Orientierungssatz

Bei der Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit iS des RKG § 45 Abs 2 ist bei einem Lehrhauer, der seine Tätigkeit bereits vor Inkrafttreten der ab 1971-06-01 geltenden Lohnordnungen aufgegeben hat, von der Lohngruppe 09 unter Tage auszugehen. Auf die unter die Lohngruppe 03 über Tage fallenden Tätigkeiten eines Lampenstubenarbeiters oder Pförtners kann ein Versicherter daher bei einer Lohndifferenz gegenüber dem bisherigen Hauptberuf von mehr als 20 % nicht verwiesen werden. Die Arbeit eines Hilfsarbeiters im Büro (Lohngruppe 04 über Tage), die noch im Rahmen des wirtschaftlich Gleichwertigen liegt, ist im Vergleich zu der Arbeit eines Lehrhauers keine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten. Vielmehr handelt es sich um eine Verrichtung, für die keinerlei Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die nicht schon jeder Arbeiter ohne weiteres mitbrächte.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 2

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. November 1972 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der 1926 geborene Kläger war nach Tätigkeiten als Schlepper und Gedingeschlepper von 1952 bis 30. August 1968 im Bergbau als Lehrhauer beschäftigt. Nach Erkrankung 1968 und nach einem Verkehrsunfall 1969 ist er seit September 1969 als Hilfsarbeiter in der Ausbauwerkstatt über Tage eingesetzt. Die Beklagte bewilligte ihm bis zum 30. September 1969 Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit und - zum Teil durch einen während des anhängigen Verfahrens abgeschlossenen Teilvergleich - bis zum 31. Mai 1971 Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.

Mit seinem Begehren auf Gewährung der Bergmannsrente über den 31. Mai 1971 hinaus hatte der Kläger in den Vorinstanzen Erfolg. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 14. November 1972 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten gegen das zusprechende Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückgewiesen und ausgeführt, eine Verweisung des Klägers auf die ihm gesundheitlich noch möglichen Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters im Büro und allenfalls noch eines Lampenstubenarbeiters und Pförtners entfalle, weil es sich hierbei weder um im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten noch um Tätigkeiten von Personen mit gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handele.

Mit der zugelassenen Revision tritt die Beklagte diesem Urteil entgegen. Sie ist der Auffassung, der Kläger habe den Status eines Hauers nie erreicht. Schon deshalb könne er nicht als Hauer betrachtet werden. Bei im Hauptberuf als Lehrhauer beschäftigt gewesenen Versicherten sei für die Anspruchsberechtigung ab 1. Juni 1971 von dem Lohn der Lohngruppe 08 unter Tage auszugehen. Da der ehemalige Lehrhauer nach wie vor nicht zum Kreis der gelernten Facharbeiter zu rechnen sei, müsse in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats weiter davon ausgegangen werden, daß mit der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Tätigkeiten auch die Gleichwertigkeit der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten gegeben sei. Im Rahmen der Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit sei die Differenz zwischen der neuen Lohngruppe 08 unter Tage und der Lohngruppe 04 über Tage (= Hilfsarbeiter im Büro) mit 14,2 % so gering, daß in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats im wesentlichen wirtschaftliche Gleichwertigkeit gegeben sei. Im Ergebnis gelte gleiches auch bezüglich einer Verweisung des Klägers auf die Tätigkeiten eines Lampenstubenarbeiters und Pförtners (neue Lohngruppe 03 über Tage). Eine Lohndifferenz von 17,7 % sei zumutbar.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16. Februar 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 45 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ist ein Versicherter vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit noch andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige knappschaftliche Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten zu verrichten. Bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit des Klägers ist, worüber kein Streit besteht, die des Lehrhauers. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen sowie nach seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten nur noch in der Lage, als Hilfsarbeiter im Büro, als Lampenstubenarbeiter und als Pförtner zu arbeiten. Die Frage, ob der Kläger auf diese Tätigkeiten zur Vermeidung verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit verwiesen werden kann, hängt nach dem Gesetz von einem Wert- und Qualitätsvergleich ab.

Wie der Senat bereits wiederholt entschieden hat (vgl. z.B. das Urteil vom 27. Juni 1973 - 5 RKn 28/71 - und SozR Nr. 40 zu § 45 RKG), ist, wenn es sich - wie hier - um eine Anfechtungs- und Leistungsklage handelt, bei der Prüfung der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit für jeden vor dem Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung liegenden, von dem Kläger beanspruchten Rentenbezugszeitraum zu untersuchen, wie die tarifliche Lohndifferenz zwischen bisher verrichteter knappschaftlicher Arbeit und der in Frage stehenden Verweisungstätigkeit ist. Daher sind alle Lohnordnungen heranzuziehen, die den Lohn der Vergleichstätigkeit für die streitige Zeit regeln. Dies gilt auch dann, wenn der Versicherte während eines solchen Zeitraums nicht mehr in seinem Hauptberuf tätig war, die neue Lohnordnung auf ihn also arbeitsrechtlich nicht mehr anwendbar war. Dann kann es sich jedoch nur um eine solche Anwendung der neuen Lohnordnung handeln, bei der die Besonderheiten derartiger Fälle berücksichtigt werden müssen. Da im vorliegenden Fall die Tarifordnung vom 1. Juni 1971 für den Kläger arbeitsrechtlich nicht mehr anwendbar war, muß sie somit unter Beachtung der sich ergebenden Besonderheiten derartiger Übergangsfälle bei dem hier anzustellenden Wertvergleich berücksichtigt werden. In der Regel macht dies keine Schwierigkeiten wenn der Hauptberuf und die Verweisungsberufe weiterhin in der Lohnordnung aufgeführt sind. Die Besonderheit des vorliegenden Übergangsfalles liegt jedoch darin, daß es in der ab 1. Juni 1971 geltenden Lohnordnung die Berufsbezeichnung "Lehrhauer" nicht mehr gibt.

Der Senat hat bereits durch Urteil vom 27. Juni 1974 - 5 RKn 4/73 - entschieden, daß bei einem ehemaligen, vor dem 1. Juni 1971 bereits aus seiner Tätigkeit ausgeschiedenen Lehrhauer, den es in der neuen Lohnordnung nicht mehr gibt, unter Berücksichtigung aller sich hieraus ergebenden Besonderheiten von der Lohngruppe 09 unter Tage auszugehen ist. Auf die Gründe dieses Urteils wird verwiesen. Die unter die Lohngruppe 03 über Tage fallenden Tätigkeiten eines Lampenstubenarbeiters und Pförtners sind bei einer Lohndifferenz von mehr als 20 v.H. gegenüber dem bisherigen Hauptberuf nicht mehr im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. Auf sie kann der Kläger daher im Rahmen des § 45 Abs. 1 Nr. 1 iVm Abs. 2 RKG nicht verwiesen werden.

Dem Hauptberuf im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist dagegen bei einer Lohndifferenz von 17,9 v.H. zur Lohngruppe 09 unter Tage die Tätigkeit eines Hilfsarbeiters im Büro (Lohngruppe 04 über Tage), die der Kläger, wie vom LSG festgestellt, noch verrichten kann. Indessen nimmt die Beklagte zu Unrecht an, daß diese Tätigkeiten bei Vergleich mit der Arbeit eines Lehrhauers solche von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten sind. Zwar kann in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats im allgemeinen davon ausgegangen werden, daß es sich bei tariflich im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertigen Tätigkeiten auch um solche von Personen mit ähnlicher Ausbildung und im wesentlichen gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt. Wie der Senat jedoch immer wieder hervorgehoben hat (vgl. z.B. SozR Nr. 42 zu § 45 RKG), ist eine solche Schlußfolgerung nicht gestattet, wenn die verhältnismäßig hohe tarifliche Einstufung einer Tätigkeit nicht auf der zu ihrer Verrichtung erforderlichen Ausbildung und auf den zu ihrer Verrichtung erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern zumindest in einem wesentlichen Umfang auf anderen Gründen beruht. Gegebenenfalls ist entsprechenden Anhaltspunkten nachzugehen.

Ergeben die angestellten Ermittlungen insofern kein klares Bild, läßt sich aber schon allein aus der relativ hohen tariflichen Einstufung hinreichend deutlich erkennen, daß diese ihren Grund nicht in der für diese Tätigkeit erforderlichen Ausbildung und die zu ihrer Verrichtung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten haben kann, so kann auch schon hieraus geschlossen werden, daß andere Gründe Bedeutung für die höhere Einstufung gehabt haben.

Für die Tätigkeit eines Hilfsarbeiters im Büro sind keine Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich, die nicht schon jeder Arbeiter ohne weiteres mitbrächte. Es handelt sich um reine ungelernte Tätigkeiten, auf die ein früherer Lehrhauer, der immerhin die Qualifikation eines angelernten Arbeiters hatte (vgl. SozR Nr. 16 zu § 46 RKG), selbst dann nicht verwiesen werden könnte, wenn sie sich aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten durch besondere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein, die Zuverlässigkeit oder Wendigkeit hervorhöben. Diese Merkmale könnten allenfalls dazu führen, eine ungelernte Tätigkeit im Rahmen des § 46 RKG als zumutbar erscheinen zu lassen (vgl. dazu auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 27. Juni 1974 - 5 RKn 5/73 -, in der eine Verweisung des Lehrhauers selbst auf bestimmte einfache Tätigkeiten der Lohngruppe 05 über Tage abgelehnt worden ist).

Nach alledem hat das LSG zu Recht angenommen, daß der Tatbestand des § 45 Abs. 2 RKG gegeben ist. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG war daher zurückzuweisen und zu entscheiden, daß die Beklagte dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten hat (§ 193 des Sozialgerichtsgesetzes).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647935

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