Entscheidungsstichwort (Thema)
BU. Facharbeiter
Orientierungssatz
Zur Frage, auf welche Tätigkeiten ein Maurer ohne Lehrabschluß, der einem gelernten Maurer gleichzustellen ist, zumutbar verwiesen werden kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 25.07.1977; Aktenzeichen L 2 J 75/76) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 30.01.1976; Aktenzeichen S 6 J 266/75) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. Juli 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der im Jahre 1933 geborene Kläger war von 1948 bis 1951 Maurerlehrling, legte jedoch danach eine Prüfung in dem Handwerk nicht ab. Anschließend war er bis zur gesundheitlich bedingten Aufgabe der Berufstätigkeit im Jahre 1974 - er hatte sich 1973 einer Magenresektion nach Billroth II unterzogen - mit Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und saisonbedingter Arbeitslosigkeit als Maurer beschäftigt.
Den Rentenantrag des Klägers vom 9. April 1975 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Mai 1975 ab, weil der Kläger weder berufs- noch erwerbsunfähig sei. Die dagegen gerichtete Klage sowie die Berufung hatten keinen Erfolg.
Zur Begründung seiner Entscheidung vom 25. Juli 1977 hat das Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen ausgeführt: Unzweifelhaft könne der Kläger seit der Arbeitsunfähigkeit ab Oktober 1974 nicht mehr im Baugewerbe als Maurer eingesetzt werden. Er sei jedoch noch in der Lage, mindestens leichte körperliche Ganztagstätigkeiten mit einfachen Handbewegungen im Sitzen, Stehen oder Gehen sowie im Wechsel zwischen diesen Körperhaltungen zu verrichten. Obwohl er die Gesellenprüfung nicht abgelegt habe, stehe er mit dem Beruf eines Maurers auf der Stufe eines Facharbeiters unter Versicherungsschutz. Im Rahmen der Berufsunfähigkeit sei bei der Verweisung dieses Personenkreises nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vor allem an das weite Feld der Revisions- und Überwachungsarbeiten, der Anlagenkontrollen, der Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten, der mechanisierten Produktionsarbeiten mit Bedienung von Apparaten und dergleichen, an die Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers, Schalttafel- oder Apparatewärters sowie eines "einfachen" Maschinisten und ähnliche Tätigkeiten zu denken. Für das LSG bestehe kein Grund, daran zu zweifeln, daß der Kläger nach seiner beruflichen und persönlichen Qualifikation in eine der beispielhaft erwähnten Tätigkeiten vermittelt werden könne, wenn ein entsprechender Arbeitsplatz frei wäre. Nach Ansicht des Arbeitsamtes sei der Kläger sogar für eine Umschulung zum Informationselektriker geeignet. Es betrachte ihn als jemanden, der für eine Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe, namentlich in der holz- und kunststoffverarbeitenden Industrie, in welcher er einen Stundenlohn von 7,90 DM erzielen könne. Nach der örtlichen Arbeitsmarktlage könne die behauptete Berufsunfähigkeit nicht beurteilt werden. Räumlicher Verweisungsbereich sei das gesamte Bundesgebiet einschließlich West-Berlin. Die Annahme, niemals und nirgendwo mehr eine seinem restlichen Leistungsvermögen sowie seiner Berufsqualifikation angepaßte Arbeitsstelle finden zu können, lasse sich nicht überzeugend begründen.
Der Kläger hat das Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er ist der Ansicht, eine so generelle und abstrakte Verweisung eines Facharbeiters sei bisher von der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht als zulässig angesehen worden. Stets sei eine sorgfältige Prüfung erforderlich, ob der betreffende Versicherte sich für die in Betracht zu ziehenden Verweisungstätigkeiten eigne, also von seinem Wissen, seinem beruflichen Können und dem noch vorhandenen Leistungsvermögen her dazu in der Lage sei. Werde ein berufsfremder Einsatz in Erwägung gezogen, so müßten für jede Tätigkeit die erforderlichen Anforderungen sowie die üblichen Arbeitsbedingungen festgestellt werden. Das LSG habe sich über diese entscheidungserheblichen Fragen keine Gedanken gemacht. Es unterstelle, der Kläger könne nach seiner beruflichen und persönlichen Qualifikation in eine der im Urteil beispielhaft erwähnten Tätigkeiten vermittelt werden. Hinsichtlich der Grenzen zulässiger Verweisbarkeit habe das LSG die neuere Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht beachtet. Es hätte prüfen müssen, welche tarifliche Bewertung die als zumutbar in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten haben. Das sei nicht geschehen. Auf eine solche Tatsachenfeststellung könne nicht verzichtet werden, weil es keinen gültigen allgemeinen Erfahrungssatz gebe, "einfache" Maschinisten-, Revisions-, Kontroll- und Überwachungstätigkeiten sowie Apparatebedienungen würden allesamt mindestens wie angelernte Berufe tariflich bewertet. Das LSG habe weder mitgeteilt, von welchen beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Qualitäten des Klägers es bei seiner Überzeugung, dieser könne noch zumutbare Verweisungstätigkeiten ausüben, ausgegangen sei, noch welche Anforderungen an diese Tätigkeiten gestellt würden. Das Urteil beruhe auf einer Verletzung des § 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn mit den Beteiligten sei nicht erörtert worden, welche beruflichen Anforderungen an die Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers usw gestellt würden und unter welchen Bedingungen eine derartige Arbeit verrichtet werde.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 30. Januar 1976 sowie den Bescheid vom 22. Mai 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. April 1975 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 25. Juli 1977 zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend. Das Gericht habe den beruflichen Verweisungsbereich des Klägers richtig beurteilt. Es habe konkret die für den Kläger in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten aufgeführt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger in seiner beruflichen Qualifikation einem gelernten Maurer gleichzustellen ist. Von diesem Beruf hat er sich nicht gelöst, er kann ihn vielmehr aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Zur Verweisung eines Facharbeiters hat sich der erkennende Senat in einem gleichgelagerten Fall, der ebenfalls eine Entscheidung des erkennenden Senats beim LSG betrifft, im Urteil vom 31. Mai 1978 (5 RJ 28/77) geäußert. Danach sind dem Kläger nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nur solche Tätigkeiten zuzumuten, die entweder zu den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gehören oder aber wegen der ihnen anhaftenden Qualitätsmerkmale aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten herausragen und insoweit wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet werden, was am zuverlässigsten aus der tariflichen Eingruppierung erkennbar ist (vgl insbesondere SozR 2200 Nrn 11, 16, 17 und 21 zu § 1246). Ob die vom Berufungsgericht genannten Tätigkeiten (Revisions- und Überwachungsarbeiten, Anlagenkontrolle, Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten, mechanisierte Produktionsarbeiten mittels Bedienen von Apparaten, Verwieger, Tafelführer, Apparatewärter und einfache Maschinisten) diese Voraussetzungen erfüllen, geht aus dem angefochtenen Urteil nicht hervor, denn es enthält keinerlei Feststellungen zu den Qualitätsmerkmalen dieser Tätigkeiten und zu ihrer tariflichen Einstufung.
Darüber hinaus läßt das angefochtene Urteil die Feststellung vermissen, welche der genannten Tätigkeiten der Kläger gesundheitlich sowie nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten noch verrichten kann. Das LSG hat lediglich ausgeführt, es zweifele nicht daran, daß der Kläger nach seiner beruflichen und persönlichen Qualifikation in eine der beispielhaft erwähnten Tätigkeiten vermittelt werden könne, wenn ein entsprechender Arbeitsplatz frei wäre. Welche Tätigkeit das aber konkret ist, geht aus dem Urteil nicht hervor. Grundsätzlich hat das Tatsachengericht festzustellen, welche konkret zu bezeichnende Tätigkeiten der Versicherte noch ausüben kann, weil gerade die Versicherungsfälle der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit im Wegfall oder in der wesentlichen Einschränkung der individuellen - konkreten - Erwerbsfähigkeit bestehen. Dies kann aber nur an konkret zu bezeichnenden Tätigkeiten gemessen werden (so auch Urteil des 4. Senats des BSG vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77).
Das LSG wird die erforderlichen Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben. Dabei ist - wie der Senats bereits in seiner Entscheidung vom 31. Mai 1978 aaO ausgeführt hat - zu beachten, daß insbesondere die genannten Revisions- und Überwachungsarbeiten unterschiedlicher Art sein können. Solche Tätigkeiten einfacher Art, die auch ohne Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden können, kommen als Verweisungstätigkeiten nur dann in Betracht, wenn ihre Bedeutung durch andere Merkmale wie zB Verantwortungsbewußtsein, Zuverlässigkeit, Wendigkeit usw so hervorgehoben sind, daß sie den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gleichstehen und ebenso wie diese tariflich eingestuft sind. Soweit es sich um Revisions- und Überwachungsarbeiten höherer Art handelt, wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mitbringt.
Auf die somit begründete Revision des Klägers mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das LSG zurückverwiesen werden. Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangen, daß es für den Kläger im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbare Vollzeittätigkeiten gibt, so kann auf diese die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zur Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewendet werden (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 19 und Nr 22).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen