Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion. konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten
Orientierungssatz
Die Zuordnung zur Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion (hier gelernter Maurer mit Baustellenaufsicht) ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Beschäftigte Weisungen anderer Mitarbeiter im Arbeiterverhältnis befolgen muß.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.06.1978; Aktenzeichen L 5 J 115/77) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 28.02.1977; Aktenzeichen S 5 J 148/76) |
Tatbestand
Der im Jahre 1921 geborene Kläger arbeitete bis zum Jahr 1974 in dem erlernten Beruf des Maurers und war zuletzt "mit der Führung einer Baustellenbesatzung von bis zu zehn Arbeitern und mit der Ausübung der allgemeinen Baustellenaufsicht betraut"; die Verantwortung für den Bau hatte jeweils der dem Kläger übergeordnete Bauführer (ein Ingenieur oder Meister) zu tragen. Der Kläger wurde nach der Tarifgruppe (Berufsgruppe) I entlohnt. Wegen gesundheitlicher Störungen ist er in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt, aber noch in der Lage, zumindest alle leichten Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen vollschichtig zu verrichten; er soll Tätigkeiten vermeiden, die häufiges Bücken, Heben und Tragen von Lasten mit sich bringen oder in einseitiger Körperhaltung und über Kopfhöhe sowie unter den Einflüssen von Nässe und Kälte auszuführen sind.
Der Kläger beantragte im Juni 1975 Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 27. Februar 1976 den Antrag ab. Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat in den Gründen des Urteils vom 20. Juni 1978 im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger gehöre als gelernter Maurer der Gruppe der Facharbeiter an. Für eine Einstufung als Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion fehle es an den tatsächlichen Voraussetzungen. Für den Kläger seien Arbeitsplätze in hinreichender Anzahl vorhanden, ohne daß es des Nachweises konkreter Einsatzmöglichkeiten bedürfe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und führt aus: Sein bisheriger Beruf sei der eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion; auch habe das Landessozialgericht (LSG) zu Unrecht auf den Nachweis konkreter Einsatzmöglichkeiten verzichtet.
Er beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den
Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 1976
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
ihm für die Zeit vom 1. Juli 1975 an Rente
wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Auf ihren Schriftsatz vom 21. September 1979 wird verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Die Feststellungen, die das LSG getroffen hat, reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Das Berufungsgericht geht davon aus, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Maurer (oder auch als mit der Führung einer Baustellenbesatzung betraute Person) arbeiten kann. Ob der Kläger Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit erhält, hängt deshalb davon ab, ob er auf andere Tätigkeiten verwiesen werden kann, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Als "bisherigen Beruf" hat das LSG nicht den obersten Leitberuf "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion; besonders qualifizierte Facharbeiter", sondern den zweitobersten, "Facharbeiter; staatlich anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von zumindest zwei Jahren"; angenommen. Das bekämpft die Revision, und zwar insoweit mit Recht, als die Feststellungen des Berufungsgerichts für diese Annahme nicht ausreichen.
Nach der im wesentlichen einheitlichen Rechtsprechung der Arbeiterrentenversicherungssenate des Bundessozialgerichts (BSG) können Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion und besonders qualifizierte Facharbeiter nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die durch den Leitberuf Facharbeiter charakterisiert werden (1. Senat: Urteil vom 1978-03-15 - 1/5 RJ 128/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 29; 4. Senat: Urteile vom 1978-01-19 - 4 RJ 81/77 = BSGE 45, 276 = SozR 2200 § 1246 Nr 27 und vom 1979-06-28 - 4 RJ 53/78 = SozR aaO Nr 44; 5. Senat: Urteile vom 1977-03-30 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243 = SozR aaO Nr 16, vom 1979-02-15 - 5 RJ 112/77 = SozR aaO Nr 37 und vom 1979-09-11 - 5 RJ 136/78 = SozR aaO Nr 49). Ob es über dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion noch qualitativ wesentlich höher zu bewertende Arbeiter-Tätigkeiten gibt, wie der 5. Senat des BSG im Urteil vom 1980-05-29 - 5 RJ 38/78 - angedeutet hat, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.
Zu dem obersten Leitberuf gehört als "Vorgesetzter" im Sinne dieser Rechtsprechung, wer selbst Facharbeiter ist, Weisungsbefugnis gegenüber mehreren anderen Facharbeitern hat, in der Spitzengruppe der Lohnskala steht (BSGE 45, 276), wesentlich andere Arbeiten als die übrigen Facharbeiter verrichtet und zufolge besonderer geistiger sowie persönlicher Anforderungen die Berufstätigkeit des Facharbeiters in ihrer Qualität deutlich überragt (SozR aaO Nr 37). Bei dem Kläger lagen die meisten dieser Voraussetzungen vor: Er ist selbst Facharbeiter. Wenn er mit der Führung einer Baustellenbesatzung von bis zu zehn Arbeitern und mit der Ausübung der allgemeinen Baustellenaufsicht betraut war, so ist einerseits anzunehmen, daß er gegenüber den anderen Arbeitern Weisungsbefugnis hatte, und andererseits, daß mindestens einige der zehn Arbeiter auch Facharbeiter (Maurer) waren. Da er in der Tarifgruppe I eingestuft war, liegt die Annahme nahe, daß er in der Spitzengruppe der Lohnskala stand. Das würde jedenfalls dann gelten, wenn für ihn der Anhang zum Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe - Berufsgruppen für die Berufe des Baugewerbes -, Stand 1. Juli 1978, gegolten hätte. Allerdings ist der Kläger längere Zeit vor Inkrafttreten dieses Tarifvertrages aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, und das Berufungsgericht hat nicht ermittelt, welcher Tarifvertrag in der Zeit bis November 1974 auf den Kläger anzuwenden war. Der Kläger dürfte auch zum Teil wesentlich andere Arbeiten als die übrigen Arbeiter verrichtet haben, weil deren Anleitung und die allgemeine Baustellenaufsicht einen Teil seiner Arbeitszeit ausgefüllt haben dürften. Daß Anleitung und Aufsicht von höherer Qualität waren als die Tätigkeit eines Maurers, liegt nahe. Das Berufungsgericht schließt allerdings aus dem Umstand, daß ein dem Kläger übergeordneter Bauführer (Ingenieur oder Meister) die "Verantwortung für den Bau" zu tragen hatte, der Kläger sei qualitativ nicht erheblich über das Maß eines Baufacharbeiters hinaus tätig gewesen. Dieser Schluß widerspricht möglicherweise den Denkgesetzen, ist aber mindestens mißverständlich. Denn die Qualität einer Aufsichtstätigkeit entspricht nicht allein schon deshalb lediglich der der beaufsichtigten Tätigkeit, weil über dem Aufsichtsführer noch ein höherer Vorgesetzter steht. Der Senat hat einen "Vorgesetzten" nur dann nicht der obersten Gruppe zugeordnet, wenn dieser "selbst Weisungen eines anderen Beschäftigten im Arbeiterverhältnis befolgen muß" (SozR aaO Nr 44 S 131), es sonach als unschädlich angesehen, wenn der "Vorgesetzte" einem Angestellten gehorsamspflichtig ist. So liegt der Fall aber hier. Gleichgültig, ob der Bauführer ein Ingenieur oder Meister ist, er gehört auf jeden Fall zur Gruppe der Angestellten.
Wenn auch, wie ausgeführt, bei dem Kläger die meisten der von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen für die Einstufung in die oberste Gruppe der Arbeiter vorliegen, so ist eine abschließende Beurteilung trotzdem nicht möglich. Das LSG hat bei einigen Bedingungen weder deren Vorliegen noch das Gegenteil festgestellt. Das wird es noch nachzuholen haben. Insbesondere bedarf der Feststellung, ob der Kläger Weisungsbefugnis gegenüber der Baustellenbesatzung hatte und ob er auch mehreren Facharbeitern (Maurern) übergeordnet war (und wie seine tarifliche Einstufung zu beurteilen ist). Sollte - was nach den bisherigen Feststellungen des LSG naheliegt - der bisherige Beruf des Klägers aufgrund dieser Feststellungen der obersten Gruppe der Arbeiter ("Vorgesetzte") zuzuordnen sein, so könnte der Kläger nur auf Tätigkeiten der zweitobersten Gruppe ("Facharbeiter; staatlich anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von zumindest zwei Jahren") zumutbar verwiesen werden.
Unabhängig von der Einstufung des bisherigen Berufes wird das LSG die Rechtsprechung des BSG über die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten (Urteile vom 1978-04-19 - 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 30, vom 1978-10-31 - 4 RJ 27/77 = SozR aaO Nr 33, vom 1978-11-28 - 5 RKn 10/77 = SozR aaO Nr 36, vom 1979-02-15 - 5 RJ 48/78 = SozR aaO Nr 38 und vom 1979-06-28 - 4 RJ 70/78 = SozR aaO Nr 45) zu beachten haben. Seine Auffassung, es bedürfe nicht des Nachweises konkreter Einsatzmöglichkeiten, hat es nicht begründet; besondere Umstände, die hier eine Abweichung von der durch die Rechtsprechung aufgestellten Regel rechtfertigen könnten, hat es nicht genannt.
Die Sache war zurückzuverweisen. Das LSG wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen