Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, welche Bedeutung es für die Feststellungslast (objektive Beweislast) und die Beweiswürdigung hat, wenn der Versicherungsträger eine für die vollständige Aufklärung des Sachverhalts unentbehrliche Leichenöffnung nicht veranlaßt hat.
Normenkette
RVO §§ 1545, 1571-1572; SGG § 128
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. November 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) der Sohn des Franz D (D.). Die Kläger beanspruchen Hinterbliebenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Sie sind der Auffassung, daß der Tod des D. am 22. Juni 1954 die Folge eines Arbeitsunfalls vom 19. Juni 1954 sei.
Aus dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich ua folgende tatsächlichen Feststellungen:
Der am 30. März 1907 geborene D. war von Beruf gelernter Schreiner und in einem Unternehmen beschäftigt, das der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) als Mitglied angehört. Er hatte an den Tagen vor dem 19. Juni 1954 bei dem Hausbau seines Schwagers P laufend mitgearbeitet und am 18. Juni 1954 dem Polizeimeister Sch bei schweren Arbeiten geholfen und ihm zugesagt, am nächsten und übernächsten Tag wieder mitzuhelfen. Weder seinem Schwager noch dem Polizeimeister Sch hatte D. Angaben über körperliche Beschwerden gemacht. Am Morgen des 19. Juni 1954 ging er wie üblich zu seiner Arbeitsstätte, ohne über irgendwelche körperlichen Beschwerden zu klagen. Um die Mittagszeit traf der Polizeimeister Sch ihn auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach Hause. Auf die Frage, ob er am Nachmittag beim Bau wieder helfen würde, erwiderte D., er könne leider nicht, er habe bei der Arbeit ein Brett vor sein Geschlechtsteil bekommen und große Schmerzen. Nachdem er zur üblichen Zeit nach Hause gekommen war, setzte er sich an den Mittagstisch und ließ das Essen unberührt. Seiner Ehefrau sagte er nur, er habe einen anstrengenden Tag gehabt. Er begab sich zu Bett, stand später wieder auf, brach aber nach zwei Minuten zusammen und mußte ins Bett gebracht werden. Während der Nacht klagte er über große Schmerzen. Am Sonntag (20. Juni 1954) verschlimmerte sich der Zustand derart, daß der praktische Arzt Dr. Z gerufen werden mußte. Diesem gab D. an, ihm sei während der Arbeit ein Brett zwischen die Beine gefallen und gegen das Geschlechtsteil geschlagen. Der Arzt stellte hohes Fieber fest und veranlaßte die Einweisung in das D.-hospital in Lippstadt. Dort gab D. an, er habe am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr vom Holzlager ein Brett holen wollen. Die Bretter seien nachgerutscht und dabei habe sich der Penis eingeklemmt. Dem Elektromeister W, der mit D. auf einem Zimmer lag, erzählte D., er habe am Samstag morgen gegen 11 Uhr einen Unfall gehabt. Er habe von einem Stapel Bohlen eine 30 mm dicke Bohle herausgezogen. Der Stapel sei ihm bis in Bauchhöhe gegangen. Beim Fallenlassen der Bohle hätte diese mit dem Ende das Geschlechtsteil eingeklemmt. Von Montagnachmittag an verschlimmerte sich der Zustand des D. Es trat hohes Fieber und ein Brand des Penis ein. Am Dienstag, dem 22. Juni 1954, um 9.50 Uhr ist D. gestorben.
Der Chefarzt des D.-hospitals, Dr. Sch, teilte der Beklagten noch am 22. Juni 1954 fernmündlich mit, daß es sehr zweifelhaft sei, ob die Penisinfektion, die zum Tode geführt habe, auf den geschilderten Unfallhergang am 19. Juni 1954 zurückzuführen sei. Eine Obduktion der Leiche sei zur Aufklärung erforderlich. Am 24. Juni 1954 teilte der gleichfalls im D.-hospital tätige Arzt Dr. B der Beklagten fernmündlich mit, daß der Schwager des Verstorbenen vorgesprochen und mitgeteilt habe, die Witwe werde wegen des Arbeitsunfalls Ansprüche geltend machen.
Die Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Paderborn bei, die am 17. August 1954 bei ihr eingingen. In diesen Akten befindet sich ua ein Bericht der Kriminalpolizei in Lippstadt vom 24. Juni 1954, in dem hervorgehoben wird, daß der Witwe von der BG vermutlich Schwierigkeiten bereitet werden würden, weil die Todesursache und der Betriebsunfall ziemlich unklar seien. Aus den Akten ergibt sich weiterhin, daß das Amtsgericht in Lippstadt der Auffassung war, der Sachverhalt und das Ermittlungsergebnis sprächen eindeutig für einen Betriebsunfall, die Schuld eines anderen sei nicht ersichtlich, und daß die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Ermittlungsverfahrens verfügt hat, weil kein Verdacht einer strafbaren Handlung vorliege.
Die Beklagte stellte noch Ermittlungen in dem Unternehmen an, in dem D. beschäftigt gewesen war. Diese ergaben, daß weder den Arbeitskameraden noch den Vorgesetzten von einem Unfall etwas bekannt war und D. auch weder den Werkssanitäter noch den Durchgangsarzt aufgesucht hatte. Aus einer Auskunft der Betriebskrankenkasse ergibt sich, daß D. vor dem Unfall nicht an einem Leiden erkrankt gewesen ist, das mit einer Penisinfektion in Zusammenhang stehen könnte.
In dem Durchgangsarztbericht des Dr. Schr vom 22. Juni 1954 ist als Diagnose angegeben: "Infizierte Penisverletzung mit septischer Aussaat", und ausgeführt, es werde ein Arbeitsunfall bezweifelt, da eine Infektion nach einem Tage nicht solche Ausmaße annehmen könne; D. habe sich die Verletzung anderswo zugezogen; eine Überprüfung werde für unbedingt erforderlich gehalten. In einem weiteren Gutachten vom 20. Oktober 1954 führte Dr. Sch ua aus, die Angaben des Patienten seien sofort unglaubwürdig gewesen; es sei schlecht vorstellbar, daß beim Herabfallen von Brettern eine isolierte Penisverletzung auftrete; man hätte wenigstens einige Schrammen an den Oberschenkeln erkennen müssen; auch trete bei einer Penisverletzung erfahrungsgemäß nicht innerhalb von Stunden eine Nekrose auf; leider sei eine Sektion unterlassen worden.
Durch Bescheid vom 26. November 1954 lehnte die Beklagte den Anspruch der Witwe und des Sohnes Franz H auf Hinterbliebenenentschädigung ab. Sie begründete das unter ausführlicher Wiedergabe des Ermittlungsergebnisses damit, daß sowohl das Vorliegen eines Unfallereignisses als auch der ursächliche Zusammenhang des Todes mit einem Unfallereignis nicht hinreichend wahrscheinlich seien.
Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben. Dieses hat ein Gutachten von Prof. Dr. B (Knappschaftskrankenhaus Bottrop) vom 10. Dezember 1955 beigezogen. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, es lasse sich keine Erklärung für die Vorfälle finden, welche auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erlauben, den Unfall - bei seiner Unterstellung als gegeben - als Ursache für die Entzündung des Penis und den weiteren Verlauf anzuerkennen. Der Unfall sei in der durch den Elektromeister W wiedergegebenen Form ungeeignet, eine Einklemmung des Penis zu verursachen, und weder das Krankheitsbild noch der Verlauf seien in eine Kausalverbindung mit dem Unfall zu bringen. Außerdem hat das SG Dr. Sch als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat ua ausgeführt: Es seien zwar äußere Anzeichen einer traumatischen Beeinflussung vorhanden gewesen, doch habe die Krankheit innerhalb von 24 Stunden einen derart schnellen Verlauf genommen, daß sie nicht auf einen Unfall vom Vortage zurückgeführt werden könne. Es sei anzunehmen, daß schon vorher eine Infektion bestanden habe. Wenn man die Richtigkeit der schwersten Darstellung des Unfalles unterstelle, sei dieser geeignet, bei bereits vorhandener Infektion eine erhebliche Steigerung des Krankheitsverlaufs zu bewirken. Ohne eine solche traumatische Beeinflussung wäre D. an der Infektion voraussichtlich nicht gestorben.
Das SG hat durch Urteil vom 2. Oktober 1956 wie folgt entschieden:
Der Bescheid vom 26. November 1954 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, daß es sich bei dem Ereignis vom 19. Juni 1954 um einen Arbeitsunfall des Ehemannes der Klägerin im Sinne des § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO) handelt.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen entsprechenden Bescheid zu erteilen und die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das SG hat als erwiesen angesehen, daß D. von einem unbeobachteten Lagerplatz eine schwere Bohle abholen wollte und daß das Abheben oder Herausstemmen aus dem Stapel und das Herunterfallen zu einem Schlag gegen die Geschlechtsteile bzw. einem Einklemmen des Penis geführt hat. Im übrigen hat es als erwiesen angesehen, daß eine bereits vor dem 19. Juni 1954 vorhandene Penisinfektion, die normalerweise geheilt worden wäre, durch ein in seiner Stärke nicht erwiesenes, aber doch recht schweres Trauma eine solche Verschlimmerung bewirkt habe, daß in kurzer Zeit der Tod eingetreten sei.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt. Das LSG hat ein Gutachten des Dr. Sch vom 22. November 1958 beigezogen, in dem ua ausgeführt wird, bei der Aufnahme seien keine sicheren Anzeichen einer Verletzung im Sinne einer Quetschung, Prellung oder Schnittverletzung festzustellen gewesen; aus dem Befund sei aber der Rückschluß zu ziehen, daß zwar eine Verletzung stattgefunden, der Zeitpunkt aber mindestens mehrere Tage zurückgelegen haben müsse.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 24. November 1959 hat das LSG den Polizeimeister Sch, den Elektromeister W als Zeugen und die Ärzte Dr. Z und Dr. Sch als sachverständige Zeugen vernommen. Außerdem hat es den Oberarzt Dr. K als Sachverständigen gehört. Dieser hat ua ausgeführt, auch ohne Trauma könne es jederzeit zu einer Infektion derart, wie sie bei D. vorgelegen haben müsse, kommen, weil praktisch immer kleine Schleimhautdefekte am Vorhautblatt vorhanden seien. Andererseits bestehe aber die Möglichkeit, daß durch den Unfall mikroskopische Verletzungen gesetzt worden seien, die Eintrittspforten für die Erreger gebildet hätten. Ob das der Fall sei, könne nachträglich nicht mehr gesagt werden und wäre nur durch eine Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung und bakteriologischem Nachweis der Erreger zu klären gewesen. Ob der Unfall die Infektion wesentlich verschlimmert habe, hätte gleichfalls nur durch Obduktion geklärt werden können. Hierfür wären stärkere Gefäßquetschungen und Zerreißungen Voraussetzung gewesen. Der Unfall könne nicht schwer gewesen sein. Damit sei aber nicht ausgeschlossen, daß doch oberflächliche Verletzungen gesetzt worden seien.
Durch Urteil vom 24. November 1959 hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß sich am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr an der Arbeitsstelle ein Arbeitsunfall ereignet hat, indem D. beim Herausziehen einer Bohle aus einem Bretterstapel auf dem Holzplatz vor der Schreinerei ein Brett gegen das Geschlechtsteil geschlagen ist. Zur Begründung hat das LSG unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse ausgeführt, bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die für und gegen das von D. selbst angegebene Unfallgeschehen sprächen, überwögen die dafür sprechenden Erwägungen in einer solchen Weise, daß das Unfallereignis als wahrscheinlich geschehen angenommen werden müßte.
Im übrigen hat das LSG ausgeführt: Zu welcher Gesundheitsschädigung der Arbeitsunfall geführt habe (schwere Penisinfektion oder Verschlimmerung), habe sich nicht mit Wahrscheinlichkeit feststellen lassen. Die Infektion könne ihre Entstehung und ihren Verlauf unabhängig von dem Arbeitsunfall genommen haben; bei Mitwirkung ungewöhnlich virulenter Bakterien könne sie auch auf einer durch Unfall hervorgerufenen Verletzung beruhen, und schließlich könne eine bereits vorhanden gewesene Infektion durch das Unfallereignis derart verschlimmert worden sein, daß der rasche weitere Verlauf und der Tod eingetreten seien. Eine Wahrscheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse sich nicht begründen. Die Unterlagen reichten für eine Beurteilung nicht aus, welche Krankheitserreger für den Verlauf und den Tod verantwortlich seien und ob der Unfall im Bereich des Penisschafts kleinste oder schwere Verletzungen gesetzt habe. Obgleich danach der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall nicht bewiesen sei, müsse sich die Beklagte doch so behandeln lassen, als ob dieser Beweis erbracht sei; denn die Beklagte habe schuldhaft verursacht, daß zur Beweisführung entscheidende und geeignete Beweismittel, nämlich die Obduktion mit Sektionsbefund, nicht zur Verfügung stehen. Die Beklagte sei von Amts wegen zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet (§§ 1545 bis 1571 RVO). Sie habe auch eine notwendige Obduktion von Amts wegen durchzuführen. Unterlasse sie das, so vereitle sie die Benutzung eines wesentlichen Beweismittels und bewirke dadurch schuldhaft die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts (§§ 286, 444 der Zivilprozeßordnung - ZPO -; §§ 128, 202 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Für die Beweiswürdigung könnten in einem solchen Fall Folgerungen zu ihren Ungunsten gezogen werden. Der Beklagten sei durch die Anrufe der Ärzte Dr. Sch und Dr. B bekannt gewesen, daß die Hinterbliebenen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Tod und Arbeitsunfall behaupten und Hinterbliebenenansprüche geltend machen würden, und es sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß dieser ursächliche Zusammenhang zweifelhaft sei und nur durch eine Obduktion geklärt werden könne. Dadurch daß sie bei dieser Sachlage die Obduktion nicht habe durchführen lassen, obwohl die Leiche für diesen Zweck bereits polizeilich beschlagnahmt gewesen sei, habe sie gegen ihre Aufklärungspflicht verstoßen und ein wesentliches Beweismittel vereitelt. Sie habe also die Unaufklärbarkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Tod und Arbeitsunfall schuldhaft veranlaßt. Ob die Sektion zu einem für die Klägerin günstigen Beweisergebnis geführt hätte, sei in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Der bereits angeführte Grundsatz rechtfertige es, im Wege der freien Beweiswürdigung den Beweis des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit dem Arbeitsunfall als gegeben anzusehen, so daß die Hinterbliebenenansprüche begründet seien. Die Revision sei zugelassen worden, weil die Frage grundsätzliche Bedeutung habe, welche Rechtsfolgen aus der unterlassenen Obduktion zu ziehen seien.
Die Beklagte, der das Urteil des LSG am 21. März 1960 zugestellt worden ist, hat dagegen am 7. April 1960 Revision eingelegt. Sie beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG und des Urteils des SG die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung führt die Beklagte aus, nach dem Akteninhalt erscheine es schon zweifelhaft, ob der Vorderrichter überhaupt zu seiner Feststellung hinsichtlich des Unfallereignisses habe kommen können. Das LSG hätte auch die von ihm erörterten Möglichkeiten nicht als gleichwertig behandeln dürfen. Vielmehr hätte die zweite und dritte Möglichkeit völlig zurücktreten müssen. Vor allem aber bestehe ein Beweiswürdigungsgrundsatz, wie ihn das LSG annehme, im sozialgerichtlichen Verfahren nicht, das vom Prinzip der objektiven Beweislast beherrscht werde. Auch im Zivilprozeß bestehe ein solcher uneingeschränkter Grundsatz nicht. § 444 ZPO setze die Absicht voraus, das Beweismittel der Gegenseite zu entziehen. Es komme also in der Regel auf das arglistige Verhalten einer Partei an. Außerdem habe der Beklagten keine Unfallanzeige vorgelegen, und der Arbeitgeberin sei von einem Betriebsunfall nichts bekannt gewesen. Deshalb sei vom Standpunkt der Beklagten aus nichts zu veranlassen gewesen. Man könne den an sich schon so belasteten Verwaltungen der Versicherungsträger nicht zumuten, nur auf telefonische oder schriftliche Angaben Dritter gewissermaßen ins Blaue hinein Unfallermittlungen vorzunehmen und dabei gar eine so einschneidende Maßnahme wie die einer Leichenöffnung zu verlangen. Die Leiche habe sich zudem gar nicht im Gewahrsam der Beklagten befunden, sondern der Kreispolizeibehörde. Diejenigen, die in erster Linie an eine Obduktion hätten denken müssen, seien die Kläger. Sie hätten sie mindestens anregen können und sollen.
Die Kläger beantragen,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie weisen auf EuM 22, 216 und 217 hin.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß dem Ehemann der Klägerin am 19. Juni 1954 gegen 11 Uhr ein Arbeitsunfall zugestoßen ist, indem ihm ein Brett beim Herausziehen aus einem Bretterstapel gegen die Geschlechtsteile schlug.
Die Rügen, mit denen die Revision diese tatsächlichen Feststellungen angreift, sind allenfalls dazu geeignet, darzutun, daß die Würdigung der Beweise in dieser Beziehung auch zu einem negativen Ergebnis hätte führen können; dagegen reichen sie nicht aus, um schlüssig darzutun, daß das LSG bei der Würdigung der Beweise die Grenzen seines Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung überschritten hat (§ 128 SGG). Diese Feststellung ist deshalb für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG).
Das LSG hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß die Beklagte verpflichtet gewesen sei, zur Aufklärung des Sachverhalts eine Leichenöffnung zu veranlassen. Die Ausführungen, mit denen die Revision diese Auffassung angreift, enthalten keine Rügen gegen die tatsächlichen Feststellungen, auf denen diese Schlußfolgerung des LSG beruht, sondern wenden sich gegen die Rechtsauffassung des LSG, daß das Unterbleiben der Leichenöffnung auf eine schuldhafte Vernachlässigung der Ermittlungspflicht der Beklagten (vgl. §§ 1571, 1572 RVO) zurückzuführen sei. Diese Rüge der Revision ist unbegründet. Die Beklagte wußte aus den Telefongesprächen mit den beiden Ärzten des Dreifaltigkeitshospitals, daß der Zusammenhang zwischen dem vom Verletzten selbst behaupteten Unfallereignis und dem Tode außerordentlich zweifelhaft sei und daß die Hinterbliebenen Entschädigungsansprüche geltend machen wollten. Unter diesen Umständen hätte die Beklagte sofort alles tun müssen, um für eine Aufklärung des Sachverhalts zu sorgen. Daß ihr noch keine förmliche Unfallanzeige des Unternehmers vorlag und der Unternehmer, wie sich später ergab, von dem Unfall nichts wußte, enthob sie dieser Verpflichtung zur Sachaufklärung nicht. Sie konnte sich auch insbesondere nicht etwa darauf verlassen, daß eine Leichenöffnung von der Kriminalpolizei, dem Amtsgericht oder der Staatsanwaltschaft veranlaßt würde; denn für diese Stellen war nur die Frage von Bedeutung, ob Anhaltspunkte für strafbare Handlungen anderer Personen gegeben seien. Das LSG ist ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, eine Leichenöffnung zu veranlassen.
Dagegen sind nach der Auffassung des erkennenden Senats die Rügen berechtigt, mit denen sich die Revision gegen die rechtlichen Schlußfolgerungen wendet, die das LSG aus diesem Umstand gezogen hat.
Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfallereignis vom 19. Juni 1954 und der zum Tode führenden Sepsis hat das LSG das Ergebnis der Beweiswürdigung wie folgt zusammengefaßt:
(a) die Infektion könne unabhängig von dem Unfall entstanden und ihren Verlauf auch unabhängig von ihm genommen haben;
(b) bei Mitwirkung von ungewöhnlich virulenten Bakterien könne die Infektion aber auch auf einer durch den Unfall hervorgerufenen Verletzung beruhen;
(c) eine zur Zeit des Unfalls bereits vorhandene Infektion könne durch den Unfall derart verstärkt und verschlimmert worden sein, daß der weitere rasche Verlauf und der Tod eingetreten seien.
Die ernsthaften Möglichkeiten (b) und (c) müßten ebenso in Erwägung gezogen werden wie die Möglichkeit (a). Eine Wahrscheinlichkeit für die eine oder andere Möglichkeit lasse sich nicht begründen. Die medizinischen Unterlagen reichten nicht aus, um beurteilen zu können, welche Krankheitserreger den ungewöhnlichen Verlauf und raschen Eintritt des Todes verursacht hätten und ob der Unfall kleinere oder schwere Verletzungen gesetzt habe. Diese Feststellungen hätten sich aber mit Sicherheit durch eine Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung von Gewebsschnitten und bakteriologischem Nachweis der Erreger treffen lassen. Anschließend hat das LSG ausdrücklich ausgeführt, auf Grund der vorliegenden und jetzt noch möglichen Beweismittel sei der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall nicht bewiesen.
Das LSG ist jedoch der Auffassung, die Beklagte müsse sich "so behandeln lassen, als ob der Beweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfall und Tod erbracht" sei. Da das LSG selbst hinsichtlich dieses ursächlichen Zusammenhangs keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, sich insbesondere für keine der von ihm erörterten Möglichkeiten entschieden hat, sind nach der Auffassung des erkennenden Senats die Rechtsausführungen des LSG dahin zu verstehen, daß das - von der Beklagten verschuldete - Fehlen des für die Sachaufklärung entscheidenden Beweismittels der Leichenöffnung eine "Umkehrung" der Beweislast zur Folge habe und daß infolgedessen zu Lasten der Beklagten ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Tod unterstellt werden müsse, weil das Gegenteil nicht erweislich sei. Das trifft nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht zu.
Mit der Frage, welche Bedeutung es hat, wenn der zur Sachaufklärung verpflichtete Versicherungsträger es unterläßt, eine Leichenöffnung zu veranlassen, und deshalb der tatsächliche Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht oder nur unvollständig aufklärbar ist, hat sich bereits der 8. Senat im Urteil vom 28. Juli 1961 (SozR SGG § 128 Nr. 60) befaßt. Er hat ausgeführt, daß ein solches Verschulden nichts an der Verteilung der objektiven Beweislast (Feststellungslast) ändert, sondern nur von den Tatsacheninstanzen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden kann. Dieses Urteil ist von Glücklich in einer ausführlichen Anmerkung (SGb 1963 S. 19) kritisch besprochen worden. Glücklich vertritt die Meinung, daß eine vorsätzliche oder fahrlässige Beweisvereitelung die Beweislast dergestalt umkehre, daß nunmehr der Gegner der zunächst beweisbelasteten Partei die Beweislast trage.
Es kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Beweislast-Regel, wenn sie, wie Glücklich wohl annimmt, für den Zivilprozeß allgemein anerkannt wäre, auf das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit übertragen werden könnte, obwohl dieses Verfahren vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht ist und entgegen Glücklich (aaO) nach fast allgemeiner Ansicht keine Beweisführungslast und nur in sehr beschränktem Umfang eine Behauptungslast kennt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., Stand Juni 1965, S. 244 m I, mit weiteren Nachweisen auch für das Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten). Denn auch für den Zivilprozeß ist die Lehre von der Umkehrung der Beweislast im Falle der schuldhaften Beweisvereitelung keineswegs allgemein anerkannt. Blomeyer (Zivilprozeßrecht, 1963 S. 369 § 73 II) nimmt zwar im Falle der schuldhaften Beweisvereitelung eine "Umkehr der Beweislast" an, auch Nikisch (Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., S. 324 § 82 VI) vertritt diese Auffassung. Dagegen führt Schönke (Zivilprozeßrecht), auf dessen 2. Auflage sich Glücklich beruft, in der 7. Auflage (S. 232 § 58 am Ende) zur Frage der schuldhaften Beweisvereitelung ausdrücklich aus: wenn in derartigen Fällen von einer Umkehrung der Beweislast gesprochen werde (so RGZ 60, 152), so verdecke das den wahren Sachverhalt, daß kraft freier Beweiswürdigung und folglich ohne jeden Zwang der Beweis vorbehaltlich des Gegenbeweises erbracht sei (ebenso auch Schönke/Schroeder/Niese in der 8. Aufl. S. 264 § 58 am Ende). Völlig eindeutig sind die Ausführungen von Rosenberg (Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., S. 559 § 114 III 3 d, S. 570 § 117 II 2; Die Beweislast, 4. Aufl., S. 153 § 12, S. 191 § 14), aus denen sich ergibt, daß seiner Auffassung nach die Beweisvereitelung keinen Einfluß auf die Verteilung der Beweislast hat. Ebenso unmißverständlich sind zB die Ausführungen in RGZ 128, 121, 125, während andere Entscheidungen (zB BGHZ 6, 227; RGZ 60, 152), wie der erkennende Senat nicht verkennt, auch die Deutung zulassen, das Revisionsgericht habe der schuldhaften Beweisvereitelung die Wirkung einer für das Tatsachengericht verbindlichen "Umkehrung der Beweislast" zumessen wollen.
Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß die Lehre von der Umkehrung der Beweislast im Falle der schuldhaften Beweisvereitlung in den Vorschriften des SGG und der ZPO keine ausreichende Stütze findet; insbesondere läßt sie sich nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht aus den §§ 427, 444, 446 ZPO herleiten, die nur Vorschriften für die Beweiswürdigung enthalten (vgl. zB auch die Anmerkungen zu diesen Paragraphen in Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Kommentar zur ZPO, 18. Aufl.) und die Verteilung der Beweislast ebenso unverändert lassen, wie das der Fall ist, wenn das Gericht sich bei der Beweiswürdigung der Regeln des Beweises des ersten Anscheines (Prima-facie-Beweis, vgl. zB BSG 8, 245; 10, 46; 12, 242, 246; 19, 52, 54) bedient. Der erkennende Senat stimmt mit dieser Auffassung nicht nur mit dem 8. Senat überein, sondern auch mit dem Bundesverwaltungsgericht, das es bereits mehrfach abgelehnt hat, die Lehre von der Umkehrung der Beweislast im Falle der Beweisvereitelung anzuerkennen (BVerwG 10, 270; DVBl 1964, 759 mit weiteren Nachweisen für das Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten).
Die rechtlichen Schlußfolgerungen daraus, daß die Unmöglichkeit, das Ergebnis einer Leichenöffnung als Beweismittel zu benützen, auf einem Verschulden der Beklagten beruht, sind demnach unzutreffend und nicht geeignet, das angefochtene Urteil zu rechtfertigen. Die Rügen der Revision hiergegen sind begründet.
Andererseits zwingt aber der Umstand, daß das LSG ausgeführt hat, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Tod sei nicht erwiesen, nicht zur Klageabweisung. Denn die Entscheidung des LSG beruht nicht auf diesem Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern, wie dargelegt, auf der rechtsirrtümlichen Auffassung hinsichtlich der Verteilung der Beweislast und somit in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung, daß das Nichtbestehen eines Zusammenhangs zwischen Tod und Unfall gleichfalls nicht bewiesen sei. Das LSG hat auf Grund seiner Rechtsauffassung insofern von einer vollständigen und abschließenden Beweiswürdigung abgesehen, als es den durch das Unterbleiben der Leichenöffnung verursachten Beweisnotstand unberücksichtigt gelassen hat.
Der erkennende Senat stimmt mit dem 8. Senat darin überein, daß dieser von der Beklagten verschuldete Beweisnotstand vom Tatsachenrichter im Rahmen seines Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) zu berücksichtigen ist. Insbesondere darf der Tatsachenrichter diesem Beweisnotstand, wie der Senat in dem einen anders gelagerten Fall betreffenden Urteil in BSG 19, 52, 56 ausgeführt hat (vgl. auch Brackmann aaO S. 244 m) dadurch Rechnung tragen, daß er an den Beweis der Tatsachen, auf die sich der Beweisnotstand bezieht, weniger hohe Anforderungen stellt.
Da dem Revisionsgericht eine solche ergänzende Würdigung der erhobenen Beweise verwehrt ist, mußte das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen