Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Unterhaltsanspruch. Schulden des Unterhaltsverpflichteten
Orientierungssatz
Obwohl Schulden an sich als Passiva zum Vermögensbereich gehören und nicht zum Einkommensbereich, sind sie im Rahmen des § 59 Abs 1 S 1 EheG als "sonstige Verpflichtungen" bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten zu berücksichtigen, weil sie in der Regel aus dem laufenden Einkommen gezahlt werden müssen. Jeder Unterhaltsanspruch setzt voraus, daß der Inanspruchgenommene zur Unterhaltsleistung wirtschaftlich in der Lage ist. Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten wird aber dadurch beeinflußt, inwieweit er anderweitigen Verbindlichkeiten ausgesetzt ist. Auf Schulden des Unterhaltsverpflichteten ist daher bei der Bemessung des Unterhaltsanspruches in angemessener Weise Bedacht zu nehmen.
Normenkette
RVO § 1265 Abs 1 S 1; EheG § 59 Abs 1 S 1, § 58
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 02.09.1986; Aktenzeichen L 9 J 26/86) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 13.11.1985; Aktenzeichen S 6 J 1063/85) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Geschiedenen-Witwenrente gemäß § 1265 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) nach dem Versicherten A. B..
Die am 5. Dezember 1923 geborene Klägerin war bis 1968 mit dem Versicherten verheiratet. Die Ehe wurde aus Verschulden des Versicherten geschieden. Das Scheidungsurteil wurde am 12. Juli 1968 rechtskräftig. Der Versicherte heiratete danach nicht wieder. Aus der Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Beide Ehegatten waren während der Ehe und danach berufstätig. Das Einkommen der Klägerin betrug 1968 11.006,00 DM, das des Versicherten 12.677,81 DM. Er bezog seit Oktober 1983 vorgezogenes Altersruhegeld, das zunächst monatlich DM 1.622,40 und ab 1. Juli 1984 DM 1.643,67 betrug. Die Klägerin bezieht seit dem 1. Januar 1984 Altersruhegeld in Höhe von DM 1.238,78. Unterhalt erhielt sie nach der Scheidung nicht. Der Versicherte verstarb am 1. August 1984.
Die Klägerin beantragte am 14. November 1984 die Gewährung von Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte ab (Bescheid vom 14. Dezember 1984; Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1985). Es habe keine Unterhaltspflicht des Versicherten bestanden. Die Beklagte ist zu dieser Auffassung gekommen, weil sie bei der Ermittlung des der Klägerin zustehenden Unterhaltes die Einkünfte der beiden Parteien zusammenrechnete, ein Drittel der Summe dem Unterhaltsbedürftigen zubilligte und diesem Betrag die eigenen Einkünfte gegenüberstellte.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. November 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente ab 1. Dezember 1984 zu gewähren (Urteil vom 2. September 1986). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Das Bundessozialgericht (BSG) habe zwar bisher den Unterhaltsanspruch so errechnet, wie die Beklagte und das SG es hier getan hätten. Nach der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) stehe der geschiedenen Frau, die unterhaltsberechtigt sei, jedoch 3/7 der Einkommensdifferenz zu, wenn die beiden ehemaligen Eheleute Erwerbseinkommen gehabt hätten. Gemäß dieser Berechnungsweise habe die Klägerin zu Lebzeiten des Versicherten gegen diesen einen Anspruch auf Unterhalt in Höhe von 173 DM gehabt, was deutlich 25 % des zeitlich und örtlich maßgebenden Regelsatzes der Sozialhilfe für einen Alleinstehenden ohne Aufwendungen für Unterkunft überschritten habe. Der Berechnungsweise des BGH sei zu folgen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie betrachtet die bisherige Rechtsprechung des BSG als zutreffend und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 13. November 1985 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beklagten ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Ein Anspruch aus § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO scheidet aus. Denn die Klägerin hatte zur Zeit der Scheidung weder ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen - ihr (vorehelicher) Sohn war zu dieser Zeit bereits 24 Jahre alt - noch hatte sie das 45. Lebensjahr vollendet. Daß sie im Zeitpunkt des Todes des Versicherten schon 60 Jahre alt war, vermag ihren Anspruch nicht zu begründen. Denn die Voraussetzungen des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 bis 3 RVO müssen kumulativ vorliegen.
Ob die Klägerin - wie das LSG annimmt - gegen den Versicherten einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch hatte und ihr deshalb eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO zusteht, ist aufgrund der Feststellungen des LSG noch nicht abschließend zu beurteilen. Da die Eheleute vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden sind, richtet sich der Unterhaltsanspruch der Klägerin nach § 58 des Ehegesetzes (EheG) in der damals gültigen Fassung (Art 12 Ziff 3 Abs 2 des 1. Eherechtsreformgesetzes vom 14. Juni 1976, BGBl I 1421). Danach hat der allein für schuldig erklärte Ehemann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Da der schuldig geschiedene Ehegatte "den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen" Unterhalt schuldet, richtet sich der Lebenszuschnitt, der bei der Anwendung des § 58 EheG dem Unterhaltsbedarf der Ehefrau und ihrem Unterhaltsanspruch zugrunde zu legen ist, nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten zur Zeit der Scheidung. Andererseits kommt es für die Frage, ob ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO besteht, darauf an, ob die geschiedene Frau des Versicherten zur "Zeit des Todes" des Versicherten einen Unterhaltsanspruch gehabt hat, also zur Zeit des "letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten". Das bedeutet, daß für die Anwendung des § 1265 RVO der dem Zeitpunkt der Scheidung entsprechende Unterhaltsbedarf auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten "fortzuschreiben" ist. Dabei ist allerdings eine derartige "Projektion" jedenfalls dann entbehrlich, wenn die Einkommensentwicklung des Versicherten im wesentlichen der allgemeinen Entwicklung entsprochen hat (vgl BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 56). Das LSG hat dies aufgrund seiner tatsächlichen Feststellungen zu Recht bejaht.
Ob die Klägerin gegen den Versicherten jedoch einen Unterhaltsanspruch hatte, hängt vom Ausmaß und den Gründen der Verschuldung des Versicherten ab, die das LSG als Vorbringen der Klägerin festgestellt hat und welche danach die Realisierung des Unterhaltsanspruchs der Klägerin habe scheitern lassen. Das LSG hat weder festgestellt, ob die von der Klägerin behaupteten "ständig hohen Schulden" des Versicherten vorlagen, noch ob die Klägerin gegebenenfalls gleichwohl einen Anspruch auf Unterhalt gehabt hat. Obwohl Schulden an sich als Passiva zum Vermögensbereich gehören und nicht zum Einkommensbereich, sind sie im Rahmen des § 59 Abs 1 Satz 1 EheG als "sonstige Verpflichtungen" bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten zu berücksichtigen, weil sie in der Regel aus dem laufenden Einkommen gezahlt werden müssen. Jeder Unterhaltsanspruch setzt voraus, daß der Inanspruchgenommene zur Unterhaltsleistung wirtschaftlich in der Lage ist. Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten wird aber dadurch beeinflußt, inwieweit er anderweitigen Verbindlichkeiten ausgesetzt ist. Auf Schulden des Unterhaltsverpflichteten ist daher bei der Bemessung des Unterhaltsanspruches in angemessener Weise Bedacht zu nehmen. Dabei kann es je nach Art, Anlaß und Entstehungszeit der Schulden angezeigt sein, sie voll, teilweise oder gar nicht in Rechnung zu stellen (BGH NJW 1982, 232 mwN; Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 1986, S 96; Heiß, Unterhaltsrecht, Ein Handbuch für die Praxis, Stand Dezember 1986, S 80). Da das LSG diesen somit für den geltend gemachten Hinterbliebenenrentenanspruch rechtserheblichen Fragen nicht nachgegangen ist, muß die Sache bereits deshalb an das LSG zurückverwiesen. werden.
Ob nach vollständiger Aufklärung des Falles das vom LSG richtig erkannte Rechtsproblem der Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des BGH und des BSG noch eine Rolle spielen wird, ist fraglich. Wie das LSG richtig ausgeführt hat, hat das BSG im Urteil vom 13. August 1981 (SozR 2200 § 1265 Nr 56 S 189) "noch" keine Veranlassung gesehen, die bisherige Rechtsprechung des BSG aufzugeben. Angesichts des Umstandes, daß es zu Lebzeiten beider Eheleute die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind, die über den Unterhaltsanspruch zu entscheiden haben, neigt der Senat dazu, bei einer gefestigten Rechtsprechung des BGH dieser zu folgen. Doch kann das zunächst dahingestellt bleiben.
Eine Änderung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung bezüglich der Berechnungsweise des Unterhalts würde unter Umständen der Anrufung des Großen Senats des BSG erforderlich machen, die indes nur zulässig ist, wenn aufgrund der Feststellungen im Tatsachenbereich der Rentenanspruch der Klägerin von der aufgezeigten Rechtsfrage abhängt (vgl BSG SozR 2200 § 1265 Nr 74 mwN). Wie dargelegt wäre dies nur dann der Fall, wenn nicht eine etwaige Verschuldung des Versicherten den geltend gemachten Anspruch ohnehin ausschließen würde.
Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreites zu befinden haben.
Fundstellen