Entscheidungsstichwort (Thema)
Widerspruchsverfahren. Beratungspflicht. Optimierungsberechnung. Herstellungsanspruch. Aufstockung von Beiträgen
Orientierungssatz
1. Bei der Ablehnung einer Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG (= Art 2 § 51a ArVNG) handelt es sich um keinen der Fälle, in denen nach § 78 Abs 1 S 2 und Abs 2 SGG ein Vorverfahren entbehrlich ist.
2. Bei dem immer komplizierter werdenden Sozialversicherungssystem und dem Fehlen anderer geeigneter Beratungsmöglichkeiten kommt den Beratungspflichten der Versicherungsträger eine zentrale Rolle für das Funktionieren der Systeme der sozialen Sicherung zu (vgl BSG 1984-02-28 12 RK 31/83).
3. Die Beratung muß umfassend sein und sich zumindest auf die Fragen erstrecken, die sich unmittelbar aufdrängen. Dazu gehört auch, daß die Behörde im Rahmen der Beratung versucht, die maßgeblichen Fakten und Daten zu ergründen, und ihrerseits Fragen an den Bürger stellt, weil auch das Erkennen der maßgeblichen Umstände und Fragestellungen Sachkunde voraussetzt.
4. Auch wenn man die Verpflichtung zu einer Optimierungsberechnung verneint, besteht doch die Pflicht, einen Rat zu geben, der möglichst nahe an die günstigste Verwendung der Beiträge herankommt.
5. Zur Aufstockung bereits entrichteter Beiträge im Wege des Herstellungsanspruchs (vgl BSG 1979-10-12 12 RK 47/77 = BSGE 49, 76).
Normenkette
AnVNG Art 2 § 49a Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Fassung: 1972-10-16; SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11; SGG § 78 Abs 1 S 2 Fassung: 1974-07-30; SGG § 78 Abs 2 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 04.11.1981; Aktenzeichen III ANBf 1/81) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 24.11.1980; Aktenzeichen 10 AN 175/80) |
Tatbestand
Der Kläger erstrebt eine nachträgliche Aufstockung der von ihm im Wege der Nachentrichtung nach Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) entrichteten freiwilligen Beiträge aufgrund eines Herstellungsanspruchs. Er macht geltend, mangelhaft beraten worden zu sein.
Der Kläger beantragte am 12. November 1975 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Zulassung zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG. Er bot dabei für die Jahre 1956 bis 1962 Beiträge der Klasse 400, für die Jahre 1963 bis 1968 Beiträge der Klasse 600 und für das Jahr 1972 Beiträge der Klasse 800 an. Die BfA entsprach diesem Antrag (Bescheid vom 6. Dezember 1976). Der Kläger zahlte die Beiträge (Gesamtbetrag 13.716 DM) bis März 1978 ein.
Nachdem die Versicherungsunterlagen des Klägers wegen einer von ihm zurückgelegten Seefahrtzeit zuständigkeitshalber an die Beklagte abgegeben worden waren, erteilte diese ihm am 14. April 1979 eine schriftliche Rentenauskunft. Daraufhin stellte der Kläger am 3. Juli 1979 den Antrag, die für die Jahre 1956 bis 1962 in der Klasse 400 entrichteten Beiträge auf Klasse 600 aufstocken zu dürfen. Er begründete dies damit, daß die vorgenommene Beitragsentrichtung für ihn ungünstig gewesen sei. Dies beruhe auf einer falschen Auskunft "der LVA". Im Klageverfahren hat er dazu ergänzend angegeben, er habe im November 1975 auf dem Gelände der Landesversicherungsanstalt (LVA) in Hamburg einen Beratungsbus der BfA besucht, um sich informieren zu lassen. Man habe ihm dort empfohlen, er solle am besten mittlere Beiträge wählen. Aus der Informationsschrift "Geld = Rente" habe er dann entnommen, daß für die Jahre 1956 bis 1962 die Beitragsklasse 400 in der Mitte gelegen habe. Die ungünstigen Folgen der Wahl dieser Beitragsklasse (Senkung der Bemessungsgrundlage) habe er erst aus der Rentenauskunft vom 14. April 1979 entnehmen können.
Die Beklagte lehnte den Aufstockungsantrag ab (Bescheid vom 24. März 1980). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Hamburg -SG- vom 24. November 1980; Urteil des Landessozialgerichts Hamburg -LSG- vom 4. November 1981).
Das LSG hat die Auffassung vertreten, eine Aufstockung sei rechtlich nicht zulässig. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch sei zwar zu erwägen, wenn ein Versicherungsträger den Versicherten mangelhaft beraten habe. Dabei müsse es sich nicht notwendig um den später angegangenen Versicherungsträger gehandelt haben, weil dieser gegebenenfalls für das Verhalten einer anderen Behörde einzustehen habe. Eine besondere Pflicht zur Beratung habe indes hier nicht bestanden; denn ein Versicherter sei nur auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage lägen und deren Wahrnehmung offenbar so zweckmäßig sei, daß jeder Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde. Im vorliegenden Fall lasse sich gerade nicht feststellen, daß die durchgeführte Beitragsnachentrichtung offensichtlich unzweckmäßig war. Trotz Senkung der Rentenbemessungsgrundlage des Klägers von 85,56 % auf 85,08 % sei der Aufwand von 13.716 DM bei einer jährlichen Rentensteigerung von 3.426 DM als außerordentlich gewinnträchtig anzusehen. Eine Beratungspflicht hätte unter diesen Voraussetzungen nur bestanden, wenn der Kläger bei dem Besuch des Beratungsbusses die Frage der Rentabilität der nachzuentrichtenden Beiträge selbst angesprochen und damit Veranlassung für eine Beratung in dieser Richtung gegeben hätte. Dies wäre erforderlich gewesen, weil ein Versicherungsträger grundsätzlich nicht von Amts wegen zu beraten habe und dies auch dann gelte, wenn er allgemein um Rat gefragt werde, ohne daß deutlich werde, worauf sich die Beratung im einzelnen erstrecken solle. Wegen der Vielzahl der Gestaltungsmöglichkeiten, die bei einer Nachentrichtung entstünden und zwischen denen der Versicherte zu wählen habe, müsse für den Versicherungsträger in einem solchen Fall jedenfalls erkennbar sein, worum es dem Versicherten tatsächlich gehe. Dies gelte umso mehr, als es bei einer Beitragsnachentrichtung erfahrungsgemäß vielen Versicherten nur darum zu tun sei, Beitragslücken zu füllen. Unter diesen Umständen könne von einem um Rat nachsuchenden Versicherten verlangt werden, daß er sein Anliegen möglichst klar und deutlich zum Ausdruck bringe. Dies liege auch in seinem Interesse, weil er es dadurch selbst in der Hand habe, dafür zu sorgen, daß sich die Beratung auf alle ihn interessierenden Fragen erstrecke. Daß hier dem beratenden Versicherungsträger erkennbar gewesen sei, der Kläger habe die höchstmögliche Rendite oder doch eine besonders gute Verzinsung seines Kapitaleinsatzes erreichen wollen, lasse sich nicht einmal seinen eigenen Angaben entnehmen. Es bleibe danach möglich, daß dieser Gedanke ihm erst später gekommen sei. Aber auch, wenn er eine Beitragsnachentrichtung mit größerem finanziellen Einsatz schon bei der Beratung im Herbst 1975 in Erwägung gezogen haben sollte, wäre eine solche Erwägung unbedeutend, weil sie damals nicht feststellbar zum Ausdruck gebracht worden sei. Im übrigen sei aus den äußeren Umständen einer solchen "Beratung" für jeden Besucher erkennbar gewesen, daß etwaige Auskünfte nicht verbindlich seien, sondern eine wirkliche Beratung nur vorbereiten könnten.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, die BfA sei seinerzeit verpflichtet gewesen, ihn umfassend, bezogen auf seine ganz konkrete Situation, zu beraten, um ihn in die Lage zu versetzen, darüber zu entscheiden, welche Lösung für ihn am günstigsten sei und welche er wählen solle. Es liege auf der Hand, daß ein Ratsuchender daran interessiert sei, die Voraussetzungen einer optimalen Nachentrichtung zu erfahren. Einer gezielten Frage bedürfe es deshalb insoweit nicht.
Der Kläger erweitert seinen Antrag gegenüber dem Antrag in der Vorinstanz und macht Ausführungen dazu, daß es sich hier nicht um eine Klageänderung handele.
Der Kläger beantragt, 1. die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 24. März 1980 aufzuheben,
2. die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 6. Dezember 1976 zu verurteilen, ihm für die Zeiten vom 1. Januar 1956 bis zum 31. August 1956 und vom 1. November 1956 bis zum 31. März 1968, vom 1. Januar 1972 bis zum 31. Juli 1972 die Beitragsnachentrichtung von Höchstbeiträgen zu gestatten, hilfsweise, ihm jeweils für die genannten Zeiträume bis zum 31. Dezember 1958 die Beitragsnachentrichtung von Beiträgen der Klasse 600 und danach bis zum 31. März 1968 der Klasse 800 zu gestatten, hilfsweise, ihm für die Zeiten vom 1. Januar 1956 bis zum 31. August 1956 und vom 1. November 1956 bis zum 31. Dezember 1962 die Beitragsnachentrichtung von Höchstbeiträgen anstelle von Beiträgen der Klasse 400 zu gestatten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil und weist darüber hinaus darauf hin, daß der Versicherungsträger nicht zur Optimierungsberechnung verpflichtet sei. Er beruft sich dazu auf das Urteil des BSG vom 12. November 1980 - 1 RA 45/79 -.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Zurückverweisung ist schon deshalb geboten, weil das gesetzlich vorgeschriebene Widerspruchsverfahren (§ 78 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) nicht durchgeführt worden ist und noch nachgeholt werden muß. In der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides ist zwar der Hinweis enthalten, daß wahlweise Widerspruch eingelegt oder Klage erhoben werden könne. Diese Rechtsmittelbelehrung ist aber unrichtig. Bei der Ablehnung einer Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG handelt es sich um keinen der Fälle, in denen nach § 78 Abs 1 Satz 2 und Abs 2 SGG ein Vorverfahren entbehrlich ist. Insbesondere handelt es sich hier nicht um einen Verwaltungsakt über eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, sondern um einen Verwaltungsakt über die Zulassung zur Beitragsentrichtung. Es ist nicht über einen Antrag zur Erhöhung der Rente, sondern über einen Antrag auf Aufstockung von Beiträgen entschieden worden.
Falls der Widerspruchsbescheid dem Begehren des Klägers nicht entsprechen sollte, wird das LSG bei seiner Entscheidung in der Sache die neuere Rechtsprechung zur Beratungspflicht in seine Überlegungen einbeziehen müssen. Der erkennende Senat hat mehrfach entschieden, daß bei dem immer komplizierter werdenden Sozialversicherungssystem und dem Fehlen anderer geeigneter Beratungsmöglichkeiten den Beratungspflichten der Versicherungsträger eine zentrale Rolle für das Funktionieren der Systeme der sozialen Sicherung zukommt (zuletzt Urteil vom 28. Februar 1984 - 12 RK 31/83 - mwN; s auch BSG SozR 4100 § 44 Nr 9 und SozR 1200 § 14 Nr 11). Dabei ist auch hervorgehoben worden, daß die Beratung umfassend sein und sich zumindest auf die Fragen erstrecken muß, die sich unmittelbar aufdrängen. Dazu gehört auch, daß die Behörde im Rahmen der Beratung versucht, die maßgeblichen Fakten und Daten zu ergründen, und ihrerseits Fragen an den Bürger stellt, weil auch das Erkennen der maßgeblichen Umstände und Fragestellungen Sachkunde voraussetzt.
Der Senat hat ferner entschieden, daß die Beratungspflicht nicht durch aktuelle Zeitnot oder Überlastung begrenzt wird, die Behörde vielmehr in solchen Fällen verpflichtet ist, auf die in der aktuellen Situation begrenzte Beratungsmöglichkeit hinzuweisen sowie den Bürger auf den Weg der schriftlichen Anfrage oder auf einen neuen Beratungstermin zu verweisen (BSG SozR 1200 § 14 Nr 11).
Bezogen auf den vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, daß bei Personen, die um Beratung über Nachentrichtungsfragen nachsuchen, Zeitraum sowie Höhe der Beiträge in der Regel die zentralen Fragen sind, die sich stellen. Es liegt deshalb nahe, daß sich eine Beratung grundsätzlich vor allem auf diese beiden Punkte beziehen muß. Ferner drängt sich auf, daß jeder, der nachentrichten will, dies in einer Weise tun möchte, die für ihn möglichst günstig ist. Auch wenn man die Verpflichtung zu einer Optimierungsberechnung verneint, besteht doch die Pflicht, einen Rat zu geben, der möglichst nahe an die günstigste Verwendung der Beiträge herankommt.
Soweit dies in der aktuellen Situation nicht möglich war, wäre zu erwägen, ob die Beklagte nicht verpflichtet war, den Kläger darauf hinzuweisen, einen Kontenauszug zu beantragen, später erneut zur Beratung zu erscheinen und in der Zwischenzeit vorsorglich einen unspezifizierten Nachentrichtungsantrag zu stellen.
Diese Überlegungen könnten dazu führen, daß es entscheidungserheblich war, ob der Kläger im Herbst 1975 tatsächlich zu einer Beratung im Beratungsbus der BfA vorgesprochen hat und welcher Rat ihm damals gegeben worden ist. Hierzu und zu der Frage, ob eine unterlassene oder mangelhafte Beratung damals dafür ursächlich gewesen ist, daß der Kläger keine höhere Beitragsklasse gewählt hat, muß das LSG die erforderlichen Feststellungen noch treffen.
Ergibt sich, daß ein Beratungsfehler vorlag, so wird das LSG prüfen müssen, ob im Wege des Herstellungsanspruchs eine Aufstockung der bereits entrichteten Beiträge möglich ist. Dazu wird darauf hingewiesen, daß der erkennende Senat in seinem Urteil vom 12. Oktober 1979 (- 12 RK 47/77 - BSGE 49, 76, 81) lediglich die Umbuchung von Höherversicherungsbeiträgen in freiwillige Beiträge im Wege des Herstellungsanspruchs ausgeschlossen hat und dabei die Urteile zur Unzulässigkeit der Aufstockung nachentrichteter Beiträge nur ergänzend zitiert hat. Daraus kann nicht geschlossen werden, daß Veränderungen im Beitragsgefüge im Wege des Herstellungsanspruchs generell ausgeschlossen sind (vgl schon die vom RVA EuM 41, 231 in Betracht gezogene Ausnahme vom Veränderungsverbot). Es ist lediglich zu erwägen, welche Grenzen hierfür maßgeblich sind und welche Anforderungen insbesondere an Art, Schwere und Folgen des Beratungsfehlers sowie an die Kausalität zu stellen sind.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen