Leitsatz (amtlich)
Der Begriff "Wohnort" iS des RVO § 313b umfaßt auch den "Wohnsitz" des Weiterversicherungsberechtigten. Hebt ein Weiterversicherungsberechtigter den im Bereich seiner bisherigen Kasse bestehenden Wohnsitz (BGB § 7) nicht auf, so setzt er auch bei Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe in einer Anstalt, die außerhalb des Bereichs der bisherigen Kasse liegt, die Mitgliedschaft bei dieser Kasse fort.
Normenkette
RVO § 313b Fassung: 1941-01-15; BGB § 7 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. April 1958 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, welcher Krankenkasse der Beigeladene ... während der Verbüßung einer längeren Gefängnisstrafe als freiwilliges Mitglied angehört hat.
Der Beigeladene ..., der bis zum 16. Juli 1953 Arbeitslosenfürsorgeunterstützung bezog, war als Arbeitsloser Pflichtmitglied der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) C (Klägerin). Er trat am 18. Juli 1953 eine 14-monatige Gefängnisstrafe in der Strafanstalt B an und zeigte der klagenden Kasse am 3. August 1953 an, daß er sich freiwillig weiterversichern wolle. Die Klägerin übersandte diese Anzeige unter Hinweis auf § 313 b der Reichsversicherungsordnung (RVO) an die AOK B (Beklagte), weil für die freiwillige Weiterversicherung die Kasse des Wohnorts des Versicherungsberechtigten zuständig sei. Nachdem die Beklagte ihre Zuständigkeit bestritten hatte, beantragte die Klägerin am 24. November 1953 beim Städtischen Versicherungsamt B, über die Kassenzuständigkeit gemäß § 313 b Abs. 1 letzter Satz RVO zu entscheiden. Beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ging der Rechtsstreit auf das Sozialgericht Bayreuth als Klage über (§ 215 Abs. 2 SGG). Die klagende Kasse machte geltend, nach ständiger Rechtsprechung sei derjenige Ort als Wohnort im Sinne des § 313 b Abs. 1 Satz 1 RVO anzusehen, an dem der Versicherte nicht nur rein zufällig längere Zeit verweile; dies sei bei einem Strafgefangenen der Ort, in dem sich die Strafanstalt befinde. Demgegenüber vertrat die beklagte Kasse den Standpunkt, der Beigeladene habe als Strafgefangener in ihrem Bereich keinen Wohnort begründet; er werde nach Verbüßung der Strafe wieder zu seiner Familie in den Kassenbezirk der Klägerin zurückkehren, so daß diese für die Betreuung seiner Angehörigen zuständig sei. Das Sozialgericht ermittelte, daß der Beigeladene die Strafe vom 18. Juli 1953 bis zum 8. Dezember 1953 in der Strafanstalt B und anschließend im Gefängnis in C verbüßt hat.
Mit Urteil vom 24. Mai 1955 stellte das Sozialgericht fest, daß die beklagte AOK für die Weiterversicherung des Beigeladenen ... vom 17. Juli 1953 an zuständig sei. Das Sozialgericht vertrat im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) die Auffassung, der Begriff "Wohnort" im Sinne des § 313 b RVO sei gleichbedeutend mit "Wohnort" im Sinne der §§ 1637, 1638 RVO, nicht aber mit "Wohnsitz" im Sinne des § 7 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Der Beigeladene habe, während er seine Strafe in B verbüßte, seinen Wohnort im Bereich der beklagten Kasse gehabt, weil er dort längere Zeit nicht nur zufällig verweilt habe. Die beklagte Kasse legte Berufung ein und machte unter Wiederholung ihres früheren Vorbringens geltend, die Entscheidung des RVA hätten sich vorwiegend mit unverheirateten Weiterversicherungsberechtigten befaßt und seien veraltet. Die persönliche Entscheidungsfreiheit des Versicherungsberechtigten müsse berücksichtigt werden, wie sich auch aus den Worten "Wohnort verlegen" in § 313 b RVO ergebe. Die heutige Auffassung verlange, die Weiterversicherung dort durchzuführen, wo die Betreuung der Anspruchsberechtigten am einfachsten und für sie am zweckmäßigsten sei.
Das Landessozialgericht hob mit Urteil vom 2. April 1958 die Entscheidung des Sozialgerichts auf und stellte fest, daß die AOK C für die freiwillige Weiterversicherung des Beigeladenen ... vom 17. Juli 1953 an zuständig sei. Die Revision wurde zugelassen. Zur Begründung führte das Berufungsgericht aus: Der Beigeladene sei als Empfänger von Arbeitslosenfürsorgeunterstützung bis zum Ablauf der Unterstützung Mitglied der klagenden Krankenkasse gewesen, in deren Bereich er auch gewohnt habe. Bei seinem Ausscheiden aus der Unterstützung (17.7.1953) habe der Beigeladene noch im Kassenbereich der Klägerin gewohnt. Er habe aber bald darauf seinen Wohnort verlassen, um seine Strafhaft in B und damit im Kassenbereich der Beklagten anzutreten. Die Weiterversicherung werde regelmäßig bei der Kasse durchgeführt, der der Versicherte zuletzt angehörte; ein Kassenwechsel trete erst ein, wenn der Berechtigte seinen Wohnort verlege. Ein neuer Wohnort werde nach der Rechtsprechung des RVA durch länger dauerndes, nicht zufälliges Verweilen begründet. Der Antritt einer 14-monatigen Strafhaft habe zwar einen voraussichtlich längeren Aufenthalt am Ort der Strafanstalt zur Folge. Abgesehen davon, daß der Beigeladene bereits im Dezember 1953 zur weiteren Verbüßung seiner Strafe in das Gefängnis nach C überführt worden sei, habe er aber mit dem Strafantritt in B seinen Wohnort nicht verlegt, weil er seinen Aufenthaltsort nicht freiwillig gewechselt habe. Der Auffassung des RVA, daß der Wille des Berechtigten beim Aufenthaltswechsel unerheblich sei und daß durch längeres Verweilen an einem anderen Ort auf jeden Fall ein Wohnortswechsel herbeigeführt werde, könne nicht beigetreten werden. Diese Auslegung werde dem Gesetzeswortlaut ("die ... ihren Wohnsitz verlegen") nicht gerecht. Die aktive Form des Tätigkeitswortes "verlegen" weise eindeutig darauf hin, daß der Wohnortswechsel dem Willen und der Absicht des Versicherten entsprechen müsse. Bei einem erzwungenen, wenn auch längerem Aufenthalt im fremden Gewahrsam liege kein Wohnortswechsel vor, wenn der bisherige Wohn sitz beibehalten werde.
Die klagende Kasse hat Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 24. Mai 1955 zurückzuweisen.
Die Revision rügt, das Landessozialgericht habe § 313 b RVO nicht richtig ausgelegt. Seiner Auffassung, der Kassenwechsel setze eine freiwillige Verlegung des Wohnorts voraus, könne nicht gefolgt werden. Da die Begriffe "Wohnort" und "Wohnsitz" nicht identisch seien, sei es rechtlich bedeutungslos, ob der Versicherte von vornherein beabsichtige, einen neuen Wohnort zu begründen. Wenn nach der Rechtsprechung des RVA schon das längere Verweilen in einer Klinik oder in einer Krankenanstalt als ausreichend für die Begründung eines Wohnorts angesehen werde, so müsse man die Begründung eines Wohnorts erst recht bei einem mehr als einjährigen Aufenthalt in einer Strafanstalt annehmen. Für einen Wohnortswechsel sei nicht erforderlich, daß der Versicherte die Absicht oder den Willen habe, seinen bisherigen Wohnort endgültig aufzugeben.
Die beklagte AOK B beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden. Sie kann jedoch keinen Erfolg haben, weil das angefochtene Urteil - jedenfalls im Ergebnis - zutrifft.
1.) Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen keine Bedenken. Das durch den Antrag der Krankenkasse beim Versicherungsamt nach § 313 b Abs. 1 letzter Satz RVO eingeleitete Verfahren, in dem das Versicherungsamt bei Streit über die Kassenzuständigkeit zu entscheiden hatte, ist nach Inkrafttreten des SGG auf das Sozialgericht übergegangen (§ 215 Abs. 2 SGG). Es handelte sich um ein Verfahren, das von den Vorinstanzen zutreffend als Feststellungsklage im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG behandelt worden ist.
2.) Nach § 313 b RVO setzen Weiterversicherungsberechtigte und Weiterversicherte, die nicht im Bereich ihrer bisherigen Kasse wohnen oder ihren Wohnort aus dem Kassenbereich verlegen, die Mitgliedschaft bei der allgemeinen Ortskrankenkasse ihres Wohnorts fort, wenn sie Mitglied einer allgemeinen oder besonderen Ortskrankenkasse waren. Diese Vorschrift wurde eingefügt durch die Not-Verordnung vom 26. Juli 1930 (RGBl I 311). Bis zu ihrem Inkrafttreten blieb der zur Weiterversicherung berechtigte Pflichtversicherte (§ 313 RVO) auch bei Verlegung seines Wohnorts Mitglied der Kasse, der er als Pflichtmitglied angehört hatte. Die Einfügung des § 313 b RVO durch die Notverordnung vom 26. Juli 1930 hat den Zweck, die Versicherten möglichst eng mit ihrer Kasse zu verbinden und Verwaltungsschwierigkeiten zu beseitigen, die sich durch den Wegzug aus dem bisherigen Kassenbereich ergeben (vgl. Müller/Kreil/Munder, Handbuch der Reichsversicherung, Bd. 2 (1935), Nr. 91, 56 Bl. 581; Krohn/Zschimmer/Knoll/Sauerborn, Handkommentar zur Reichsversicherungsordnung (1931) Anm. 2 zu § 313 b RVO; Hoffmann/Kreil, Reichsversicherungsordnung, 2. Buch, 9. Aufl. (1939) Anm. zu § 313 b RVO).
Der Beigeladene bezog nach den Feststellungen des Landessozialgerichts bis zum 16. Juli 1953 Arbeitslosenfürsorgeunterstützung und gehörte bis zu diesem Zeitpunkt der klagenden AOK als Pflichtmitglied an. Die Anzeige, Mitglied bleiben zu wollen, wurde der klagenden Kasse gegenüber innerhalb der Frist des § 313 Abs. 2 RVO abgegeben. Aus der Feststellung des Berufungsgerichts ergibt sich ferner, daß sich die Familienwohnung des verheirateten Beigeladenen (F Landkreis K) bei Erstattung der Anzeige im Bereich der klagenden Kasse befunden hat und daß der Beigeladene nach Verbüßung der Strafe dorthin zurückgekehrt ist.
Streitig ist allein, ob der Beigeladene deshalb, weil er am 18. Juli 1953 eine 14-monatige Gefängnisstrafe in der zum Bereich der beklagten AOK gehörenden Strafanstalt B antreten mußte, seinen Wohnort aus dem Bereich der AOK Coburg verlegt hat.
3.) Das RVA hat in der Grundsätzlichen Entscheidung 4204 vom 15. September 1931 (AN 1931, 447) unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung zu §§ 1637, 1638 RVO (AN 1904, 422; An 1913, 639) ausgesprochen, der Begriff "Wohnort" im Sinne des § 313 b RVO sei gleichbedeutend mit "Wohnort" im Sinne der §§ 1637, 1638 RVO, nicht aber mit "Wohnsitz" im Sinne des § 7 BGB. Der Fall betraf eine Ledige, die nach Aufgabe einer versicherungspflichtigen Beschäftigung wegen ihrer bevorstehenden Entbindung in ein Mädchenheim zurückgekehrt war, in dem sie sich früher als Fürsorgezögling befunden hatte. Das RVA führte in dieser Entscheidung aus, daß als Wohnort im Sinne der §§ 1637, 1638 RVO nicht ohne weiteres der Wohnsitz im Sinne des § 7 BGB gelte, vielmehr bedeute Wohnen ein rein tatsächlich länger dauerndes, nicht zufälliges Verweilen an einem Ort. Es bestehe kein Anlaß, von diesem Begriff des Wohnorts für die Auslegung des § 313 b RVO abzuweichen. Von dieser Rechtsauffassung ist das RVA auch in späteren Entscheidungen ausgegangen, und zwar in der Grundsätzlichen Entscheidung 4558 vom 16. Dezember 1932 (AN 1933, 69), die eine Hausgehilfin betraf, die als Weiterversicherte zur Entbindung in eine Landesfrauenklinik aufgenommen war und sich dort acht Wochen aufgehalten hat, sowie in einer weiteren Entscheidung vom 29. November 1933 (DOK 1934, 285), die sich auf eine Versicherte bezog, die auf Anregung des Fürsorgeverbandes längere Zeit in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht war. Wenn das RVA in diesen Fällen angenommen hat, daß die Weiterversicherten, die im Bereich ihrer bisherigen Kasse offensichtlich keine Wohnung hatten, wegen ihres längeren Aufenthalts in der Heil- und Pflegeanstalt oder in der Landesfrauenklinik ihren Wohnort dorthin verlegt haben, so entspricht dies durchaus dem Sinn und Zweck des § 313 b RVO. Es ist aber nicht gerechtfertigt, bei einem Weiterversicherten, der im Bereich seiner bisherigen Kasse einen festen Wohnsitz im Sinne des § 7 BGB hat - d. h. einen Ort, an dem er sich ständig niedergelassen hat und der den räumlichen Schwerpunkt seines gesamten Lebens bildet (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 7 Anm. 1) - einen Wohnortswechsel anzunehmen, wenn der Versicherte - ohne seinen Wohnsitz aufzugeben - sich vorübergehend - wenn auch für längere Zeit - an einem anderen Ort aufhält. Verweilt eine Person tatsächlich längere Zeit nicht nur zufällig an einem Ort, so kann sie dort einen Wohnort im Sinne des § 313 b RVO haben, dies setzt aber regelmäßig voraus, daß sie nicht an einem anderen Ort den räumlichen Schwerpunkt ihres gesamten Lebens hat. Deshalb umfaßt der Begriff "Wohnort" im Sinne des § 313 b RVO auch den "Wohnsitz" des Weiterversicherten.
Das RVA hat zwar in der Grundsätzlichen Entscheidung 2505 vom 8. Januar 1919 (AN 1919, 274), die sich mit der Frage des doppelten Wohnortes eines Versicherten befaßt, offengelassen, ob eine Person stets an ihrem gesetzlichen Wohnsitz auch einen Wohnort hat; der Senat hat aber im Hinblick auf den oben angegebenen Zweck des § 313 b RVO keine Bedenken, für die Kassenzuständigkeit den Wohnsitz des Versicherten grundsätzlich auch dann als maßgebend anzusehen, wenn er daneben noch einen anderen Wohnort hat, der aber nicht den räumlichen Schwerpunkt seines Lebens darstellt. Behält ein Weiterversicherter seinen bisherigen Wohnsitz bei, so tritt daher auch dann kein Kassenwechsel ein, wenn er längere Zeit nicht nur zufällig an einem anderen Ort verweilt. Gerade bei einem Strafgefangenen, der während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe selbst keinen Anspruch auf Krankenhilfe hat (§ 216 Abs. 1 Nr. 1 RVO), wäre es mit dem Zweck des § 313 b RVO nicht vereinbar, einen Kassenwechsel eintreten zu lassen, obgleich nur für seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen, die nach wie vor im Bereich der bisherigen Kasse wohnen, während der Strafverbüßung Leistungen zu gewähren sind. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die Zuständigkeitsvorschriften der §§ 1637, 1638 mit Wirkung vom 1. Januar 1954 aufgehoben worden sind (§ 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG) und daß sich vom gleichen Zeitpunkt an gemäß § 57 SGG die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Klägers und erst in Ermangelung dessen nach einem Aufenthaltsort richtet (vgl. auch die Zuständigkeitsregelung für die Aufklärung des Sachverhalts in der Unfallversicherung in § 1572 Abs. 2 bis 4 RVO idF des § 220 Nr. 3 SGG und für die Weiterversicherung der nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 des Wehrpflichtgesetzes wehrpflichtigen Soldaten in § 209 a Abs. 2 RVO idF des Gesetzes zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften vom 25. April 1961 (BGBl I 465).
Da der Beigeladene seinen Wohnsitz im Bereich der klagenden Kasse während der Strafverbüßung in B nicht aufgehoben hat, ist für die Weiterversicherung die klagende Kasse zuständig geblieben.
Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1982401 |
BSGE, 250 |
NJW 1962, 2368 |