Leitsatz (redaktionell)
Die Definition des Wortbegriffs "abgelaufene Zeiträume" im Zusammenhang mit SGG § 146 und damit die Frage der Zulässigkeit der Berufung hat dahingehend zu erfolgen, daß hierfür der Streitgegenstand zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung maßgebend ist.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Juli 1970 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 20. August 1969 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Es ist umstritten, ob die Berufung zulässig ist (§ 146 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Für den im Jahre 1896 geborenen Versicherten L. G., einen Juden, sind von 1914 bis 1915 und von 1919 bis 1920 Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet. Von 1915 bis 1919 leistete er Militärdienst. Später war er selbständiger Speditionskaufmann. 1936 wanderte er aus. 1956 kehrte er nach Deutschland zurück. Hier war er in der Zeit von 1958 bis 1961 wieder versicherungspflichtig beschäftigt. Die Beklagte erstattete dem Versicherten im Jahre 1962 auf seinen Antrag die Hälfte der für die Zeit von 1958 bis 1961 entrichteten Beiträge.
Im Jahre 1966 beantragte der Versicherte bei der Beklagten, den Beitragserstattungsbescheid aufzuheben und ihm das Altersruhegeld zu gewähren. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 9. September 1966 den Antrag ab: Die Wartezeit für das Altersruhegeld sei nicht erfüllt. Die Beiträge aus der Zeit bis 1920 könnten nach den bis 30. Juni 1965 geltenden Vorschriften nicht angerechnet werden, weil der Brückenbeitrag fehle; die Ersatzzeit von 1936 bis 1949 könne nicht angerechnet werden, weil wegen der Nichtanrechenbarkeit der alten Beiträge eine Versicherung vorher nicht bestanden habe und auch nicht nach Beendigung der Ersatzzeit aufgenommen worden sei; mit der Erstattung der Beiträge für 1958 bis 1961 sei die gesamte Beitragsleistung erloschen. Der bindend gewordene Erstattungsbescheid von 1962 sei nicht fehlerhaft, da § 26 Satz 2 Buchst. b und § 28 Abs. 2 Buchst. b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des Ersten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 erst am 1. Juli 1965 in Kraft getreten seien; er könne nicht aufgehoben werden.
Das Sozialgericht (SG) war der Auffassung, die Beitragserstattung stehe der Anrechnung der bis 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten nicht entgegen. Es hat die Beklagte mit Urteil vom 20. August 1969 unter Aufhebung des Bescheides vom 9. September 1966 verpflichtet, dem Versicherten ab 1. Juli 1965 das Altersruhegeld zu gewähren.
Am 26. November 1969 ist der Versicherte gestorben. Das Urteil des SG wurde seinem bisherigen Prozeßbevollmächtigten am 8. Januar 1970 zugestellt. Die Witwe des Versicherten führt den Rechtsstreit fort.
Die Beklagte hat am 9. Februar 1970 Berufung eingelegt. Sie hält die Berufung für zulässig. Da nach § 40 Abs. 2 AVG Witwenrente zu gewähren sei, wenn dem Verstorbenen zur Zeit des Todes Versichertenrente zugestanden habe, betreffe ihre Berufung nicht nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume (§ 146 SGG).
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung für zulässig erachtet. Es hat mit Urteil vom 14. Juli 1970 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen.
Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, der Versicherte habe zur Zeit des Erlasses des SG-Urteils noch gelebt. Zu dieser Zeit sei die Berufung zweifellos zulässig gewesen. Die Frage, für welchen letzten Tag Rente verlangt werde, sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetreten. Die Rente sei dem Versicherten ohne zeitliche Einschränkung zugesprochen worden. Daher sei es hier auf den Zeitpunkt des Ergehens der Entscheidung des SG abzustellen. Die gegenteilige Rechtsauffassung würde bedeuten, daß es entscheidend auf den Zeitpunkt der Zustellung des Urteils an die Klägerseite ankomme; danach wäre die Berufung ohne Zweifel zulässig, wenn das Urteil noch im September 1969 zugestellt worden wäre. Sachlich hat es die Berufung der Beklagten als begründet angesehen.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr als Rechtsnachfolgerin des L.G. Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis 30. November 1969 zu gewähren.
Die Revision bringt vor, die Berufung sei nach § 146 SGG unzulässig gewesen, weil sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betroffen habe (Hinweis auf 4 RJ 495/68 vom 26.6.1969; SozR Nr. 6, 8, 9, 21 zu § 146 SGG).
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist begründet. Die Berufung ist nicht zulässig.
In § 146 SGG wird mit den Worten "... ist die Berufung nicht zulässig, soweit sie ... nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft", ausgedrückt, daß für die Zulässigkeit der Berufung der Streitgegenstand des Berufungsverfahrens maßgebend ist. Dies ist der erhobene prozessuale Anspruch (BSG 9, 17; 14, 99, 101), das Klagebegehren, der vom LSG begehrte Ausspruch, die aus einem bestimmten Sachverhalt hergeleitete Rechtsfolge, über die das Gericht zu entscheiden hat (Sammlung BVerfG Nr. 1 zu 237.2 § 81 LGB Berlin 60; BSG 18, 266 f). Der Streitgegenstand ist dem Berufungsantrag zu entnehmen. Der Berufungsantrag ist nach dem Zeitpunkt der Einlegung der Berufung zu beurteilen. Besonderheiten der Beurteilung bei Änderung des Sachverhalts im Laufe des Berufungsverfahrens sind hier nicht zu berücksichtigen, weil sich seit der Einlegung der Berufung bis zum Urteil des LSG nichts geändert hat (SozR Nr. 9, 12 zu § 146 SGG). Die Berufung erfaßte bei Einlegung nur noch die Rente des Versicherten für einen bereits abgelaufenen Zeitraum.
Für den Begriff "abgelaufene Zeiträume" ist wesentlich, ob der letzte Tag der begehrten Rente vor dem Tag der Einlegung der Berufung liegt (SozR Nr. 21 zu § 146 SGG). Die Klägerin als Berufungsbeklagte hatte zwar im Berufungsverfahren keinen bestimmten Zeitpunkt als Endzeitpunkt der von ihr als Rechtsnachfolgerin des Versicherten begehrten Rente angegeben. In solchen Fällen ist aber anzunehmen, daß das Altersruhegeld für die Zeit verlangt wird, für die seine Gewährung nach dem Gesetz möglich ist (SozR Nr. 25 zu § 146 SGG). Dies ist hier die Zeit bis zum letzten Tag des Sterbemonats (§ 71 AVG), also dem 30. November 1969. Dieser Tag liegt vor dem Tag der Einlegung der Berufung. Da der Versicherte in der Zeit nach Erlaß des Urteils und vor dessen Zustellung gestorben ist, hat die Berufungsfrist erst begonnen, als der Versicherte schon gestorben war. Einen so gelagerten Fall hat der 4. Senat in dem Urteil vom 26. Juni 1969 - 4 RJ 495/68 - entschieden. Dort hatte das LSG die Berufung nach § 146 SGG verworfen. Der 4. Senat hat diese Auffassung bestätigt. Der erkennende Senat stimmt der Auslegung des § 146 SGG durch den 4. Senat für den vorliegenden Fall zu. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Fall des 4. Senats und dem vorliegenden, wie das LSG meint, ist nicht zu erkennen. Auch im Fall des 4. Senats hatte die Beklagte Rente mangels Erfüllung der Wartezeit abgelehnt und das SG hatte sie verurteilt, den Anspruch auf Rente festzustellen. Das Urteil war dort am 18. Mai 1967 verkündet worden, der Versicherte war am 30. Juli 1967 gestorben und die Berufung wurde am 3. Oktober 1967 eingelegt. Auch dort war die Frage des Endzeitpunkts der Rente vor Einlegung der Berufung nicht aufgetaucht.
Das LSG hat im vorliegenden Fall gemeint, bei der zeitlichen Reihenfolge: Erlaß des SG-Urteils - Tod des Versicherten - Zustellung des Urteils - Berufung der Beklagten - auf den Zeitpunkt des Ergehens des angefochtenen Urteils abstellen zu müssen. Dies ist nicht möglich. Die Auffassung des LSG, bei einer anderen als seiner Rechtsauffassung käme des letzten Endes auf den Zeitpunkt der Zustellung des angefochtenen Urteils an, ist für den Beginn der Berufungsfrist richtig. Zwar kann in solchen Fällen das SG, wenn es über eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden hat, die Berufung nicht zulassen, weil sie zur Zeit des Urteilserlasses ohnehin zulässig war, und die unterbliebene Berufungszulassung kann vom LSG nicht nachgeholt werden (vgl. 4 RJ 495/68 vom 26.Juni 1969 mit Hinweis auf SozR Nr. 38, 39, 40 zu § 150 SGG). Jedoch gibt das Gesetz nicht die Möglichkeit, für die Zulässigkeit der Berufung in einem Fall wie dem vorliegenden etwa zu fingieren, das Urteil des SG sei innerhalb der in § 135 SGG genannten Frist von zwei Wochen zugestellt und die Berufung innerhalb eines Monats nach dem fingierten Berufungsfristbeginn eingelegt worden. Gegen eine solche Auffassung spricht insbesondere der Zweck des Berufungsausschlusses bei Rente für abgelaufene Zeiträume: Der Gesetzgeber wollte den Rechtszug bei verhältnismäßig weniger bedeutenden Streitgegenständen beschränken (SozR Nr. 11 zu § 146 SGG). Wenn nur Rente für abgelaufene Zeiträume umstritten ist, erscheint der Streitgegenstand nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr so wichtig, wie wenn Rente auch in die Zukunft hinein begehrt wird. Es soll dann nicht mehr darauf ankommen, aus welchen rechtlichen Gründen der Anspruch umstritten ist. Daß bei zeitlichem Aufeinanderfolgen von Urteilserlaß, Tod und Zustellung des Urteils das SG die Berufung nicht zulassen konnte, muß in Kauf genommen werden; denn es handelt sich dabei nicht um Regelfälle, die der Gesetzgeber im Auge hat, sondern um Einzelfälle.
§ 146 SGG kann auch nicht in dem Sinn verstanden werden, daß die Berufung nur insoweit ausgeschlossen werde, als gerade die Zeitdauer einer Rente umstritten ist, daß sie aber zulässig sei, wenn und soweit außerdem der Rechtsgrund des Anspruchs umstritten ist (vgl. die Auslegung des § 146 SGG zu den Begriffen "Beginn oder Ende der Rente" in SozR Nr. 24 zu § 146 SGG). Eine solche Auslegung wird in der Entscheidung des Bundessozialgerichts in SozR Nr. 28 zu § 148 Nr. 2 SGG (Zeitraum des Elternrentenanspruchs, Ernährereigenschaft als Voraussetzung des Anspruchs) im Hinblick auf den Zweck des Gesetzes abgelehnt. In der Entscheidung in SozR Nr. 1 zu § 146 SGG ist gesagt, es komme für den Berufungsausschluß nicht darauf an, "welcher Rechtssatz oder welches Gesetz umstritten ist, ob der Streit die ganze Rente oder nur einen Rententeil betrifft, es komme allein auf den Zeitraum an, für den der Anspruch der Rente in Streit ist". In diesem Sinne wurde auch in SozR Nr. 14 zu § 146 SGG entschieden. In der Entscheidung SozR Nr. 31 zu § 148 Nr. 2 SGG zur Nachzahlung von Versorgungsbezügen für die Zeit von 1935 bis 1945 auf Grund des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung vom 25. Juni 1958 wurde die Berufung für zulässig erachtet; denn streitig war die Art der Leistung - "Versorgung" oder Wiedergutmachungsleistung.
Die Beklagte meint, die Berufung sei nicht ausgeschlossen, weil von der Gewährung der Versichertenrente die Gewährung von Witwenrente abhänge (§ 40 Abs. 2 AVG). Die mögliche materiell-rechtliche Bedeutung einer Versichertenrente, die dem Verstorbenen "zur Zeit seines Todes zustand", für die spätere Witwenrente, ändert nichts daran, daß der Anspruch auf Versichertenrente und der Anspruch auf Witwenrente rechtlich verschiedene Ansprüche sind. Der Streitgegenstand der Berufung ist hier allein der Anspruch auf Versichertenrente für die Zeit bis zum Tod des Versicherten. Der Senat schließt sich auch insoweit der Auffassung des 4. Senats in dem genannten Urteil vom 26. Juni 1969 an. Schon in SozR Nr. 28 zu § 148 SGG wurde entschieden, wenn der Gesetzgeber für bestimmte Fälle die Berufung grundsätzlich ausgeschlossen habe, bleibe kein Raum für Erwägungen, welche Folgen sich aus der Rechtskraft des Urteils des SG für die Beteiligten ergeben.
Unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung ist die Berufung nach dem hier maßgebenden § 146 SGG schon dann ausgeschlossen, wenn es sich bei der begehrten Leistung um "Rente" handelt und wenn die Rente nur für einen vor Einlegung der Berufung liegenden Zeitraum begehrt wird. Da diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, war die Berufung gegen das Urteil des SG nicht zulässig. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen