauf zu haben. Entscheidend ist daher wohl, ob der Kläger ferner annehmen mußte, daß die höhere Unfallrente ganz oder teilweise ein Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung, d.h. eine Minderung des auszuzahlenden Rentenbetrages bewirkt. Dafür können Hinweise der Beklagten auf Mitteilungspflichten, sonstige Belehrungen, erst recht aber ein schon bisheriges teilweises Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung bedeutsam sein. Je nach dem Ergebnis seiner Feststellungen wird das LSG ferner zu prüfen haben, ob die übrigen Rückforderungsvoraussetzungen vorliegen und ob die Beklagte von dem ihr in § 80 Satz 1 AVG eingeräumten Ermessen rechtmäßig Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG).

Bei seiner Entscheidung hat das LSG schließlich über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzubefinden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1650906

DVBl. 1979, 89

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